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Top-Rezensenten Übersicht

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angie99
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dawo

Bewertungen

Insgesamt 48 Bewertungen
Bewertung vom 24.03.2025
Pearly Everlasting
Armstrong, Tammy

Pearly Everlasting


sehr gut

Pearly Everlasting wächst fernab der Zivilisation in einem Holzfällercamp auf, umgeben von rauer Natur, raubeinigen Waldarbeitern und einer liebevollen Familie; am tiefsten verbunden fühlt sie sich mit ihrem Bruder Bruno: einem Schwarzbären, den ihre Mutter mit ihr zusammen an der Brust aufgezogen hat.
Ausgerechnet dieser Part – das an einer Frauenbrust gestillte Bärenbaby – ist der historische Aufhänger dieser Geschichte, die in den Kanadischen Wäldern spielt: ein Fotograf hat 1903 ein Bild davon geknipst. Die restliche Story hat die Autorin Tammy Armstrong drum herum erfunden.
Sie tut dies auf eine unglaublich einfühlsame, lebendige und bildhafte Weise. Man wird als Leser tief in den kanadischen Wald versetzt, fühlt den kalten Wind im Gesicht und den Schnee unter den Schuhen, hört das Knacken von Ästen und die mysteriösen Geschichten der Holzfäller, riecht feuchte Kleidung, Feuer, Eintöpfe, Baumharz, hält den Atem an bei solchen Beschreibungen: „Ich wollte gerade etwas Gemeines rufen, als Bruno sich auf die Hinterbeine stellte und schnupperte. Ich stellte mir vor, wie Gerüche um seinen mächtigen Leib strichen: Pferde in fernen Ställen, nierenkrank vom Schwarzwasser, mithilfe von Spucke eingefädeltes Garn, der Lauf eines Windhundes mit einem Eschensplint, Hühner, die an ihren Läusen pickten, Hitze um eine menschliche Lüge.“ (S. 64) „Etwas Großes schwamm vorbei, uralt, sein rechtmäßiger Platz der in der trüben Unterwelt. Ein Kettenhecht mit dorniger Schnauze und rauer Haut, der aus nichts als Muskeln und Mysterium und lang gehüteten Geheimnissen bestand.“ (S. 186) Das ist Nature-Writing as its best.
Als Pearly auf der Suche nach Bruno die Wälder verlässt und gezwungenermaßen in einer Siedlung landet, verlagert sich die Story mehr in den menschlichen Bereich und versucht, eine Dorfgesellschaft abzubilden. Ich hatte irgendwie den Eindruck, einen in kältere Gefilde verfrachteten Wildwest-Roman zu lesen: mit den hartgesottenen, bärbeißigen Kerlen, die oft mehr mit Tieren als mit Mitmenschen anfangen können, aber in den wichtigsten Augenblicken natürlich doch zusammenhalten und ihren weichen Kern zeigen; mit Großmäulern, die aus diesen hart arbeitenden Männern Profit schlagen wollen; mit gemeinen Querschlägern und halbseidenen Predigern; mit Großmut und Gefahr und Gewalt; und mit den Frauen dazwischen, die auf ihre eigenen Weise mit den Herausforderungen eines solchen Alltags umgehen.
Tatsächlich sind es die starken Frauenrollen, die hier besonders positiv herausstechen. Die Männerfiguren sind bis auf wenige Ausnahmen ziemlich klischeehaft geraten. Und auch Pearly wirkt – so gern man ihrer Reise und ihren blumigen Gedanken auch folgt – immer wieder arg naiv für einen so willensstark ihren Bruderbären verteidigenden Teenager.
Darüber könnte man problemlos hinwegsehen, weil einen die abenteuerliche Geschichte um das Mädchen und den Bären so komplett aufsaugt.
Allerdings kommt es zu einem aufgeblasen dramatischen Showdown, der nicht mehr richtig zum poetisch-bedächtigen Beginn passen will, sondern einfach die gegebenen Klischees zu einem vorhersehbaren Happy End verpackt. Hier hat die Autorin leider ihre überzeugende schriftstellerische Stärke an Hollywood verspielt.
Dennoch: sehr lesenswert, wenn man sich literarisch auf die Schönheiten und Gefahren einer unwirtlichen Gegend und ihrer Bewohner einlassen will. Grandios übersetzt von Peter Torberg.

