Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ein.lesewesen
Wohnort: 
ZW

Bewertungen

Insgesamt 117 Bewertungen
Bewertung vom 18.11.2024
Oben in den Wäldern
Mason, Daniel

Oben in den Wäldern


ausgezeichnet

Der Wald – schon immer war er von zentraler Bedeutung in der Literatur, voller Symbolkraft und Mystik. Mason setzt mit seinem Werk den North Woods, den nördlichen Wäldern Massachusetts, ein literarisches Denkmal, dessen Üppigkeit an Sprachstilen, Genre und Figuren in meinen Augen der immensen Vielfalt des Waldes gleichkommt. Ein Meisterwerk, das zu meinen Jahreshighlights zählt.
Es beginnt mit der Flucht eines Paares aus einer puritanischen Kolonie, die in den North Woods endet, wo sie sich am siebten Tag niederlassen.

»Alles war so licht und rein … Am Bach fand er einen breiten, flachen Stein, brach ihn aus der Erde und trug ihn zurück zur Lichtung, wo er ihn behutsam auf den Boden legte. Hier.« S.15

Der Wald wird über 4 Jahrhunderte stummer Zeuge einer Vielzahl von Menschen, die sich an dessen Rand in einem kleinen gelben Haus niederlassen und eine Heimat in dieser verlassenen Gegend finden. Das Haus selbst ist es, das diese Geschichten bewahrt, die geprägt sind von Pioniergeist und Beharrlichkeit, aber auch Eifersucht, unglücklicher Liebe, Krankheit und Mord.
Eine von den Ureinwohnern Amerikas verschleppte Frau; ein englischer Soldat, der Apfelbauer werden will, in den Augen der Anderen aber von seiner »Pomomanie« geheilt werden muss; dessen Zwillingstöchtern, die zwar äußerlich gleich, aber charakterlich kaum verschiedener sein könnten; ein Sklavenjäger; eine Scharlatanin, die eine Séance abhält; ein Schizophrener, der von Waldspaziergängen besessen ist und seiner Schwester geheimnisvolle Super-8-Filme vererbt; ein True-Crime-Reporter, der einen Jahrhunderte zurückliegenden Massenmord aufklären will. Und ein liebestoller Käfer, der seiner Angebeteten in die kunstvollen Gänge ihrer Fresspuren folgt. Zu all den Zeitzeugen des Werdens und Vergehens gesellen sich noch viele klein und große Waldbewohner, eingeschleppte Sporen, Käfer, Berglöwen und unzählige Baumarten.

Mason gelingt es, die 12 kaleidoskopartigen Geschichten geschickt miteinander zu verweben. Mason passt seinen Schreibstil der jeweiligen Epoche an, wechselt zwischen den Perspektiven und Formen, reiht zwischen den Erzählungen Briefe, Gedichte und Zeitungsberichte aneinander und beweist damit größtes handwerkliches und schriftstellerisches Können, das mir bisher nur selten begegnet ist. Und dann sind da noch die kleinen »Oh«-Momente, die mir ein Schmunzeln entlocken. Während einzelne Protagonisten vor Rätseln stehen, bin ich als Leserin ihnen immer einen Schritt voraus, weiß von den losen Enden anderer Geschichten und bewundere Masons schriftstellerischen Kniffe, diese zu Ende zu führen.

Würde ich es beschreiben wollen, wäre es so ähnlich, wie einen dichten Wald zu betreten – wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdeckt man zuerst Umrisse, dann Einzelheiten, Geräusche, Gerüche. Und so wird auch dieses Buch zu einer Sinfonie an True Crime, Schauergeschichte, Nature Writing und verbindet sich letztlich zur Historie eines Landes. Es ist eine Geschichte des ständigen Wandels, unserer Beziehung zur Natur, unserem Zutun an deren Zerstörung. Was bleibt von uns übrig, was ist wirklich von Bedeutung?

Am Ende bin ich mir sicher, das nicht nur wir den Wald beobachten, sondern er uns – mit der gleichgültigen Gewissheit, dass er schon lange vor uns da war und es auch nach uns sein wird.

Bewertung vom 09.11.2024
Das Haus der Bücher und Schatten
Meyer, Kai

Das Haus der Bücher und Schatten


ausgezeichnet

Eine gelungene Mischung aus Krimi und Schauergeschichte

1933
Der Ex-Kriminalkommissar Cornelius Frey rettet eine junge Frau, bevor sie sich vor einen Zug werfen kann. Sie scheint wenig erfreut und ihre letzten Worte gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf:

»Sie weinen alle im Keller ohne Treppe.«

Keine 24 Stunden später findet er sie zusammen mit einem Polizisten ermordet im Hinterhof der Deutschen Bibliothek, in der Frey seit seiner Suspendierung Nachtschichten schiebt. Alles erscheint merkwürdig arrangiert und weckt seine Neugier. Aufgrund des Personalmangels bekommt er seinen Job zurück, doch das heißt noch lange nicht, dass seine Chefs an der wahrheitsgemäßen Aufklärung des Mordes interessiert sind. Auf der Suche nach dem Täter gerät Cornelius in ein undurchsichtiges Netz von Spitzeln, Okkultisten, Freimaurern und Fanatikern. Die Spur führt aber auch zu einem Ereignis vor 20 Jahren im fernen Baltikum.

