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Benutzername: 
Kai
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Welzheim

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Bewertung vom 09.10.2022
Schalom Habibi
Shalicar, Arye Sharuz

Schalom Habibi


ausgezeichnet

Viele Europäer und vor allem Deutsche denken, wenn sie das Wort „Nahost“ hören, zuerst an das, was sie für „den Nahostkonflikt“ halten. Und da haben sie oft auch eine klare Meinung: „da müsste Israel endlich mal Frieden mit Palästina machen“. Dass der Satz in sich schon mehrfach widersinnig ist, dass der Konflikt zwischen palästinensischen Arabern und Israel einer der kleinsten und unbedeutendsten Konflikte innerhalb des Nahen Ostens ist, dass die meisten selbsternannten Nahostexperten mit einer „klaren Meinung“ nicht einmal die betroffenen Länder, ihre Machthaber und die unterschiedlichen Terror- und Söldnergruppen benennen können, mag der Unwissenheit und Ignoranz geschuldet sein, die wir Europäer in Bezug auf den Nahen Osten oft an den Tag legen. Dass die Unterdrückung und das Leid palästinensischer und anderer Araber in Nahost aber anscheinend nur dann interessiert, wenn man Juden als vermeintliche Urheber ausmachen zu können glaubt – das könnte durchaus ein unbewusster Versuch sein, mit unserer Vergangenheit aufzuräumen.
 
Arye Sharuz Shalicar, in Berlin aufgewachsener Publizist mit jüdisch-iranischen Wurzeln, der mit 23 Jahren nach Israel übersiedelte und es dort bis zum Major und Sprecher der israelischen Streitkräfte brachte, kennt sowohl das deutsche Meinungsbild wie auch die tatsächliche Situation vor Ort im Nahen Osten. Seinem Buch „Shalom Habibi“ erschöpft sich aber nicht darin, den „Nahostkonflikt“ aufzudröseln und dem Leser einen neuen Überblick zu verschaffen. Vielmehr zeigt Shalicar auf, dass die Fixierung auf den „Konflikt“ viele dafür blind gemacht hat, dass das Verhältnis zwischen Israel und der muslimischen Welt in Bewegung geraten ist – und dass es viele hoffnungsvolle Schritte in Richtung Frieden und Partnerschaft zwischen einstigen Feinden gibt, die es oft nicht in die Schlagzeilen geschafft haben. Dazu kommen Begegnungen und Gespräche, die heute noch hinter verschlossenen Türen stattfinden, die aber in nicht allzu ferner Zukunft Geschichte schreiben könnten.
 
Shalicar schreibt nicht aus zweiter Hand; vielmehr schildert er Begegnungen – z.B. in den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Oman oder im Sudan – die er selbst als Teil einer israelischen Delegation hatte. Tatsächlich erfährt der Leser im Buch von Entwicklungen, die man bis vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten hätte und von denen mal zum Teil auch noch nie gehört hatte. Aber natürlich weist der Autor auch darauf hin, dass noch vieles im Fluss ist und dass die Politik des Friedens und der Zusammenarbeit noch lange nicht am Ziel ist. Er zeigt auch auf, dass ein Friedensvertrag, der nicht mit Leben gefüllt wird, allenfalls ein „kalter Friede“, aber noch lange keine wahre Freundschaft ist und erwähnt beispielhaft die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, die nur gelingen konnte, weil sie mit Begegnungen, Schüleraustausch, Sportprogrammen und neuen Lehrplänen einher ging. Jahrhundertealte Vorurteile und antisemitische Verschwörungsmythen, die in der muslimischen Welt seit Generationen fest verankert sind und auch Bestandteil des Schulunterrichts waren und sind, lassen sich nicht in kürzester Zeit einfach auflösen.
 
Die Botschaft von „Schalom Habibi“ ist: Seht nicht immer nur die Konflikte, sondern nehmt auch die andere Seite der Medaille wahr, seht die positiven Entwicklungen – und seid aufnahmebereit für neue Wahrheiten, die althergebrachte Vorurteile ins Wanken bringen könnten. Arye Sharuz Shalicar nimmt Bezug auf seine eigenen Erfahrungen aus der Kindheit in Berlin, wo sein Outing als Jude ihn schlagartig fast alle Freundschaften zu seinen muslimischen Freunden kostete (Nachzulesen in seinem Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“) – schildert aber auch jene, die weiterhin Freunde blieben und ihn sogar verteidigt hatten. „Schalom Habibi“ ist auch ein Appell, „die Araber“ oder „die Muslime“ nicht als monolithischen Block wahrzunehmen und ihnen per se Judenfeindschaft zu unterstellen, sondern zu differenzieren und Zeichen der Hoffnung wahrzunehmen. Auch das Beispiel einer muslimischen Offizierin in der israelischen Armee, die sich für den Heimaturlaub Zivilkleidung anziehen muss, um Konflikte in der Nachbarschaft zu vermeiden, zeigt das deutlich auf.

„Schalom Habibi – Zeitenwende für jüdisch-muslimische Freundschaft und Frieden“ ist ein hochinformatives und auch herausforderndes Buch, das auf 162 Seiten neue Ausblicke gibt und mit alten Stereotypen aufräumt. Dabei ist es auch ohne Vorkenntnisse leicht zu lesen und verzichtet auf kompliziertes „Fachchinesisch“. Für echte und selbsternannte „Nahostexperten“ ein Muss und eine wirkliche Chance, beim Thema Nahost „out of the box“ zu denken.