Bewertung vom 24.03.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

„Vielleicht gibt es auch eine Sprache mit einem Wort für Stille, nachdem man ausgeatmet hat…

Katharina Hagena hat abgeliefert. Ihr neues Werk ist mit 400 Seiten umfangreicher, gewichtiger als ihre bisherigen. Das schlägt sich auch im Text nieder. Er wirkt geschwätziger und ausformulierter als ihre früheren Romane, die etwas Hingetupftes hatten, etwas Flirrendes, was sich erst oft gegen Ende zu einem Bild zusammenfügte.
In anderem ist sich die Bestsellerautorin treu geblieben. „Flusslinien“ handelt grob von Menschen verschiedener Generationen, von Familiengeschichten und langgehüteten Geheimnissen. Dieses „man nehme ein Geheimnis und decke es erst am Ende auf“-Konzept wirkt leider etwas ausgelutscht und konnte mich in der Auflösung auch nicht wirklich abholen.
Dafür überzeugt Hagena in anderen thematischen Bereichen. Sie beschreibt eindrücklich die Natur in und an der Elbe – und damit auch die Veränderungen, die mit der Fahrrinnenvertiefung einhergehen. Und sie greift die sensible Problematik auf, wie mit Opfer von Vergewaltigungen gegangen wird - wie bei der jungen Luzie, der Enkelin der 102jährigen Margrit. Wie diese nicht nur unter einem seelischen Trauma, sondern auch unter Verniedlichung, Abwertung und sogar Spott zu leiden haben. Diese Passagen sind eindringlicher, als es so manche Aufklärungsschrift schafft. „Er (der Täter) fühlt sich wahrscheinlich immer noch missverstanden. Ein Opfer. Genau wie all die anderen Opfer feministischer Verschwörungen. (…) Praktischerweise kann er sich wegen des Alkohols sowieso an fast gar nichts erinnern. Glück gehabt. (…) Hat übrigens die Frau getrunken, hurra, wieder Glück für den Täter: Dann ist sie erstens willenlos und zweitens ihre Aussage hinterher unzuverlässig. Cheers.“ (S. 67)
Der Grund, warum ich prinzipiell jeden Roman von Katharina Hagena lese, liegt aber sowieso in ihrem Schreibstil – und auch daran hat sich glücklicherweise nichts geändert. Sie ist und bleibt für mich eine der Großen, was Erzählkunst angeht. Sie nimmt mich ein mit ihren feinen, detailverliebten Beobachtungen von Natur und Menschen, mit erlesenen und sinnlichen Sprachbildern, mit dem fortwährenden Spiel von Bedeutungen und Klängen von Wörtern. „Der Strand ist heute besonders schlickig, aber vielleicht kommt es ihm nur so vor, weil der Schlick wegen der Wärme so stark riecht. Er kann nicht sagen, dass es stinkt, denn er mag den Geruch von nassem Sand und fauligen Pflanzen. (…) Schlick, Schlacke, Schlucken. Schlucken und Schluchzen war einst dasselbe Wort, die alten Sprachen sind so weise.“ (S. 121) Auch mit den skurillen Eigenheiten ihrer Charaktere und dem freundlichen Humor: „Besser, sie fragt Arthur. Der hält dann sein Telefon an die Blätter und Früchte des Baums, und die Kamera schickt die Bilder weiter an einen jungen Mann, den Arthur Pflanzenerkennungssepp nennt, und der schreibt Arthur zurück, wie der Baum heißt.“ (S. 148)
Flusslinien zeichnet die Lebenslinien von Menschen am Ufer der Elbe nach. Im Mittelpunkt stehen drei von ihnen, doch auch ihre Vorfahren, ihre Vergangenheiten und ihre Begleiter nehmen wichtige Rollen in dieser Erzählung ein.
Leben, die mal schneller und bewegter, mal wieder gemächlicher dahinfließen.
Die Handlung dieser Lebensgeschichten mit ihren – aus meiner Sicht oft arg melodramatischen, schicksalshaften – Wendungen, hat mich nicht gänzlich abgeholt.
Ein Genuss war das Lesen dank der sprachlichen Feinheiten trotzdem.
… Oder für die Stille, nachdem eine Geschichte zu Ende ist.“ (S. 7)

