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ein.lesewesen
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ZW

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Insgesamt 96 Bewertungen
Bewertung vom 25.06.2024
Das Spiel des Tauchers
Ball, Jesse;Lippmann, Alexander

Das Spiel des Tauchers


sehr gut

Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive Zukunft, die nach unermesslichen Flüchtlingsströmen eine neue Form des Zusammenlebens angenommen hat.

Es gibt nur noch zwei Gruppen von Menschen – Pats und Quads. Pats sind die eigentlichen Staatsbürger, die befugt sind Gasmasken und Gaskartuschen zu tragen. Die das Recht haben, Quads – wann und wo immer sie ihnen begegnen – zu töten, ohne Konsequenzen. Als Gefängnisse nicht mehr ausreichten, schuf man bewachte Quadranten, in denen die Quads – die Geflüchteten – frei leben dürfen. Allerdings sind das rechtsfreie Räume – für jeden, der sich dort aufhält. Quads werden nach ihrer Ankunft markiert, ihnen wird eine rote Mütze auf die Wange tätowiert und der rechte Daumen abgeschlagen. Irgendwie muss man sie ja auseinanderhalten. Wie diese Welt funktioniert, erfahren wir von einem Lehrer, zu dessen Schülerinnen auch Lethe und Lois gehören. Mit ihnen wird er später noch einen Zoo besuchen. Allerdings gibt es dort nur noch einen altersschwachen Hasen, denn in der zukünftigen Welt sind bis auf Insekten alle Tiere ausgestorben.

Das Buch gliedert sich in 3 Abschnitte, die eigentlich 4 Kurzgeschichten sind, an losen Fäden miteinander verbunden. Während sich die erste Geschichte »Ogias-Tag« wirklich verstörend liest, bricht sie vor dem eigentlichen Ereignis ab, dem Tag, an dem alle Schulden verfallen, aber auch Verbindlichkeiten wie ein Arbeitsverhältnis oder eine Ehe. Jesse lässt auch die beiden folgenden Geschichten in der Luft hängen. Was mich zunächst unbefriedigt zurückgelassen hat, entwickelte sich in den folgenden Tagen zu interessanten Gedankenspielen.

Balls Idee fußt auf den Auswüchsen der aktuellen Flüchtlingspolitik der USA, dem Abhandenkommen von Empathie und Moral; auf Ausgrenzung und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.
Der Verfall der Moral gipfelt im Buch in einer neuen Definition von Gewalt, die genau betrachtet nun keine Gewalt mehr ist. Wie sehr sich die indoktrinierten Moralvorstellungen und Gleichgültigkeit bereits in den Kindern etabliert haben, zeigt Ball in drei der Geschichten. Lethe (ein Synonym der griechischen Mythologie für den Fluss des Vergessens der Vergangenheit?) ist schon fast gelangweilt von dem Vortrag ihres Lehrers und interessiert sich nicht für die ausgestorbenen Tiere. Oder das Spektakel einer Kinder-Infantin, die über Schuld und Unschuld entscheiden darf. Es symbolisiert quasi die Rechtlosigkeit der Quads, die als wiederkehrendes kulturelles Ereignis öffentlich ad absurdem zur Schau gestellt wird.
Oder auch in der titelgebenden Geschichte, die einem Initiationsritual gleicht und durch die Gleichgültigkeit der Kinder mit dem Tod eines Jungen endet.
Ball inszeniert hier an drei Charakteren die Entmenschlichung durch die fehlende Moral. Das ist nicht nur brutal, sondern auch wirklich traurig und schmerzhaft zugleich.
Erst die letzte Geschichte, der Brief einer Frau, die einen Quad getötet hat, beginnt die vorherrschende Gesinnung infrage zu stellen.

»Ein solcher Mann ist nicht wegen etwas gestorben, das er tat, sondern weil er war, wer er ist.« S.233

»Entweder ist es falsch, dass es sich nur um Gewalt handelt, wenn sich gleich gegen gleich wendet, oder es ist falsch anzunehmen, dass sie uns nicht gleichen. Es ist mir egal, was es ist; ich bin davon überzeugt, das eines von beiden wahr ist.« S. 242

Ein absolut unbequemes, radikales Buch, das aber von Seite 1 an von einer enormen unterschwelligen Spannung profitiert, dass man förmlich mitgerissen wird. Nicht zuletzt auch von dem Kniff, dass der auktoriale Erzähler uns hin und wieder direkt anspricht und uns somit an unsere Verantwortung, unseren Egoismus, unsere Gier erinnert.
Im Literarischen vielleicht etwas experimentell, auf das man sich einlassen muss, das aber einen tiefen Nachhall hinterlässt. Trotzdem hätte mich sehr interessiert, was an diesem ominösen Ogia-Tag passiert ist.