1913
Die Lektorin Paula Engel reist mit ihrem Kollegen und Verlobten Jonathan ins verschneite Livland, um sich das längst überfällige Manuskript des egozentrischen Erfolgsautors Aschenbrand aushändigen zu lassen. Es könnte das Überleben des Verlags bedeuten, doch der Schriftsteller hält sie hin. Während sie immer mehr an der Existenz des Manuskripts zweifelt, weckt das verlassene alte Herrenhaus ihre Neugier, das nach und nach seine erschreckenden Geheimnisse preisgibt.

Was für ein großartiges Buch, für mich das beste aus der Reihe! Es ist ein bisschen wie Narnia, nur ohne Schrank. Ich schlage das Buch auf und betrete eine andere Welt, die ich mit allen Sinnen erleben kann.
Einmal mehr hat mir der Autor bewiesen, dass er zweifellos zu den besten Erzählern der Unterhaltungsliteratur gehört und eine so dichte Atmosphäre schafft, der man sich als Leser nicht entziehen kann. Diesmal ist ihm eine spannend-mytische Mischung aus historischem Krimi und bibliophiler Schauergeschichte gelungen, die er in ein historisch authentisches Setting einwebt, das den Zeitgeist widerspiegelt.
Mit seiner Reihe hat Kai Meyer Leipzig ein riesiges, lesenswertes Denkmal gesetzt. Das Graphische Viertel, einst schlagendes Herz der Bücherstadt, existiert nicht mehr. Bei einem alliierten Bombenangriff in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde es fast vollständig zerstört. Doch Meyer lässt es ein ums andere Mal wieder auferstehen. Ich höre das Rumpeln der Lkws, die Bücher ausliefern, das Rattern der Züge im schwefelgelben Rauch, die für den Papiernachschub sorgen, fühle den Takt, wenn die Druckmaschinen Tag und Nacht ihre Arbeit verrichten, und irre mit Cornelius durch das Naundörfchen, »Leipzigs letztem Gassenlabyrinth aus dem Mittelalter, einem Irrgarten aus schimmelnden Bruchbuden und zweifelhaften Etablissements, begrenzt von Kanälen, die an den Fundamenten der uralten Häuser nagen.« Geschickt wechselt Meyer die Perspektive, nimmt mich mit in ein eisiges Livland, erzählt mir ganz nebenbei ein Stück baltisch-deutsche Geschichte, von der ich keine Ahnung hatte. Er lässt mich frösteln, ich kuschel mich unter die Felldecke während einer Fahrt mit dem Pferdeschlitten durch den Winterwald, »dessen Baumreihen mir wie Spaliere erstarrter Gespenster erscheinen, tote Riesen unter weißen Laken.«. Und er schaffte es, dass ich mich echt grusel. Auch weil ich jetzt endlich weiß, wo die Spinnen sind, deren verlassene, staubbedeckte Nester durch einen unsichtbaren Luftzug hin und her zuckend an Kellerwänden hängen.
Auch wenn es das dritte Buch aus der Reihe ist, jedes lässt sich für sich lesen. Jedes spielt an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, doch feine unsichtbare Fäden führen immer wieder zurück ins Graphische Viertel. Es entlockt mir immer wieder ein Schmunzeln, wenn die eine oder andere Figur aus den vorigen Büchern kurz den Weg der neuen Protagonisten kreuzt, fast so, als wollten sie sich heimlich in die Geschichte schleichen.
Ganz großes Kino, das nicht nur Bücherherzen höher schlagen lässt.

Bewertung vom 09.11.2024
Das Mädchen und der Tod
Luo, Lingyuan

Das Mädchen und der Tod


sehr gut

Lingyuans neuster Roman basiert auf dem abscheulichen Mord an der der chinesischen Studentin Li Yangjie 2016 in Dessau. Und gerade deshalb möchte ich darauf hinweisen, dass es sehr explizite Szenen von Kindesmisshandlung, psychischer, physischer und sexueller Gewalt gibt. Aber der Reihe nach.

Yanyan träumt von einer Karriere als Architektin und möchte vor allem ihre Eltern stolz machen. Sie ist ihnen dankbar, dass sie ihr Auslandsstudium finanzieren, und möchte sie keinesfalls enttäuschen. Die ersten Monate in Deutschland sind hart, da ihre Englischkenntnisse kaum reichen, um den Vorlesungen zu folgen. Doch Yanyan kniet sich rein, gönnt sich kaum eine Pause und schreibt immer bessere Noten. Sie ist eine freundliche, gesellige junge Frau, die oft mit ihren Freundinnen kocht, auch wenn ihr kaum Zeit dafür bleibt. Deutschland und dessen Menschen bleiben ihr hingegen fremd. So viel ist anders als bei ihr zu Hause in China, dass sie sich oft nur wundern kann.
Und da ist der Schulabbrecher Ben, kaum achtzehn aber schon einiges auf dem Kerbholz. Die Mutter trennt sich früh von Bens Vater und durch ihre wechselnden Männerbekanntschaften wächst Bens Neugier auf das, was hinter der Schlafzimmertür geschieht. Vom Stiefvater und der Mutter finanziell verwöhnt und vor allem in Schutz genommen, wächst seine Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut. Hier eine Schlägerei, dort mal schnell einen Brand gelegt. Egal, er weiß, dass seine Mutter ihn überall raushauen wird. Sein übermäßiger P0rnokonsum weckt zunehmend Gewaltfantasien, die schon bald in einer ersten Vergewaltigung gipfeln.