Bewertung vom 11.03.2025
Lyneham
Westerboer, Nils

Lyneham


sehr gut

„Lyneham“ punktet mit Spannung, faszinierendem Worldbuilding, einem durchdachten Aufbau und nahbaren Charakteren. Es ist gefälliger zu lesen als sein komplexer Vorgänger „Athos 2643“ und versteht es vorzüglich, eine abenteuerliche Neu-Besiedlung-im-Weltall-Story mit philosophischen Fragen zu verknüpfen. Leider werden aufgeworfene Fragen nicht konsequent weiterverfolgt und das Ende misslingt in meinen Augen komplett.

Bewertung vom 25.02.2025
Der große Riss (eBook, ePUB)
Henríquez, Cristina

Der große Riss (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Kontinent soll getrennt werden, damit die Schiffe passieren können: wenn das mal kein großer Riss ist! Der Plan, den Panamakanal zu bauen, ist irrwitzig und wird doch Anfang des letzten Jahrhunderts Wirklichkeit. Vor dieser historisch denkwürdigen Kulisse hat Cristina Henríquez ihren Roman aufgebaut.
Das Wort Kulisse ist hier jedoch ernst gemeint. Denn um den eigentlichen Bau des Kanals geht es hier nur indirekt. Der historische Hintergrund ist zwar präsent, steht aber nicht im Mittelpunkt des Interesses.
Die Autorin widmet sich vielmehr den Menschen, die 1907 in Panama ankommen, in Panama leben, in Panama arbeiten. Empathisch und lebendig beschreibt sie ihre Herkunft, ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen, ihre Familien, ihren Alltag.
Da gibt es Ada, die von Barbados nach Panama flieht, um Geld zu verdienen. Marian Oswald, studierte Botanikerin und ihren Mann John, der die Malaria ausrotten will. Den Fischer Francisco, der seinen Sohn Omar alleine aufzieht. Valentina, die ins Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt, um gegen den geplanten Staudamm zu protestieren. Aber noch einige weitere Angehörige, Bekanntschaften oder Vorgesetzte dieser Figuren kommen zu Wort.
Henriquez schafft es, an diesen fiktiven Figuren beispielhaft zu zeigen, dass sich der große Riss nicht nur durch die Landschaft, sondern durch die gesellschaftlichen Strukturen zieht. Weiße und Farbige, Männer und Frauen, Einheimische und Einwanderer, Arme und Reiche leben sozusagen auf zwei verschiedenen Kontinenten.
Trotz der beeindruckenden Anzahl an Menschen, die man bei der Lektüre kennenlernt, ist es leicht, sie zu unterscheiden; überhaupt liest sich dieses Buch sehr flüssig, die Sprache hat keinen großen literarischen Anspruch, ist aber durchwegs bildhaft und eloquent.

Fazit: „Der große Riss“ ist ein toller Schmöker mit eindrücklich viel Personal, das sich dank des angenehmen Schreibstils rasch und mühelos lesen lässt. Leider geht der historische Kontext in der Masse an Familiengeschichte etwas unter, aber in vielen interessanten Details scheint eine gute Portion Gesellschaftskritik durch.

Bewertung vom 24.02.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


sehr gut

Als „Liebesroman des Jahres“ wird Takis Würgers neuestes Werk beworben – aber ein klassischer Liebesroman mit viel Romantik und Zuckerguss ist „Für Polina“ nicht. (Denn sonst hätte ich als notorische Liebesromanverweigerin es gar nicht erst gelesen…!)