Bewertung vom 23.05.2024
Was ich zurückließ
Ott, Marco

Was ich zurückließ


ausgezeichnet

»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung in Dinslaken auf, das Verhältnis zu den Eltern ist herzlich, sie ermöglichen ihm alles, was in ihrer Macht steht. In einzelnen Episoden entsteht in mir ein klares Bild seiner Kindheit: ein gemeinsames Essen im Möbelhaus, weil man Werbecoupons hat, ein Blick auf das Preisschild, das entscheidet, ob man ein Teil gut finden kann. Allmählich mischen sich die Sichtweisen anderer ein, ein Mitschüler, der Otts Wohngegend als assi bezeichnet, offener Spott für Deichmannschuhe.
Er lernt schmerzhaft, was es heißt, anders zu sein, als ungenügend betrachtet zu werden, und erfährt Ausgrenzung. Scham, Verleugnung, Anpassung führen zunehmend zu Orientierungslosigkeit, Entfremdung und dem unbedingten Willen, dieses Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Was folgt, ist ein Weg des Scheiterns, des immer wieder Neuorientierens, eine Suche nach sich selbst, die noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig analysiert er, wie es zum Bruch mit seinen Eltern kam, gesteht seine Mitschuld ein und sucht eine Aussöhnung.

»Erst später sollte ich erkennen, dass die Beziehung, die ich zu euch habe, ein Spiegelbild der Beziehung ist, die ich zu mir selbst habe.« S.122

Auf gerade mal 125 Seiten gelingt es Ott, all das in leise Worte zu fassen, die trotzdem einer Detonation gleichkommen. Die beim Lesen betroffen machen, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnern. Die unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gerade in einer Zeit, wo der Ton in unserer Gesellschaft wieder rauer wird, braucht es diese Art von Klassenliteratur. Die Medien sind durchtränkt von der Darstellung von Idealen, die eine Welt vorgaukeln, die erstrebenswert sein soll. Die berühmte Möhre vor der Nase.

Ott nennt es gesellschaftliche Gewalt. Es sind die Wertvorstellungen einer anderen Schicht, die für allgemeingültig erklärt werden, Privilegien, die die Arbeiterklasse nicht hat, Geld, Status, Beziehungen. Ott jammert nicht, wenn er neben seinem Studium mehr arbeiten muss, als er letztlich im Hörsaal sitzen kann. Es geht aber um die Abbildung von Realität, das Nichtleugnen von Klassenunterschieden.

Nach der Lektüre standen bei mir noch immer viele Fragezeichen im Kopf. Was ist Klassenliteratur? Wodurch kennzeichnet sich autosoziobiografisches Schreiben? Begriffe, die ich nicht kannte. Nach stundenlanger Recherche war ich schlauer und las das Buch gleich ein zweites Mal – mein Blick war wesentlich schärfer. Nun fiel mir auch auf, wie on-Point seine Sätze sind, wie viel Verletzlichkeit dahintersteckt, wie schonungslos seine Selbstreflexion ist. Wie viel Mut es bedarf, seine unverblümten Gedanken der Ablehnung zu gestehen.

Aber kann man seine Klasse hinter sich lassen? Gibt es ein Ankommen oder auch ein Dazwischen?

»Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber mittlerweile schäme ich mich dafür, euch verleugnet zu haben. Ich schäme mich für meine Scham.« S.99

Ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

Bewertung vom 21.05.2024
Saturnin
Malecki, Jakub

Saturnin


ausgezeichnet

»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, kauft aber stattdessen ständig Ohrstöpsel und tröstet sich mit Süßigkeiten. Sein Traum, Profisportler im Gewichtheben zu werden, ist längst geplatzt. Fast widerwillig kehrt er in sein Heimatdorf zurück, als seine Mutter Hania ihn anruft, dass sein Großvater Tadeusz verschwunden sei.

Małecki entblättert die Geschichte der Familie Markiewicz, über der ein bedrückendes Schweigen liegt, das jeder für sich mit etwas auszufüllen gelernt hat. Die Mutter mit Wörtern, der Großvater mit Arbeit und der kleine Saturnin mit Träumen und Selbstzweifeln.
Vieles in seinem Leben bleibt Saturnin lange ein Rätsel, woher sein bescheuerter Name kommt, wieso sein Vater in den entscheidenden Momenten abwesend ist. Er hadert mit seinen Sommersprossen, mit seiner Unfähigkeit, Frauen anzusprechen, mit seinem Hang, sich ständig zu überfressen.
Hania weiß das Schweigen zu füllen und klebt Wörter um sich, durch die sich Saturnin auf der Suche nach der eigentlichen Information hindurchwühlen muss.
Seine Mutter leide an »Satzlosigkeit, an fehlenden Punkten und anderen Satzzeichen«.

»Sie überschüttet mich mit Wörtern, und es ist unmöglich, diejenigen herauszufischen, die sie wirklich sagen will, denn sie sind mit dem ganzen Rest vermischt, mit all den Ausstopfwörtern, die ihr, seit sie denken kann, dazu dienen, sämtliche Ritzen und Risse zu schließen, all das, was sie nicht sehen will.« S.29

Dann endlich bricht der Großvater sein Schweigen. Die Erinnerung an den Krieg kehren zurück, an seine tote Schwester Irka, über die er nicht spricht. An Dinge, die er getan hat, die er wie seine Trompete am liebsten im Wald vergraben hätte.