Abwechselnd folgen wir beiden Perspektiven über mehrere Monate, die am Ende in einem abscheulichen Mord gipfeln. Die Autorin versucht in diesem True-Crime-Roman, den Ursachen der Gewalt auf die Spur zu kommen. Sie zeichnet fiktiv den Werdegang Bens nach, der uns Lesern vor Augen führt, warum er so ein Geltungsbedürfnis hat, so machtbesessen ist, so ein gespaltenes Verhältnis zu Frauen hat. Dies schreibt sie in einfachen, schlichten Worten, zum Teil auch sehr plakativ, ohne immer die nötige Tiefe zu erreichen.
Wesentlich besser und berührender gelingt ihr in meinen Augen die Perspektive Yanyans – ihr stabiles soziales Umfeld, den familiäre Rückhalt, das leise Anbahnen der ersten Liebe.
Ich bin eigentlich keine True-Crime-Leserin, die wenigen Bücher, die ich kenne, waren sehr oberflächlich und reißerisch. Daher kann ich keinen Vergleich innerhalb des Genres ziehen. Ich kann nur sagen, dass mich die detaillierte Darstellungen von Bens Gewalt am Ende erschüttert haben. Deshalb gibt es auch nur bedingt eine Empfehlung von mir, denn man sollte schon einiges wegstecken können.
Wer mehr über den Mord erfahren will, findet dazu einiges im Netz. Es wurde auch für einen Tatort adaptiert, den ich allerdings nicht gesehen habe.

Bewertung vom 29.10.2024
Um jeden Preis
Ferreira Cress, Maximilian;Blaschke, Bernd

Um jeden Preis


weniger gut

Die junge, unbedarfte Journalistin Michelle will ihrem Kollegen Hamza nicht glauben, als dieser ihr sagt, er sei einer rechtsradikalen Zelle in der Hamburger Polizei auf der Spur. Wenig später wird er angeschossen und Michelle, die eigentlich an ihrem Traumprojekt – ein Buch über einflussreiche Frauen in Deutschland – arbeitet, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und stößt auf ein weit verzweigtes Netz aus Korruption, Rechtsextremismus und Kriminalität.

Das hätte thematisch MEIN Thriller werden können. Hätte. Leider – und hier kommt gleich mein Fazit – leider hat mich das Buch sehr enttäuscht. Warum?

Zum einen klingt hier alles nach einem Drehbuch für einen schlechten Tatort. Was in einem Film funktioniert, weil die Szenen in kurzen Sequenzen folgen, wirkt hier steif und konstruiert und leider wenig glaubhaft. Es wird viel behauptet, wenig gezeigt, sodass die Figuren, allen voran Michelle, nur vorgeführt werden. Sie kam mir reichlich naiv vor. Weiß eine Journalistin wirklich nicht, dass Polizisten, die aus dem Dienst ausgeschieden sind, oft als Personenschützer arbeiten? Oder soll ich mich als Leserin darüber wundern? Und echt, ich kann in einem heimlich gedrehten Video die Seriennummer auf einem Gewehr erkennen? Oder sie wundert sich, dass sie keine Auskunft über eine Person bei einer Zeitarbeitsfirma bekommt, nur weil sie sagt, sie sei von der Presse. Ja, wir haben Datenschutz und das wissen auch die Leser*innen. (Nur ein paar von vielen Beispielen, wo ich nur mit dem Kopf geschüttelt habe.) Und warum wird von ihr behauptet, sie sei eine linke Journalistin? Ich konnte keinerlei Anhaltspunkte dafür finden. Überhaupt spielen die Autoren hier mit Klischees. Volkslieder singende Rechte auf einem Sommerfest, die ewig blaue Krawatte, die Mütter ihren Anwaltssöhnen schenken. Leider schon so verbraucht, dass ich nicht mal ein müdes Lächeln dafür übrig hatte.