Das Buch widmet sich im ersten Drittel ganz Hannes Pragers Kindheit, die eng mit Polina zusammenhängt, und präsentiert uns eine Handvoll liebevoll-knorriger Figuren, die man trotz oder gerade wegen ihrer Absonderlichkeiten schnell ins Herz schließt. In der darauffolgenden Phase des jungen Erwachsenenalters lernt man weitere Menschen kennen, die unheimlich originell und lebendig gezeichnet sind, gleichzeitig tauchen aber auch die alten Bekannten immer wieder auf – ein Kniff, der einen munter bei der Stange hält, weil man sich natürlich ständig fragt, was denn nun in der Zwischenzeit mit X und Y passiert ist?!
Wobei dieser Trick gar nicht so nötig wäre, denn schon nach wenigen Seiten entfaltet die Geschichte um Hannes einen unheimlichen Lesesog, der es einem echt schwer macht, das Buch aus der Hand zu legen!

Ganz wundervoll ist Takis Würgers Sprache. Die Sätze sind kurz und prägnant, und es gibt Ausdrücke wie „Sirupfarbe“ und „Honiglicht“, sowie Haare, „die schimmerten, als wären sie mit blauer Winternacht gefüllt“ (S. 63)

Was mir etwas weniger gefallen hat, ist die Geschichte an sich. So alltagsnah die Personen eigentlich gezeichnet sind, so klischee- bis sogar märchenhaft fallen ihre Handlungen und Entwicklungen oft aus. Die im Klappentext angeteaserte Suche mithilfe einer Melodie findet in dieser Form nicht statt. Außerdem fehlt eine tiefere Auseinandersetzung mit der komplizierten Lage, in der sich Hannes und Polina befinden (welche, sei hier aus Spoilergründen nicht genannt).
Überhaupt kommt man den Charakteren nicht allzu nahe, und manche Nebenfiguren, die es eigentlich verdient hätten (Stichwort: Bosch), bekommen zu wenig Platz neben dem ach so begabten Hannes und der ach so quirligen Polina zugewiesen.
Stattdessen gibt es ein abruptes, glattes und damit irgendwie unfertig wirkendes Ende. Ich bleibe auch bezüglich einer Aussage, die mir dieser Roman vermitteln soll, unschlüssig zurück.

Fazit: Wer es nicht so genau nimmt mit einer sinnvollen Handlung und einer konkreten Botschaft, kann mit diesem unromantischen Liebesroman ein paar schöne Lesestunden verbringen.

Bewertung vom 11.11.2024
Was ist ein Mensch?
Göhlich, Susanne

Was ist ein Mensch?