Eine äußerst bewegende Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Träume, Scham, Trauer und Verlust, die von ihrer Zartheit lebt, von virtuos komponierten Sätze, durchzogen von Zeitschleifen. Małecki spielt mit den schriftstellerischen Möglichkeiten, wechselt die Perspektiven, die Erzählform, streut einen Hauch magischen Realismus ein, weiß zu überraschen – vor allem mit seinem allerletzten Satz. Spannung schwebt über all dem, wie ein leichter Wind, der über die polnische Landschaft streicht. Doch die Molltöne der Melancholie schälen sich durch. Kriegstraumata, Tote, die auf seltsame Weise noch zwischen den Lebenden hängen und sich in dem Schweigen festgesetzt haben. Das transgenerationale Trauma der Sprachlosigkeit. Das Trauma eines ganzen Landes.

»… kurz danach ziehen die Polen wieder ein, beladen mit den Erlebnissen der Vertreibung. … Schöne Sätze von Krieg, Mut und Freiheit, er hätte Lust, sie alle zu sammeln und in den Ofen zu werfen.« S.248

Małeckis Geschichten tröpfeln in die Seele, wärmen, versöhnen und richten sich ein, um zu bleiben. Er ist aufrichtig, unverblümt mit seinen bodenständigen Figuren, die so wenig heldenhaft sind, wie polnisches Ackerland sehenswert ist. In denen wir unsere eigene Verzweiflung und Ängste entdecken können. Die Vergangenheit klebt an ihnen wie die Erde der Ackerscholle nach einem Regen. Traurigkeit hat tiefe Furchen gezogen, die Małecki mit der Magie des Alltags füllt, auf so traurig schöne Weise, dass ich seine Worte einatmen will.

Ich bin begeistert. Auch von der großartigen Übersetzung durch Renate Schmidgall.

Bewertung vom 16.05.2024
Von guten Eltern
Russo, Richard

Von guten Eltern


gut

Hat es sich gelohnt, zum 3. und letzten Mal nach North Bath zurückzukehren? Ein Ort, der mit Sully so eng verbunden war, wie sein Hintern mit dem Barhocker im Horse, auf dem jetzt nur noch ein Blechschild mit seinem Namen übrig ist?
Na ja ganz ist Sully nicht verschwunden, irgendwie lebt er in den Menschen ja doch weiter, die sich oft fragen: »Was würde Sully tun?«
Da ist sein Sohn Peter, der eigentlich gar nicht hier sein will, aber von seinem Vater nicht nur ein Haus geerbt hat, das er nun auf Vordermann bringen und verkaufen will, sondern auch eine Liste mit Namen, um die er sich kümmern soll. Allen voran Rub, Sullys Anhängsel, der ohne ihn nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Oder Ruth, Sullys ewige Geliebte, die versucht ihre Familie zusammenzuhalten.
Da wäre auch noch Raymer, der ehemalige Polizeichef des Ortes. Doch North Bath wurde nach einer langen Zeit des Sterbens endlich von Schuyler Springs eingemeindet, was seinen Job überflüssig machte. Aber man hält gern fest an alt Vertrautem und benachrichtigt ihn zuerst, als im Sans Souci eine Leiche gefunden wird. Doch das wäre eigentlich Charices Aufgabe, die inzwischen zur ersten Schwarzen Polizeichefin von Schuyler Springs ernannt wurde und dort nicht nur mit Rassismus, sondern auch noch mit Polizeigewalt befassen muss.
Und dann bekommt Peter auch noch unverhofften Besuch von seinem Sohn Thomas, zu dem er seit seiner Scheidung kaum noch Kontakt hatte. Doch sein Besuch endet fast in einem Desaster.

Über dem ganzen Buch schwebt der Geist der Vergangenheit, nicht in Form von Sully. Wie immer hat Russo die komplizierten Beziehungen seiner Figuren gut beobachtet. Sie taumeln zwischen Trauer und Erinnerungen, sie resümieren, philosophieren. Letztlich fühlten sich die vielen inneren verzweifelnden Monologe an, als hätte die Geschichte Bleigewichte an den Füßen und wollte nicht so recht vorwärtskommen. Aber der Reihe nach.

30 Jahre sind seit Erscheinen des 1. Bands vergangen. Während Russo im 1. Teil mit Sully seine Erinnerungen an seinen eigenen zu früh verstorbenen Vater verarbeitete, hat sich die Welt weiter gedreht. Unter anderem starb George Floyd durch die Hand eines Polizisten. Obwohl, wie Russo selbst sagt, nie ein 3. Teil geplant hat, hat er sich intensiv mit Schwarzen Autoren auseinandergesetzt und die Themen Rassismus und Polizeigewalt nach North Bath geholt. Dies hat er in meinen Augen sehr glaubwürdig dargestellt. Wie unterschiedlich die Sichtweisen von weißen und Schwarzen Menschen sein können, zeigt er in der Beziehung von Charise und Raymer. Allerdings muss Jerome, Charise’ Bruder, Raymer dazu einiges erklären, was zum Teil sehr zäh wird. Raymer, der ohnehin eine schwierige und humorlose Figur war, rückt mir hier zu sehr in den Vordergrund.
Rub und Carl, die Potenzial hatten, bekommen dagegen nur eine Nebenrolle. Damit ging auch viel von Russos Humor verloren, der seine umfangreichen Bücher enorm aufgelockert hat.
Am stärksten war für mich die komplizierten Eltern-Kinder-Konstellationen von Peter und Thomas sowie Ruth und Janey und deren Tochter Tina. Allerdings bleiben ein paar angelegte Konflikte in der Luft hängen. Legt Russo da einen 4. Teil an oder überlässt er es den Leser*innen, sich deren Zukunft vorzustellen?