Immer wieder lege ich das Buch weg, weil noch ne Baustelle aufgemacht wird, noch ein neues Thema, das sicherlich brisant ist, aber es fehlt durchweg an der nötigen Tiefe. Es beginnt beim Völkermord an den Herero und reicht bis zu Scheinfirmen auf den Bahamas. Shitstorms auf Social Media, Verschwörungstheorien, illegaler Waffenhandel, und und und.
Hinweise werden so subtil platziert wie ein Elefant in einem Vorgarten, dass eigentlich jede Wendung, wenn sie mal nicht konstruiert war, vorhersehbar wurde. (Ohne Beispiel, weil ich nicht spoilern will.) Sämtliche Figuren bleiben blass und unterentwickelt, ihre Handlungen sind teil so hanebüchen, dass ich echt keinen Spaß hatte und kurz vor Ende abgebrochen habe.
Mein Eindruck: Man wollte hier »um jeden Preis« einen gesellschaftlich hochaktuellen Thriller schreiben, was gründlich in die Hose ging. Ich vergebe einen Stern für ein wirklich tolles Cover und einen für die gute Idee, mehr ist leider nicht drin.
Ach ja, noch ein Hinweis. Falls ihr mal einen Hang in Hamburg runterpurzelt und spürt, wie Moskitos in die offene Wunde stechen, euch alle Knochen wehtun, dann lasst euch bitte nicht von eurem Freund zwei 800er Ibuprofen plus eine Novalgin geben, ihr könntet einen Leberschaden davontragen.

Bewertung vom 21.10.2024
Abseits
Rüdenauer, Ulrich

Abseits


ausgezeichnet

1954 in einem Dorf in Süddeutschland, der Krieg hängt den Menschen noch nach, es ist kein Platz für Sentimentalitäten und man möchte vergessen. Die (katholische?) Kirche hat leichtes Spiel mit ihrem Gefasel von Demut und Gnade, von Sünde und Erbarmen. Gottesfürchtigkeit beherrscht die Menschen. Man möchte Absolution, möchte sie verdrängen, diese Mittäterschaft, diese Mitwisserschaft in der Nazizeit. Und dann ist es ausgerechnet ein Kind, das einen täglich wieder damit konfrontiert.
Dieses Kind ist der neunjährige Richard, er wächst bei einem herrschsüchtigen Onkel, einer lieblosen Tante mit den »falschen Geschwistern« auf, die ihn alle täglich spüren lassen, dass er nicht dazugehört.
Ein strenger Lehrer, ein prügelnder Pfarrer, harte Arbeit auf dem Hof, das ist der Alltag von Richard. Er spürt, dass er lästig ist, und versucht möglichst allen aus dem Weg zu gehen. Auch wir Leser spüren, dass seine Anwesenheit die anderen wohl an etwas erinnert, dass sie lieber verdrängen würden. Nur wenige im Ort meinen es gut mit Richard, allen voran sein Großvater, dessen Besuche aber rar sind, der einzige, der in seiner Not da ist, der ihn lobt, aber auch ein Gefangener seiner Zeit ist.

»Wir sprechen miteinander wie einer, der schweigend dasitzt, mit sich selber.« S.75

Ihn könnte er fragen, was mit seinen Eltern geschehen ist. Doch die Zeit hat keinen Platz für Fragen und Richard flüchtet sich immer mehr in die eigene Welt in seinem Kopf.
1954 ist auch das Jahr, in dem die Menschen wieder Zuversicht und Stolz verspüren. Der Fußball-WM-Sieg muss ein einschneidendes Ereignis gewesen sein, vor allem für die Kinder. Da sind plötzlich wieder Ideale, denen man nacheifern kann. Ein Hoffnungsschimmer, der vielleicht auch Richard aus seinem Abseits herausführen kann?

Es ist nicht mein erstes Buch über die kollektive Sprachlosigkeit dieser Generation, die durch ihr Schweigen so tiefe Narben hinterlassen hat. Aber diese 190 Seiten habe ich nicht mal eben so in einem Rutsch durchgelesen. Jeder Satz scheint hier geschliffen und poliert, ließ mich hineingleiten in die Gefühlswelt des kleinen Jungen und dort verankern. Sätze, an denen ich hängenbleibe, die ich erneut lese, die ich nachspüre.
Es sind viele Bruchstücke, die uns der gelegentlich auftauchende Erzähler zusammensetzt, der wohl Richards Geschichte aus dessen Erinnerung aufgeschrieben hat. Auch das ist dramaturgisch mit viel Fingerspitzengefühl eingeflochten.
Aber wie findet man heraus aus so einer brutalen Welt, wo sind die kleinen Lichtblicke, damit man als sensibles Kind nicht daran zerbricht? Ab und zu platziert der Autor kleine Hoffnungsschimmer, die mich die Ungerechtigkeiten in Richards Welt dann doch ertragen lassen.

»Nichts ist vorhersagbar. Nicht das Schlechte. Aber auch das Gute nicht. Das Gute geschieht vielleicht sogar öfter, aber man muss es erkennen, und dann muss man zugreifen.« S.186

Ein Buch, das mich inhaltlich und sprachlich zutiefst berührt hat, dass ich kaum Worte dafür finde. Jedes Wort, jede Szene, ja selbst das Cover – alles verbindet sich auf meisterhafte Weise zu einem fühlbaren Ganzen, denn auch die »Stuppacher Madonna« auf dem Einband hat eine tiefe Bedeutung für Richards Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Doch das solltet ihr selbst lesen.
Ein wunderbares Debüt, das ich aus ganzem Herzen weiterempfehle. Ich hoffe, in Zukunft noch viel von dem Autor zu lesen.