sehr gut

Meine Tochter (6 Jahre) wusste schon beim Anblick des Covers: „Dieses Buch will ich lesen, Mama!“ (wobei das korrekterweise heißen müsste: „will ich vorgelesen haben“…) Denn nichts interessiert sie aktuell so sehr wie der menschliche Körper. Ich wiederum war mit dieser Wahl sehr glücklich, da es sich zur Abwechslung mal nicht um „Trinken-Essen-Pipi-Kacka“ oder „Viren-Wunden-Blutkörperchen“ handelt. Nein, ums Gehirn geht es hier. Was da drin los ist, wenn wir schlafen, zum Beispiel. Also: Dinge, die mir selber nicht geläufig sind.
Der Einstieg in das Buch ist nicht ganz einfach. Wir haben da Poldi, einen wirklich goldig gezeichneten Goldhamster, der merkt, dass sein Frauchen anders ist als er, weil Maya ein Mensch ist, sich diese Unterschiede aber nicht richtig erklären kann. Zum Glück kann das Maya. Was allerdings erst im Laufe des Buches klar wird: Maya ist nicht (wie erwartet) ein Mädchen im Alter der Zielgruppe, sondern ein erwachsener Mensch. Mit einem erwachsenen Vokabular, das viele Fremdwörter enthält, die Poldi liebt und sie deshalb in seinen Hamsterbacken, äh, einem Glossar sammelt. Eine tolle Idee für Kinder, die Fremdwörter mögen (was bei meiner Tochter tatsächlich der Fall ist) und für Eltern, die es selber nicht so genau wissen. Trotz dieser prinzipiell guten Idee muss man sich sowohl als kleine wie auch als große (vorlesende) Person erst mal in diesen ganzen Gegebenheiten zurechtfinden.
Danach entfalten sich mehrere Kapitel, die sich um jeweils ein Thema – nach dem Schlaf z. B. Gefühle, Kreativität und Sozialverhalten – drehen und neben dem Fließtext (indem Poldi und Maya sich austauschen) auch jede Menge Kästchen mit sachlichen Erklärungen bereithalten. Jede Doppelseite ist dabei ein Kunstwerk für sich, bei dem es sich lohnt, längere Zeit zu verweilen. Die verschiedenen Illustrationen sind sowohl aus ästhetischer wie auch aus informativer Sicht sehr gelungen. Der Text steht dem in nichts nach: die Hamster-Mensch-Dialoge haben einen liebevollen, witzigen Grundton und sind gespickt mit Wortspielen.
Doch obwohl dieses Buch unglaublich hochwertig gedacht und gemacht ist, bemerkte ich, dass meine Tochter bald ihr sonst so übersprudelndes Interesse an ihm verlor. Und obwohl sie den Grund nicht benennen kann, denke ich, dass es an der fast nicht fassbaren Dichte an Informationen liegt. Besonders in den Momenten, in denen Poldi in den Hintergrund rückt und sich ein Kästchen mit fachlichen Erklärungen ans nächste reiht. Da muss nicht nur unheimlich viel Wissen verarbeitet werden, sondern es fehlt auch der rote Faden. Sogar ich habe mich ab und zu gefragt: „… ähm, und wozu jetzt diese Info? – Moment mal: Um was geht es jetzt eigentlich in diesem Buch nochmals?!“ Die Titelfrage: „Was ist ein Mensch?“ finde ich jedenfalls nicht ganz glücklich gewählt, denn dieser Aspekt geht irgendwann in einem Haufen – aus meiner Sicht ziemlich willkürlich gewählten – Themen unter.
Das hört sich nach vielen Kritikpunkten an, doch ich würde dieses Buch trotzdem wärmstens weiterempfehlen, wenn auch einer etwas älteren Zielgruppe. Es ist wunderbar anzuschauen und toll zu lesen, es ist originell, es greift viele Dinge auf, die sonst nicht in Kinderbüchern zu finden sind, es wird auch beim zweiten, dritten (und x-ten) Durchgang nicht langweilig. Aufgrund (früherer) Erfahrungen mit hochbegabten Kindern kann ich mir gut vorstellen, dass es bei ihnen besonderen Anklang finden würde / wird.

Bewertung vom 10.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


gut

Drehbuchschreiberin Durga fällt in London durch die Zeit und findet sich 1906 als Sanjeev in India House wieder – in einer WG voller Revolutionäre, die diskutieren, ob der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt ist, um Indien von seiner Kolonialmacht zu befreien. Während Durga und ihre Zeitreise natürlich eine rein fiktive ist (die Idee dahinter ist grandios!), hat es India House und ihre Bewohner tatsächlich gegeben.
Mithu Sanyal versteht es, hier ein Kapitel unbekannte Geschichte freizulegen und für unsere mitteleuropäische Horizonte zugänglich zu machen, indem sie es mit der Familiengeschichte einer Halb-Deutsch-halb-Inderin und den woken Versuchen der Entkolonialisierung einer Schriftsteller-Gruppe in der Gegenwart verbindet.
Allerdings wird das anfänglich hohe Erzähltempo nach der ersten Zeitreise (Dr. Who grüßt durch die Seiten) extrem gedrosselt. Die Autorin konzentriert sich über (viel zu) viele Seiten darauf, in sprunghaften Dialogen, gespickt mit wikipediaartigen Erklär-Einwürfen, die politischen und ideellen Ansichten der einzelnen Persönlichkeiten darzulegen.
Dieses Name-und-Ereignis-Dropping wirkt sowohl überfordernd, als auch extrem ermüdend. Dazu entgleitet einem bei der hohen Zahl an Figuren irgendwann der Überblick, wer jetzt wer ist, zumal keine von ihnen wirklich Charakter zeigen kann, sondern mehr als Stichwortgeber funktionieren muss.
Erst im letzten Drittel kommt dann – mit einem „richtigen“ Locked-Room-Kriminalfall – noch etwas Schwung in die Story, kann die extremen Längen im Mittelteil aber nicht mehr wett machen. Denn es bleibt beim Eindruck, dass die Fragestellungen und Verknüpfungen zwar interessant zu verfolgen wären, aber mehr oder weniger nur angesprochen werden, um dann wieder in der Versenkung eines überstilisierten Textes unterzugehen.
Fazit: tolle Grundidee, hinter der viel Recherchearbeit steckt und einige witzige Seitenhiebe, aber hohle Figurenzeichnung, zu wenig Tiefe und zu viele unwichtige Nebenschauplätze.