Russo ist und bleibt einer meiner Lieblingsautoren, auch wenn ich hier nicht vor Begeisterung sprühe. Was mich immer wieder versöhnt, sind Sätze wie diese:

»Wie hätten Sie Ihr Steak gern?«
»So, dass ein guter Tierarzt das Rind noch retten könnte.«

Ich bleibe dieses Mal also etwas enttäuscht zurück und vertraue auf sein Wort, dass er kein viertes mal nach North Bath zurückkehren will, stattdessen Teddy aus »Jenseits der Erwartungen« eine weitere Geschichte widmen möchte. Wir dürfen also gespannt sein.
Eine Leseempfehlung gebe ich diesmal nur an die Leser*innen der vorigen Bände, Neueinsteiger könnten durch einige unverständliche Lücken enttäuscht sein.

Bewertung vom 13.05.2024
Martha und die Ihren
Hartmann, Lukas

Martha und die Ihren


sehr gut

In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in prekärer Armut aufwächst. Eine von der Nachbarin vor die Haustür gestellte Schüssel Haferbrei wird für die Kinder zum Festessen. Auch wenn Martha, abgezählt nach Altersjahren, nur sieben gestrichene Löffel voll davon bekommt. Nach dem frühen Tod des Vaters weiß die Mutter nicht mehr, wie sie die sechs Kinder satt bekommen soll. Und so kommt Martha, wie auch ihre Geschwister, als Verdingkind zu einer anderen Familie.

»Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.« S.17

Dort ist sie als zusätzliche Arbeitskraft willkommen, aber nicht als zusätzlicher Esser. Die Schüssel mit den Kartoffeln ist oft schon leer, wenn sie bei ihr am Ende des Tischs ankommt. Doch Martha ist tapfer, kann zupacken und ist intelligent. Sie schafft es, eine Stelle in einer Strickerei in Bern zu ergattern und damit einen Weg aus der Armut zu finden. Doch das Erlebte hat längst einen Weg tief in ihr Inneres gefunden, und sich dort festgesetzt. Und es wird nicht nur ihr Leben beeinflussen, sondern auch das ihrer Söhne.
Toni, der Älteste, kennt kein anderes Ziel, als den Makel, Sohn eines Verdingkinds zu sein, durch eigene Anstrengungen auszulöschen. Wenn er von der Mutter etwas gelernt hat, dann das hart verdiente Geld zu sparen und mit Zuneigung zu geizen.
Erst Tonis ältester Sohn Bastian, der sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt, geht dem Gefühlsdefizit seiner Familie auf den Grund, rebelliert und versucht die Auswirkungen seiner Familiengeschichte zu verstehen.

Basis des Romans sind Hartmanns Gespräche mit seiner Großmutter, als sie schon alt ist, sich ein Leben lang verschlossen hat und nur bruchstückhaft über ihr Leben spricht. Diese Leerstellen füllt er mit einer hochemotionalen Geschichte, die so oder so ähnlich viele Familien ereilt hat. Armut war in der Schweiz nicht nur ein Makel, sondern ein Fehlverhalten und eine Gefahr für das Gemeinwohl, weshalb die Behörden bis in die 70er Jahre den Eltern die Kinder entzogen, sie auf Bauernhöfe schickte, in Armenhäuser und Heime. Und man kann Marthas ganzen Stolz, es aus diesem Milieu herausgeschafft zu haben, nachvollziehen.

»Sie ist für mich die prägende Figur der Familie geworden«, sagt der Autor im Nachwort und als Leser*in versteht man es im Laufe der Geschichte, wie sehr dieser Makel zur Triebkraft von Marthas Kindern wurde, quasi als Trauma vererbt wurde.

Obwohl es nur wenige Schnittstellen mit meiner eigenen Familiengeschichte hat, kamen mir doch vieles bekannt vor. Eine Generation, die schweigt, die sich Emotionen versagt. Bloß keine Schwäche zeigen, keine Nähe zulassen. Die sich auf der Karriereleiter nach oben abmüht, ständig mit der Angst im Nacken, zu versagen und trotzdem das Gleiche von den Kindern einfordert. Doch die Kinder träumen von einem freieren Leben und sehnen sich nach Liebe um ihrer selbst willen.

Die Essenz des Romans ist für mich, wenn wir das Leben der Vorgeneration verstehen, können wir begreifen, warum sie sind, wie sie sind – warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir heute noch an diesem seelischen Erbe zu knabbern haben. Dass aufeinander zugehen, miteinander reden und verzeihen wichtige Schritte sind, um sich von den transgenerationalen Traumata zu befreien.

Bewertung vom 10.05.2024
Der Wind kennt meinen Namen
Allende, Isabel

Der Wind kennt meinen Namen


weniger gut

Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. Er wird seine Eltern nie wieder sehen. 80 Jahre später flüchtet die 7-jährige Anita mit ihrer Mutter aus Angst vor der Gewalt in El Salvador in die USA. Unter der Regierung Trumps werden dort Kinder von ihren Eltern getrennt. Wie viele andere landet Anita in einem Lager, immer in der Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen.