Bewertung vom 05.10.2024
Bis in alle Endlichkeit
Kestrel, James

Bis in alle Endlichkeit


ausgezeichnet

Düstere Zukunftsaussichten - ein Thriller mit Niveau

Tenderloin, ein schäbiges, heruntergekommenes Viertel in San Francisco – Privatdetektiv Lee Crowe hat gerade die letzten Spuren seiner brisanten Ermittlung verwischt, als er vor einem Hotel einen verbeulten 300.000-Dollar-Rolls-Royce entdeckt, auf dem eine blonde Frau im Cocktailkleid liegt – tot. Statt die Polizei zu rufen, schießt Lee, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte, ein paar Fotos, um sie später der Presse zu verkaufen. Ein willkommenes Zubrot, falls er mal wieder knapp bei Kasse sein sollte. Man weiß ja nie, vielleicht war die Tote ja berühmt, dann würde es sich finanziell lohnen. Dass Lee mit dieser Aktion in ein Wespennest stochert, ahnt er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Für die Polizei ist der Fall klar, die junge Frau hat sich vom Hochhaus gestürzt. Doch damit findet sich Olivia Gravesend, eine der reichsten und einflussreichsten Frauen, nicht ab, und heuert Lee an, um den Tod ihrer Tochter Claire aufzuklären. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf eine junge Frau, die Claire nicht nur zum Verwechseln ähnlich sieht, sondern auch noch die gleichen, kreisrunden Narben vom Hals abwärts auf ihrer Wirbelsäule trägt. Wie kann das sein, wenn Claire doch ein Einzelkind war?

Kestrel entführt uns mit seinem klassischen kalifornischen Detektivroman in die Welt der Schönen und Reichen im modernen San Francisco. Ein Hauch Silicon Valley, wo innovative Entwicklungen die Zukunft verändern können – falls man es sich leisten kann.

Mit Lee hat Kestrel eine Figur geschaffen, die serientauglich ist. Nicht ganz so hart gesotten wie ein Philip Marlowe, aber so sympathisch, dass ich gern mehr von ihm lesen würde. Der einsame Privatermittler, der nach einer Entgleisung tief gefallen ist, sowohl seine Zulassung an Anwalt als auch seine Frau verloren hat, arbeitet nicht immer mit legalen Mitteln, seine übermächtigen Gegner allerdings auch nicht. Denn wenn Geld keine Rolle spielt, schreckt man auch nicht vor einem Mordanschlag zurück, dem Lee nur knapp entgeht. Bald wird ihm klar, dass er Freund und Feind nicht mehr unterscheiden kann.

Kestrel hält sich nicht nur mit dem typischen Ich-Erzähler dicht am Noir-Stil, der perfekt in die Story reinzieht. Er zeichnet auch ein düsteres Bild von der realen Welt und deren Möglichkeiten, wenn moderne Technologie, grenzenlose Gier und Reichtum aufeinandertreffen.
An sein prämiertes Kriegsepos »Fünf Winter« reicht dieses Buch vielleicht nicht heran, aber ich habe die Noir-Vibes gespürt und er hat mich von der ersten Seite an nicht vom Haken gelassen. »Bis in alle Endlichkeit« kann durchaus mit der klassischen amerikanischen Detektivliteratur mithalten. Eine Empfehlung für alle, die Thriller mit Niveau mögen, bei denen es nicht nur spannend und blutig wird, sondern auch düster – vor allem was die Zukunftsaussichten angeht.

Bewertung vom 27.09.2024
Rost
Malecki, Jakub

Rost


ausgezeichnet

»Alles ist gut«, ein Satz, der Trost spenden soll und doch so falsch ist.

Im Leben des siebenjährigen Szymeks ist 2002 nichts mehr gut, denn seine Eltern sterben bei einem Autounfall und er wohnt ab sofort bei seiner Großmutter Tosia. Der Allmächtige habe sie zu sich genommen, sagt man ihm und so nimmt er seine gesamten Spielsachen und versteckt sie in der Waschmaschine, damit dieser Allmächtige sie nicht auch noch holt.
Auch Tosia kennt diesen Satz nur zu gut, als man sie 63 Jahre zuvor aus der Schule heimgeschickt wurde, weil ihr Dorf Chojny von deutschen Flugzeugen bombardiert wurde, meinte man, sie damit trösten zu können. Kurz darauf muss sie miterleben, wie 26 Flüchtlinge in einer Scheune verbrennen. Es wird nicht die einzige Gräueltat sein, die sie und die Bewohner von Chony im Krieg miterleben werden.