Bewertung vom 08.09.2024
Soul Talk
Vogelsang, Lilia

Soul Talk


gut

Erwartung
Als Gesprächs-Nulpe erwarte ich praktische Anregungen, wie ein Austausch durch gezieltes Fragen schnell(er) in die Tiefe führen kann.

Erster Eindruck
Ansprechendes Layout, übersichtliche Struktur, leicht zugängliche Sprache, gut dosiert mit Humor, Selbstironie, eigenen Erlebnissen und wissenschaftlichen Studien gewürzt.

Nähere Betrachtung
Die Kapitelüberschriften lassen mich das erste Mal stutzen: Small Talk, Eltern, Mentorin und Mentor, Dating, Freunde, Arbeit, Geschwister, Autofahren, Großeltern, Netzwerk, Partnerschaft, Sinn, Deep Talk. Erstens ist dieser Aufbau nicht logisch, sondern eher wild durcheinandergerührt. Zweitens merke ich: huch, Mentoren – hab ich nicht. Netzwerk – hab ich nicht. Großeltern – hab ich nicht mehr. Aber: wo sind die Kinder geblieben?! Kurzum: ich (als mittelalterliche Mutti mit wenig Karriereambitionen) gehöre nicht zur Zielgruppe.
Small Talk: kein unnützes Gerede, sondern die erste Treppenstufe runter in den Deep Talk, was die Autorin nachvollziehbar erklärt. Hier hätte ich mir aber noch viel differenziertere Ausführungen gewünscht, wie man überhaupt mit jemandem ins Gespräch kommt. Und, wenn ein Anfang gemacht ist, wie es dann weitergeht. Die Autorin schlägt Alternativen zu den Standard-Fragen (Arbeit, Hobbys, Haustier,…) vor, z.B.: „Welches nichtmenschliche Wesen ist dir am wichtigsten?“ (S. 32) Leider finde ich diese Umformulierungen nicht wirklich sinnvoll. Auf die Fragen „Wenn du dein Leben lang nur noch ein Musikstück hören / ein bestimmtes Gericht essen dürftest“ wüsste ich selber nicht, was ich antworten sollte und das Gespräch käme tendenziell eher zum Erliegen denn in Schwung.
Dafür werde ich in den Kapiteln Netzwerk und Autofahren fündig, was witzige bzw. ungewöhnliche Eingangsfragen angeht. Ich freue mich von Herzen darauf, mit jemandem darüber spekulieren zu dürfen: „Was, glaubst du, ist das Verrückteste, was je in diesem Raum passiert ist?“ (S. 158)
Eltern / Großeltern / Geschwister: Hier wird es ernst, sehr persönlich und wirklich ganz, ganz tief. Soul Talk vom Feinsten, auch wenn man mit der einen oder anderen Antwort rechnen muss, die einem vielleicht nicht so gefällt.
Sinn: Es erscheint sinn-voll, sich auch selber ab und zu Fragen zu stellen! Vor allem solche, denen wir gerne ausweichen… Gute Idee!
Fragen generell: Einige hören sich so kompliziert an, dass ich fürchte, als erste Antwort nur ein „hä?!“ zu bekommen.
Meine Liste mit Must-Asks fällt nach beendeter Lektüre nicht gerade sehr lang aus. Meine Erwartungen wurden in dieser Hinsicht nicht komplett erfüllt.
Trotzdem bleibt auch etwas hängen: Inspiration für eigene Fragen. Ein Gefühl dafür, was weiterführende, tiefgehende Fragen abseits ausgetretener Pfade ausmacht. Und vor allem: die Motivation, sich überhaupt ans Fragen zu getrauen!