Der Klappentext des Buches ist noch wesentlich blumiger und spektakulärer und es hätte eine emotionale Geschichte werden können. Hätte. Leider hat Allende es nicht geschafft, Emotionen bei mir zu wecken. Fast berichtartig jagt sie durch die Jahrzehnte, reiht auf eine bemühte Art Ereignis an Ereignis, streut alltägliche Nebensächlichkeiten ein und wenig glaubwürdige Dialoge. Alles wirkt reichlich konstruiert, um bei dem von ihr angestrebten Ende anzukommen. Umständliche Konjunktiv- und Passivkonstruktionen tun ihr Bestes, die Distanz zum Leser noch zu vergrößern. Es wird zusammengerafft, was nur geht. Für mich fühlte sich alles an, als würde ich Ähnliches bereits aus den Nachrichten oder aus Dokus kennen.

Zu viele Informationen werden vermittelt und ersticken die eh schon karge Handlung. Sie verliert sich in Einrichtungsbeschreibungen und reiht zahlreiche Menüfolgen aneinander, was leider keine Atmosphäre schafft, ja noch nicht mal authentisch wirkt, da oft um spanische Worte handelt, die übersetzt auch Bahnhof bedeuten können.

Zu viele schablonenhafte Figuren, die am Ende unwichtig sind, eine verschüttete Geschichte, die wahrscheinlich rührender gewesen wäre, hätte sie sich darauf konzentriert. Sie berichtet, kommentiert, streut Infos ein, um Zusammenhänge zu erklären, anstatt uns diese wirklich dramatischen Erlebnisse fühlen zu lassen. Und am Ende ist es einfach vorbei. Bisschen zu fix.

Ich denke, sie hat hier ein großes Anliegen gehabt, was vom Grundgedanken eine großartige Geschichte hätte werden können. Aber es fehlte an Tiefe, an Allendes magischem Realismus, kurzum, ich bin enttäuscht. Im Übrigen auch von der Übersetzung, die Anitas kindliche Gedanken in ein nacktes Schriftdeutsch übertragen hat, was völlig unglaubwürdig klingt.

Ich habe im letzten Jahr so viele großartige Bücher zum Thema Flucht gelesen, die mich berührt haben, deren Schicksale glaubhaft waren und die mir die vielen Zusammenhänge deutlich gemacht haben. Mag sein, dass es daran lag, dass mich Allende nicht erreichen konnte. Ich denke aber, sie wird ihre Leserinnen finden, die die nicht ganz so im Thema sind wie ich.

Bewertung vom 07.05.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

David Copperfield in den Apalachen

»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die zuerst von den Bergwerksbesitzern verlassen wurde, dann von denen, die noch bei Verstand waren und zuletzt auch noch von Gott.
Seine Teenagermutter ist high, als er auf den dreckigen Vinylfliesen in einem Trailer auf die Welt kommt, sein Vater tot.

»Wenn die Mutter in ihrer eigenen Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein wenig lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie.« S.10

An seinem 11. Geburtstag knallt sich seine Mutter mit einer Überdosis Oxy weg und für ihn beginnt ein trauriges Leben in miesen Pflegefamilien. Gewalt, Hunger, harte Arbeit, Drogen sind seine ständigen Begleiter – der amerikanische Albtraum. Mit jedem neuen Kapitel wünscht man dem kleinen Rotschopf (daher sein Spitzname Copperhead), dass es diesmal für ihn gut ausgehen soll. Und immer wieder denke ich: Nein, bitte nicht auch das noch.

»Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.« S.741

Doch Demon hat eine Superkraft, na eigentlich zwei. Er liebt Comics und ist ein begnadeter Zeichner. Aus seinen Freunden macht er Superhelden, denn scheinbar mühelos erkennt er, was sie im Kern ausmacht. Nur seine eigene Superkraft zu erkennen, fällt ihm schwer. Aber er ist ein unverwüstliches Stehaufmännchen mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Als der 11-Jährige gefragt wird, was er einmal werden wolle, sagt er: »Hauptsache, noch am Leben«.

Nicht zuletzt ist es Kingsolvers herausragendes schriftstellerisches Talent mit ausgefallenen Sätzen, auffälligen Metaphern und Demons flapsiger Stimme, sein Schicksal für uns Leser*innen aushaltbar zu machen.

Kingsolvers Roman ist eine Hommage an ihre Heimat, die Appalachen. Dort, in einem der ärmsten Gegenden Amerikas, in Lee County, Kentucky, wächst ihr Protagonist auf. Ein Landstrich, der verächtlich als der Fußabstreifer des Landes bezeichnet wird, ihre Bewohner als Hillbillys. Um sie aus der Vergessenheit herauszuholen, transferiert sie Dickens Sozialdrama »David Copperfield« auf eine tief beeindruckende und intensive Weise. Mit der wachsenden Reife von Demon erfahren wir viel über die geschichtliche Entwicklung seiner Heimat, darüber, warum keiner Interesse an den Menschen hat, die von Sozialschecks, Schwarzbrennerei und Eigenversorgung leben. Und warum ausgerechnet sie das bevorzugte Opfer der Pharmaindustrie wurden.
Sie übt Kritik am bestehenden Sozialsystem, das massiv überfordert ist, deren Schutzbedürftige nur eine Aktennummer und sich selbst überlassen sind. Das alles wird überschattet von der großen Opioid-Krise, die in den letzten Jahren hunderttausend Tote hinterlassen hat. Demon ist ein dieser Babys, die schon süchtig zur Welt kommen.