Wie schon in Saturnin (2022) und Beben in uns (2023) widmet sich Małecki in Rost (2019) mehreren Generationen der polnischen Landbevölkerung. Auf zwei verschiedenen Zeitebenen folgen wir zum einen Szymek, den alle Saurier nennen, weil er ein reptilienartiges Gesicht hat, bis er zu einem eigensinnigen jungen Mann heranwächst, als auch Tosia, die sich in ihrer Kindheit in »den Unsichtbaren« verliebt, den einzigen Menschen, den sie je geliebt hat, dem sie ins Ohr flüsterte: »Mit dir könnte ich sterben.« Wir begegnen Julka, die in ihrem Laden keine Rothaarigen bedient. Und Michał, den alle den Doktor nennen, der in seiner eigenen Welt aus Gerüchen lebt. Es ist eine eigenwillige Dorfgemeinschaft, die immer wieder dem Lauf der Geschichte trotzt – der Vertreibung durch die Deutschen, dann die Rückkehr, der Nachkriegszeit im Sozialismus, dann die Wende. Mit viel erzählerischen Talent verwebt Małecki die einzelnen Schicksale mit der Geschichte des Dorfes Chojny und zeichnet so die Geschichte Polens nach.

Małecki hat einen sehr eigenen, nüchternen spröden Erzählton, unter den sich eine leise Zärtlichkeit mischt. Hin und wieder blitzt sein Humor durch, den ich sehr zu schätzen weiß. Er legt so viel Augenmerk auf seine Nebenfiguren, dass sie fast zu Protagonisten werden, die letztlich zu einer Schicksalsgemeinschaft verschmelzen. Nur so gelingt es, trotz aller Trauer und Kriegsgewalt nicht an der Wirklichkeit zu zerbrechen. Es ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden in schwierigen Zeiten, über Freundschaft und die Kraft der Liebe und einer Menge verpasster Gelegenheiten, die mich mal wieder zutiefst berührt hat.
Małecki gehört inzwischen für mich zu den besten zeitgenössischen Erzählern, gerade wegen seiner tieftraurigen Molltöne, den bodenständigen Figuren, die auf den ersten Blick wenig Heldenhaftes haben, voller Ecken und Kanten sind, manchmal auch sperrig und spröde, aber stets authentisch. Traurig schöne Geschichten, die mich immer wieder begeistern. Wieder hervorragend übersetzt von Renate Schmidgall. Ob am Ende alles gut ist, solltet ihr unbedingt selbst herausfinden, denn von mir gibt es eine absolute Leseempfehlung. Wie übrigens auch für seine anderen Bücher.

Bewertung vom 25.09.2024
Spatriati
Desiati, Mario

Spatriati


ausgezeichnet

»Spatriati, so nennt man in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art schlagenden, die Spinner, mitunter auch die Ziellosen und Alleinstehenden, kurz: die nicht dazugehören.«
Francesco und Claudia gehen in Martina Franca, in der apulischen Provinz, aufs gleiche Gymnasium und könnten gegensätzlicher nicht sein. Er himmelt sie an, doch sie nimmt kaum Notiz vom ihm. Francesco kommt aus einfachen Verhältnissen, dessen Eltern eher eine Zweckehe führen. Desiati nennt es das grausame Gesetz des ruhigen Lebens, nach einem Verhaltenskodex zu leben, der einem einiges an Disziplin abverlangt, vor allem an so kleinen Orten, wo jeder zu wissen scheint, was sich gehört und was nicht.
Claudia kommt nicht nur aus einer anderen Gesellschaftsschicht, sondern fällt schon durch ihr Äußeres auf mit ihrer mondweißen Haut und ihren leuchtend roten Haaren. Sie ist sich von Beginn an ihrer Andersartigkeit bewusst und gibt Paroli, als sie gefragt wird, warum sie nicht wie die anderen sei. »Es ist schon schwer genug, so wie ich zu sein, wie sollte ich da auch noch wie die anderen sein.« S.10

Als Franks Mutter eine Affäre mit Claudias Vater beginnt, beschließt Claudia, in Frank eine Art Bruder, einen Verbündeten zu sehen. Frank, der in den Traditionen seiner Heimat und dem katholischen Glauben verhaftet ist, versteht nicht, warum sie seine Liebe nicht erwidern kann. Er kann es nur akzeptieren, dass sie schon bald weggehen will, weil sie sich vom Korsett – der Denkweise der Menschen ihrer Heimat – eingeengt fühlt. Während Frank versucht, sich dem Leben hier anzupassen, seine Homosexualität verleugnet, und immer wieder an Grenzen stößt, schlittert Claudia auf der Suche nach ihrer Identität von einer toxischen Beziehung in die nächste, sucht ihr Glück in der Fremde. Es wird Jahre dauern, bis Frank ihr nach Berlin folgt, um sich endlich selbst zu finden.