Fazit
Keine „Gebrauchsanweisung“ mit Erfolgsgarantie, aber ein inspirierender, flott geschriebener Ratgeber. Am besten für junge, aufstrebende, kinderlose Menschen geeignet.

Bewertung vom 03.09.2024
Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1
Douaihy, Margot

Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1


gut

Schwester Holiday ist ein schriller und prägnanter Charakter, der es in sich hat. Ausgestattet mit einer wilden, queeren und vorbelasteten Vergangenheit wurde sie vor einem Jahr von den drei „Schwestern vom Erhabenen Blut“ aufgenommen, einem kleinen Konvent in New Orleans, wo sie seither als Gitarrenlehrerin an der katholischen Schule arbeitet.
Als es in der Schule ein Brand ausbricht, bei dem einer der Hausmeister sein Leben lässt, sieht Schwester Holiday sich dazu verpflichtet, selbst Ermittlungen anzustellen. – Tja, und wenn wir schon bei „anstellen“ sind, sie stellt sich dabei nicht allzu geschickt oder clever an.
Allerdings ist dieses Auf-der-Stelle-treten auch dem Fall an sich geschuldet: die herbeigerufenen Polizei stellt sich dümmer an als die Polizei erlaubt, verdächtig sind prinzipiell alle und damit wiederum niemand, es gibt so gut wie keine Hinweise oder Spuren (außer einem Handschuh, den man nicht ernst nehmen kann) und Motive schon gleich gar nicht, dafür irgendwann einen zweiten und dritten Brand, bei dem es genauso wenig nachzuforschen gibt.
Auf dieser Ebene ist dieses als Krimi bezeichnete Buch deshalb ein wahrer Reinfall. Es macht einfach keinen Spaß, sogenannte Ermittlungen zu verfolgen, die nicht die leisesten Ergebnisse liefern und einen nicht wenigstens ein bisschen mitraten lassen. Selbstredend ist denn auch die Auflösung arg platt geraten und viel mehr Bruder Zufall als Schwester Holidays Spürsinn zu verdanken.

Dann der Schreibstil, auch der ist gewöhnungsbedürftig. Anfangs sehr wortgewaltig, doch mitunter mit eher seltsam aufgeblasen oder verknotet wirkendenden Sätzen, was allerdings auch an einer nicht so gelungenen Übersetzung liegen kann.
Schön atmosphärisch eingefangen sind die Beschreibungen der Stadt New Orleans und die allzeit herrschende Hitze, die sogar dann herrscht, wenn es mal nicht brennt.
Außerdem ist die Figurenzeichnung einiger doch etwas spezieller Charaktere gut geraten, das schlägt sich in einigen bissigen und witzigen Dialogen nieder.

Überraschend tiefgründig ist die Hauptperson Schwester Holiday angelegt. Ich hatte ehrlich gesagt mit einem Abklatsch von „Sister Act“ gerechnet, doch im Gegensatz zu Deloris ist sie ganz freiwillig ins Kloster eingetreten – und warum, das erfährt man in (teilweise etwas zu ausführlichen) Rückblenden. Mit ihren radikalen und zugleich fundierten Ansichten, wie Kirche mit Feminismus und Queerness zusammengeht, hat sie mich somit eher an das lebende Vorbild Nadia Bolz-Weber erinnert. Natürlich gibt es in einem fiktiven Buch Überspitzungen, aber es sind einige wirklich nachdenkenswerte Ausführungen zu Kirche, Glaube und Spiritualität darunter. Nachhaltig beeindruckt hat mich der Satz: „Wenn Strafe binär ist, ist Vergebung queer…“ (S. 51)
Ich hatte den Eindruck, dass hier auch das eigentliche Interesse der Autorin liegt und dass sie nur um der Publikumswirksamkeit willen einen Krimi geschrieben hat. Schade, dass dieser Schuss nach hinten los ging; mir hat der spannungslose, nicht schlüssige Fall die Lektüre versaut.
Ohne der vielversprechenden Hauptfigur eine Detektivrolle aufnötigen zu wollen, die absolut nicht überzeugt, wäre wahrscheinlich ein besseres Buch draus geworden.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die tolle Aufmachung des Buches: nicht nur ein richtiger Hingucker und sehr passend zur Story, sondern in Echt noch mit Prägung! Sowohl optisch als auch haptisch top und für mich wahrscheinlich DAS Cover 2024!