Missverstanden, auf Stereotype reduziert, wegen ihres Akzents verspottet und ungesehen vom Rest der Welt. Und daher sind die letzten Worte in der Danksagung ihnen gewidmet:

»Die Kinder, die an diesen dunklen Orten jeden Tag hungrig erwachen, die ihre Eltern durch Armut und Schmerzmittel verloren haben, deren Sachbearbeiterinnen ständig ihre Akten verlegen, die sich unsichtbar fühlen oder sich wünschen, sie wären es: Dieses Buch ist für euch.«

Eine schmerzhaft schöne Geschichte, die mit jeder Seite süchtig macht, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. 800 Seiten, die emotional fordern, aber ebenso spannend wie lehrreich sind, die viel zu schnell vorbei waren.

Bewertung vom 07.05.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

In letzter Zeit häufen sich ja die Adaptionen großer Werke aus der Weltliteratur, was nicht immer gelungen ist, wie ich festgestellt habe. Everett hat sich hier an einen Klassiker von Twain gewagt und dekonstruierte »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« aus dem Jahr 1884, indem er die Flucht des Sklaven Jim nun aus dessen Perspektive erzählt. Ob es für mich diesmal funktioniert hat?

Zum Inhalt sei nur so viel gesagt: James flieht aus Hannibal, als er erfährt, dass er verkauft werden soll. Er sieht darin seine einzige Chance, um seine Familie nicht zu verlieren. Wie auch bei Twain ist Huck auf der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater und begleitet James auf einigen Abschnitten der abenteuerlichen Reise auf dem Mississippi. Allerdings sucht man nun nach ihm nicht nur als »Entlaufenen« sondern auch als Mörder von Huck.
Doch aus dem ungebildeten, naiven Jim Twains macht Everett eine Figur, die aus ihrer Opferrolle heraustritt und nicht mehr auf die Gnade der Weißen angewiesen ist. Everett nutzt dazu das Stilmittel der Sprache, nicht nur indem er James vor den Weißen in einer Art Slang, einem Südstaatenenglisch sprechen lässt, damit diese den Eindruck bekommen, er sei ungebildet. Diesen Slang ins Deutsche zu übertragen war sicher eine Herausforderung, doch der Übersetzer Nikolaus Stingl hat hier ganze Arbeit geleistet, um die Authentizität zu erhalten. James muss seine Tarnung aufrechterhalten, genauso wie alle anderen. Denn Sklaven war es verboten, lesen und schreiben zu lernen.

»Jim, ich frag dich jetzt was. Warst du in Richter Thatchers Bibliothekszimmer?«
»In seim was?«
»Seiner Bibliothek.«
»Nein, Ma’am. Gesehen habbich die Bücher, aber im Zimmer drin warch nich. … Was sollchn mim Buch?« S.15

Vielleicht mag es übertrieben erscheinen, dass James Rousseau und Locke gelesen hat, es finden sich einige philosophische Aussagen und Fragen in dem Buch, die nachdenklich stimmen. Doch das verleiht der vorherrschenden Denkweise der Weißen, sich überlegen zu fühlen, eine gewisse Ironie. James kehrt es um, indem er denkt:

»Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen …« S.11

Denn das gibt den Schwarzen ein Mindestmaß an Sicherheit, auch wenn sie ihren unbegründeten Misshandlungen, Auspeitschungen und sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert sind. Und es entlarvt gleichzeitig die vorherrschende Überlegenheitstheorie der Sklavenhalter.

Was Sprache in dem Roman alles kann, solltet ihr selbst herausfinden, für mich ist es ein zentrales Thema, um das sich zahlreiche erschreckende Abenteuer ranken. Zum Beispiel ein gestohlener Bleistift, den James nutzen will, um seine Geschichte aufzuschreiben, für den ein anderer aber mit dem Leben bezahlt. Auch ein Grundgedanke – Bildung als Waffe.

In kurzen, temporeichen Kapiteln jagen wir den Mississippi rauf und runter, treffen dabei auf manch skurrile Gestalten, Trickbetrüger, Gauner und Sklavenhalter der übelsten Sorte, wodurch Everett dem Abenteuercharakter des Originals gerecht wird. Zwar verkürzt er etliche Ereignisse, was aber für das Gesamtverständnis des Romans nicht von Belang ist. Trotz aller Ironie, die sich oft hinter einigen Begegnungen versteckt, ist Everett on point, wenn es um die Darstellung von rassistischen Themen geht. Das geht stellenweise echt unter die Haut.