Berlin als Ort soll in der Geschichte eine zentrale Rolle spielen. Desiati, der selbst zeitweise dort lebt, sagt, Berlin sei die Heimat der zweiten Chance: »Eine Stadt, in der diejenigen, die sich gebrochen fühlen, Heilung finden können. In Berlin erzählten mir alle, die ich kennenlernte, fröhlich, kritisch, unbeschwert und diszipliniert von ihrem Scheitern.«

Spatriati ist ein komplexer Roman, der einige Tabus enthüllt. Es geht darum, das Anderssein zu akzeptieren, den Mut, dazu zu stehen, Grenzen aufzusprengen und Liebe als etwas zu verstehen, das weit mehr ist als die Verbindung zu nur einem anderen Menschen. In der es keine Regeln gibt, keine Eifersucht, keine Einschränkungen. Die Erkenntnis, dass der Weg dahin seine Narben hinterlässt, aber letztlich zur Befreiung und eigenen Identität führt.
Desiati lässt sich Zeit, den Irrungen und Wirrungen der Liebe und der damit verbundenen Selbstfindung zu folgen, zeigt, dass »coming of age« oft ein jahrzehntelanger Prozess der Leugnung, des Nichtwahrhabenwollens ist, viel Mut erfordert, auch Rückschläge und Verletzungen auszuhalten. Ich muss zugeben, dass er mich in der Mitte kurzzeitig verloren hatte, weil ich nicht verstand, wohin die Reise gehen soll. Nach einer Pause und einigen Recherchen bekam ich tatsächlich einen anderen Blick auf die Geschichte, begann nochmal von vorn und konnte ihm endlich mit Begeisterung folgen. Vielleicht waren es die Bezüge zu den mir unbekannten italienischen Autoren und apulischen Bräuchen, die er (hat man sie erstmal verstanden) in großartige Bilder verpackt, wie zum Beispiel den Biss der Tarantel.
Das Anderssein zieht sich als roter Faden durch den Roman, über die 25 Jahre, die wir die beiden begleiten. Immer wieder sind es die Erwartungshaltungen anderer, an denen man scheitert, zumindest in ihren Augen. Sich von der Meinung anderer unabhängig zu machen, zu akzeptieren, dass man ein Spatriato ist, bedeutet letztlich Befreiung und ändert vielleicht auch den Blick auf all jene, die in unseren Augen »anders« sind, um ihnen mit mehr Toleranz zu begegnen.

»Es ist äußerst schmerzhaft, sein ganzes Leben lang nicht man selbst zu sein.« S.100

Es geht aber auch um Heimat, Herkunft und Zugehörigkeit. Dass man sich davon nie ganz befreien kann. »Unsere Himmel packen einen mit ihren verdammten scharfen Krallen, man kommt nicht ohne Kratzer von ihnen los.« S.66
Letztlich tun sich Welten auf zwischen dem kosmopolitischen Berlin mit seiner grenzenlosen sexuellen Freizügigkeit und dem provinziellen, miefigen Apulien, in denen Francesco einen Kompromiss finden, sich arrangieren muss.

»Unsere Herkunft haftet an uns wie ein riesiges Muttermal, du kannst es so sehr bedecken, wie du willst, es bleibt doch immer da.«

Nicht immer ein leichtes Stück Literatur, dass aber am Ende überzeugt hat. Desiati erhielt dafür 2022 den renommierten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. Übersetzt von Martin Hallmannsecker.

Bewertung vom 22.09.2024
Moosflüstern
Schmidt, Joachim B.

Moosflüstern


gut

In der Familie Lieber verdrängt man gern unangenehme Themen, vor allem solche aus der Vergangenheit. Und so ist es kein Wunder, dass Heinrich erst mit 40 erfährt, dass seine leibliche Mutter kürzlich verstorben ist, und zwar in Island. Scheinbar gelassen nimmt Heinrich zunächst die Neuigkeiten auf, auch dass er noch eine Tante in Paris hat, hieß es doch immer, seine Familie sei verstorben. Doch das beschauliche, biedere Leben des korrekten Bauingenieurs aus Graubünden wird in den nächsten Wochen gehörig auf den Kopf gestellt. Nicht nur seine Karriere erleidet Schaden durch einen folgenschweren Fehler seinerseits. Und so nutzt Heinrich die Gunst der Stunde und reist nach Paris zu seiner Tante, um mehr über seine Mutter zu erfahren. Anschließend fliegt er nach Island, um ihr Grab zu besuchen, nichtsahnend, dass diese Reise zu einem Abenteuer werden wird.

20 Jahre nachdem Schmidt mit dem Schreiben begonnen hatte, erschien nun Moosflüstern im Diogenes Verlag. (2017 erstmals im Landverlag.) Die Geschichte hat einen wahren historischen Hintergrund und geht zurück zur Nachkriegszeit, als es in Island an Frauen mangelte und dringend Arbeitskräfte gebraucht wurden. 1949 wurden vom isländischen Bauernverband per Anzeige in Deutschland »Dienstmädchen für Landhaushalte« gesucht. »Bauer sucht Frau« in einer frühen Ausgabe sozusagen. Rund 200 Frauen kamen damals mit der MS »Esja« in Island an.
Im Roman ist auch Anna, Heinrichs Mutter, auf dem Schiff, die von ihrem entbehrungsreichen, anstrengenden Leben in der neuen Heimat, der harten, nicht enden wollenden Arbeit auf dem Hof berichtet und dem wahren Grund, warum sie ihre Familie damals verlassen hat. Vorbild für Anna war Ursula von Balszun, deren Geschichte in einem kurzen Nachwort erzählt wird.
Hauptsächlich folgen wir aber Heinrich auf seinem Roadtrip, der ihn ordentlich verändern soll.