»Was ich verbrochen habe? Ich bin ein Sklave. Ich habe eingeatmet, als ich hätte ausatmen sollen. Was ich verbrochen habe?« S.234

Immer wieder wird Twain unterstellt, er sei ein Rassist gewesen, andere halten ihn für einen Chronisten seiner Zeit. Wiederholt fielen zahlreiche Passagen der Zensur zum Opfer, auch streitet man sich über das N-Wort in seinen Romanen und eine etwaige Bereinigung. Doch zeitkritische Literatur braucht m.E. auch eine authentische Sprache, egal, ob es heute einigen gefällt oder nicht. Auch Everett bleibt dabei, was zur Verdeutlichung der Brutalität von Sprache dient und mich einige Male heftig schlucken ließ. Das nur btw.
Für mich ist »James« eine Weiterführung der twainschen Grundidee. Eine Hommage an Twain, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rassismus, der heute noch tief verwurzelt ist. Radikal und scharfzüngig mit viel Humor, absolut lesenswert.

»Es ist eine schreckliche Welt. Die Weißen versuchen, uns einzureden, dass alles gut sein wird, wenn wir in den Himmel kommen. Meine Frage ist: Werden sie dann auch dort sein? Wenn ja, sehe ich mich vielleicht nach etwas anderem um.« S.162

»Ein Mann, der sich weigert, Sklaven zu besitzen, jedoch nicht dagegen war, dass andere welche besaßen, war in meinen Augen immer noch ein Sklavenhalter.« S.189

»Wenn man die Hölle als Heimat kennt, ist die Rückkehr in die Hölle dann eine Heimkehr?« S.293

Bewertung vom 29.04.2024
Die goldene Stunde
Versteeg, Wytske

Die goldene Stunde


sehr gut

Seid ihr schon mal aus ganzen Herzen überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, und musstest hinterher feststellen, das es falsch war? Oder wolltet einem Menschen helfen, doch die Hilfe war nicht das, was dieser Mensch in dem Moment brauchte? Diesen und ähnlichen Fragen geht Wytske Versteeg in ihrem Debütroman nach.

Mari, die eigentlich Archäologin ist, wollte es anders machen und engagierte sich für ein Projekt, das Geflüchteten helfen soll, in den Niederlanden anzukommen. In einer spießigen Kleingartenanlage namens Paradies. Einer von ihnen ist Ahmad, ein arabischer Flüchtling, mit dem sie eine kurze Beziehung hat und der just an dem Tag verschwindet, als das Gartenhaus abbrennt. Mari, zutiefst enttäuscht, verlässt ihr Zuhause und begibt sich auf die Suche nach Felsmalereien in Ahmads Heimatland. Wieder mit guten Absichten, denn sie denkt, mit ihrer Arbeit den Tourismus ankurbeln zu können. Doch das Land hat ganz andere Problem, wie schnell deutlich wird. Dort begegnet sie Tarik, der vor seiner Vergangenheit in ein kleines Dorf geflüchtet ist. Niemand in dem Dorf weiß, dass er als Aufseher in einem Lager gearbeitet hat, aus dem Menschen verschwanden, die gegen die Regierung rebelliert haben. Immer wieder werden Leichen vom Fluss angeschwemmt, die er wortlos beerdigt. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein, denn Mari bittet ihn, Ahmads Aufzeichnungen vorzulesen, die er ihr hinterlassen und in seiner Muttersprache verfasst hat. Er schrieb sich alles von der Seele, worüber er geschwiegen oder gelogen hat. Nicht nur über die Gründe seiner Flucht, die lange Odyssee durch Flüchtlingslager mit katastrophalen Verhältnissen. Er findet auch harsche Worte für ihre erdrückend guten Absichten, seine Verachtung für sie und ihre sensationslüsternen Landsleute.

»Ich bin nicht die Geschichte, die du aus mir machst und anderen gegenüber im immer selben Wortlaut wiederholst, ich bin keine Puppe, die du verbiegen, verrenken, hinsetzen kannst, wie es dir gefällt, das Rot, das du siehst, ist eine blutende Wunde.« S.147

Versteegs Buch lässt sich nicht leicht in Worte fassen, auch hatte ich so meine Startschwierigkeiten, und sicherlich lässt es sich auf verschiedene Weise lesen, denn sie wirft viele Fragen auf. Eine davon ist, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Sachbearbeiter, die ausgelaugt, müde sind, immer wieder die gleichen Fragen stellen, sich aber nicht wirklich für die Schicksale der Menschen interessieren. Flüchtlinge, die schnell lernen, dass die Wahrheit einen nicht weiterbringt, es besser ist, zu lügen und sich zu verbiegen.

»So freundlich sie hier auch alle waren: Alles schien darauf ausgelegt zu sein, mich nicht zu hören.« S.150

Versteeg schreibt von einer katastrophalen europäischen Flüchtlingspolitik, von gescheiterten guten Absichten und dennoch heißt der letzte Satz im Buch:

»Und da ist so viel Hoffnung.«

Sie widmet allen drei Figuren eine eigene Perspektive, verwebt sie miteinander. Jeder der drei ist auf der Suche nach sich selbst und gleichzeitig auf der Flucht, fühlt, was Fremdsein bedeutet. Immer wieder kreist sie um richtig und falsch, kurbelt mein Gedankenkarussell an, hält mir den Spiegel vor, stellt Fragen, gibt mir aber keine Antworten, die muss ich schon selbst finden. Am Ende liegt sehr viel darin, was nicht gesagt wird.