Ich muss zugeben, ich hatte so meine Schwierigkeiten mit dem biederen, überkorrekten Spießer Heinrich mit seiner Modelleisenbahn im Keller. Auch seine Entwicklung, die er im Laufe seiner Reise durchmacht, erschien mir nicht immer glaubwürdig, eher etwas drüber. Um so mehr gefielen mir die Passagen, in denen seine Mutter zu Wort kommt. Davon hätte ich mir inhaltlich mehr gewünscht. Dass Schmidt erzählen kann, wissen wir spätestens seit Kalmann. Auch hier blitzt gelegentlich sein unverkennbarer Humor durch, den ich in seinen späteren Büchern so mochte. Unverkennbar auch sein Talent, uns als Leser*innen die raue, gewaltige Landschaft Island zu zeigen, der hier im Buch am Ende eine besondere Rolle zukommt. Ob man allerdings das Ende mag, ist wohl Geschmacksache.
Ich kann sehr gut verstehen, dass Schmidt neugierig war, als er zum ersten Mal von den »Esja-Frauen« erfahren hat. Die teils dramatischen Schicksale, die diese Frauen damals veranlasste, ihre Heimat zu verlassen, hat Schmidt erzählerisch gut und eindrücklich verpackt.

Bewertung vom 21.09.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Wütend, eindringlich, poetisch
»Wir sind ein Alptraum. Ich weiß nur nicht wessen.«

… lese ich hinten auf dem Einband und muss schlucken. Ein Satz, der umhaut, genau wie die Geschichte zwischen den Buchdeckeln.

Rezas Leben in der Plattenbausiedlung ist ein Alptraum. Geprägt von Gewalt, Diskriminierung und Kriminalität. Er war 9, als er mit seinen Eltern aus dem Iran floh und nun in den 90ern versucht, seinen Platz in einer fremden Gesellschaft zu finden, irgendwo zwischen Kinderbanden, Kleinkriminellen und Dealern, wovon seine Eltern kaum etwas mitbekommen. Beide sind Akademiker, ihre Abschlüsse werden aber nicht anerkannt. Auch wenn sein Vater nun Taxi fährt, hält er an seinen Werten, seinem Stolz fest. Doch was helfen Reza Werte, wenn er jeden Tag auf der Straße um Anerkennung kämpfen muss, sich durchsetzen muss. Hier herrscht das Gesetz des Stärkeren, wenige gewinnen, die meisten verlieren. Manchmal auch ihr Leben.

In kurzen Episoden aber mit sprachgewaltiger Poesie in seinen direkten Worten schreibt Karim Kahni von der Suche nach Heimat, von Chancenlosigkeit, von Erniedrigung und Wut. Sehr viel Wut! Wut auf ein ganzes Land, in dem es keinen Platz gibt für Menschen wie Reza und seine Familie. Keine Zukunft – einst sozialer Wohnungsbau, jetzt Endstation für die meisten. Die Realität hat ihnen die Flügel gestutzt, sie ziehen nicht mehr weiter, suchen nicht mehr nach einem besseren Dasein, dümpeln genau wie die Schwäne im Teich vor sich hin. Nichts ist geblieben von den stolzen Zugvögeln seiner einstigen Heimat.

Dass sich Reza vielleicht auch dank seiner Bildung aus dem Milieu befreien kann, wird deutlich, wenn man sich die Biografie des Autors betrachtet, denn das Buch trägt einige autobiografische Züge. Doch er wird ein Heimatloser bleiben, auf der Suche nach sich selbst, der sein Trauma in Therapien verarbeiten lernt.

Es ist ein unbequemes Buch, das uns den Spiegel vorhält. Von wegen Willkommenskultur! »Wo »Du bist Gast hier!« eine Drohung ist …«, schreibt Karim Khani. Kalt, unfreundlich und herzlos. Nur nicht hinschauen, wenn wir die unterschiedlichsten Kulturen in Ghettos zusammenstecken – Hauptsache, sie bleiben da, wo sie sind. Ich kann seine Wut nicht nur verstehen, ich kann sie auch fühlen. Und in meinem Kopf läuft in Endlosschleife »Bochum«, in dem sich die Ruhrpottler für ihren Zusammenhalt und ihre Menschlichkeit feiern. »Du Blume im Revier« … Ob Menschen wie Reza die Hymne mitgrölen würden?

Fazit: Ein Buch, das alles auf den Punkt bringt, kraftvoll, schonungslos und doch mit poetischen Worten und Bildern. Das das typische Leben in der Diaspora zeigt, Wut begreifbar macht. Das zeigt, dass Integration nicht nur von einer Seite ausgeht. Ein Heimatbuch eines Heimatlosen, wie er selbst sagt.

Ich bedaure, dass ich »Hund, Wolf, Schakal« noch nicht gelesen habe, werde das aber umgehend nachholen. »Als wir Schwäne waren« ist definitiv ein Highlight für mich.