Sie schreibt zärtlich, fast schon leise, an anderer Stelle wird sie laut. Ihr Text ist oft schmerzhaft, wenn sich beim Lesen eine Erkenntnis einstellt, dass unser Leben oft aus vielen Missverständnissen besteht, aus Ängsten, Schweigen und falschen Erwartungen. Herausragend war für mich, wie sie sich in die einzelnen Charaktere hineinversetzen konnte. Ein großartiges Stück Literatur von brisanter Aktualität, das sehr lange nachhallt.

Bewertung vom 26.04.2024
Waldeck
Heimbach, Jürgen

Waldeck


ausgezeichnet

1964, der Journalist Ferdinand Broich ist bei seiner letzten Story falschen Informationen aufgelaufen und braucht nun dringen einen neuen Job, um seine Reputation wieder herzustellen. Sein Spezialgebiet – das Aufspüren von ehemaligen Kriegsverbrechern, die, meist unter einer falschen Identität, nach wie vor unbehelligt in Amt und Würde sind. Da kommt ihm der Anruf einer Überlebenden des Holocausts gerade recht, die in München einen ehemaligen Zahnarzt aus dem Lager Majdanek wiedererkannt haben will. Doch bei Broichs Eintreffen ist die alte Dame bereits verstorben. Zufall?
Silvia will sich nicht ihrem Vater beugen, der ihr verbietet, Kunst zu studieren, sie stattdessen mit einem wohlhabenden Juristen verheiraten will. Außerdem hat sie herausgefunden, dass ihr Vater ein schreckliches Geheimnis verbirgt. Wenige Tage bevor sie großjährig wird, überschlagen sich die Ereignisse, und sie muss früher fliehen als geplant. Ihr Ziel ist das Waldeck-Festival, wo sie sich mit einem jungen Mann treffen will.
Währenddessen versucht Mine auf einem Dorf im Hunsrück, ihre ungeplante Schwangerschaft vor ihrer Familie zu verheimlichen. Auch sie soll einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Sollte sie sich weigern, bliebe ihr nur eine Zukunft als bessere Magd auf dem elterlichen Hof, unter der Knute ihres strengen Großvaters, eines glühenden Hitleranhängers, bei dem alle in Schweigen versinken, wenn er an der sonntäglichen Kaffeetafel ins Schwadronieren über die guten alten Zeiten vor 45 gerät.

Heimbach erzählt in seinem multiperspektivischen (Kriminal)Roman von einem Generationenkonflikt, der exemplarisch für die 60er Jahre ist. Obwohl die eigentliche Handlung nur acht Tage umfasst, gelingt ihm ein außerordentlich stimmungsvolles Bild, das den Zeitgeist eines Aufbegehrens perfekt widerspiegelt. Eine Jugend, die sich gegen den Mief ihrer Elterngeneration auflehnt, was sich im Besonderen in der Musik niederschlägt.

Heimbach wählt dafür das erste Festival auf der Burgruine Waldeck als Kulisse, aus dem sich eine neue Kultur, die der Liedermacher entwickelte, wie z.B. Hannes Wader oder Katja Ebstein. Die jungen Menschen, die sich dort versammeln und über neue Ideale diskutieren, sind als Gammler und Kommunisten den Vorgenerationen ein Dorn im Auge. Die, die eine neue linke Gefahr und sich in ihren Werten bedroht sehen. Was für eine erschütternde Parallele zur heutigen Zeit!

»Aber ich fürchte, … dass die Ideen der Nazis weiterleben, dass Zeiten kommen werden, in denen vergessen sein wird, was passiert ist, in denen man es wahrscheinlich sogar als lästig ansieht, dass immer wieder aufs Neue an die Gräueltaten der Nazis erinnert wird. Ein Vogelschiss in der Geschichte, werden sie sagen, sei das gewesen.« S.147

Gleichzeitig möchten die Alten über die Kriegsjahre und die damit begangenen Verbrechen den Mantel des Schweigens ausbreiten, nach dem Motto: Jetzt muss aber auch mal gut sein. Und das in dem Wissen, dass nicht wenige der Täter unbehelligt unter ihnen leben. Auch in angesehener Stellung, wie im Roman der Zahnarzt Fischer. Ihm zur Seite stellt Heimbach den pensionierten BND-Mann Winter, einen Mann fürs Grobe, der hinter Fischer aufräumt. Denn durch die 1963 begonnenen Auschwitz-Prozesse in Frankfurt werden manche von ihnen äußerst nervös.

Mit Mine und Silvia zeichnet der Autor zwei sehr authentische Frauenfiguren, die es satthaben, nach den alten Vorstellungen ihrer Väter zu leben, die sich nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sehnen und voller Zuversicht und Glauben an sich selbst die ersten Schritte in ein freies Leben gehen.

Ein Buch, das mir einiges an Geschichte vermittelt hat, bin ich doch später und auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen. Die Sehnsucht einer neuen Generation, Gerechtigkeit walten zu lassen, die Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern Wiedergutmachung zukommen zu lassen.
Denn auch heute redet man nicht gern davon, wie viele Nazis sich in Wirtschaft, Justiz und Politik nie zur Verantwortung gezogen wurden und gesellschaftliches Ansehen genießen konnten.