Bewertung vom 20.08.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


gut

Angeblich begleiten wir in „Am Himmel die Flüsse“ einen Wassertropfen auf seiner wiederkehrenden Reise auf die Erde – ein absolut interessantes Thema, das angesichts sich mehrender Dürren und Starkregenereignissen von großer Aktualität ist.
Dieser Wassertropfen jedoch wird in seine Atome H – H – O zerlegt und auf drei Biographien verteilt: *Narin, Ezidenmädchen, Türkei, 2014 *Arthur, Altertumsforscher, London, Mitte des 19. Jahrhunderts *Zaleekhah, Hydrologin, London, 2018. Dabei schlängelt sich das Element Wasser zwar durch alle drei Geschichten, der erwähnte eine Tropfen taucht allerdings nur sporadisch, willkürlich und ohne tiefere Bedeutung mal hier und mal da auf.
Die drei Protagonisten verbindet dagegen weit mehr als nur ein Wassertropfen. Da sind die Flüsse. Themse und Tigris. Dann Lamassus. Lapislazuli. Gilgamesch. Keilschrift. Riten und Traditionen. Ahnen und Erinnerungen… Die Liste der Berührungspunkte zwischen den Erzählsträngen wird so lang, dass das, was anfangs noch als kunstvoller Aufbau anmutet, irgendwann zur Überkonstruktion kippt. Zwar ist Elif Shafak eine Erzählerin, die ihre Kunst aus dem ff beherrscht. Sie weiß ihre Leserschaft ans Buch zu binden, schreibt flüssig (!) und bildhaft, bringt immer wieder überaus wissenswerte Fakten in ihrer Prosa unter. Doch das, was die Autorin diesmal ihre Figuren und Nebenfiguren erleben und sagen lässt, wirkt nicht mehr lebensecht, sondern vielmehr, als müsse sie einen Katalog abarbeiten.
Dies gilt für die vielen Verbindungen untereinander genauso wie für die verschiedenen Rollen und Bedeutungen, die das Wasser für uns Menschen hat. Das Wasser taucht als Fluss, Regentropfen, Schneeflocke auf, Wasser als Lebensgrundlage, Durstlöscher, Ernährer, Energielieferant, Unfallverursacher, Krankheitsträger, Schmutzbeseitiger, Grab, Archivar, religiöses Symbol, Schatzhüter, Transportweg, Wohnsitz – nichts lässt die Autorin aus, und das ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr bereichernd, sondern ermüdend.
Gleiches passiert auch mit einer Flut an weiteren Themen, die Shafak teilweise krampfhaft bemüht im Text unterbringt – oder sollte ich besser sagen: in ihn hineinstopft?
Symptomatisch wird gegen Ende ein brisantes Thema angeschnitten, das jedoch keinerlei tiefgründigere Auseinandersetzung mehr erfährt, sondern den Roman mit schnellen Schnitten zu einem allzu lieblichen Ende bringt.

„Am Himmel die Flüsse“ basiert auf ausgiebigen Recherchen historischer und zeitgenössischer Quellen. Das ist prima. Und dass die Autorin einige leichte Anpassungen an den historischen Vorbildern vorgenommen hat, die sie im Nachwort auch klar benennt, ist legitim, weil es sich hier ja um ein fiktives Werk und nicht um ein Sachbuch handelt.
Allerdings sind es gerade diese und weitere kleine Realitätsverschiebungen, die die erzählten Geschichten auch so unecht erscheinen lassen. Besonders die Charaktere leiden unter zu geradlinigen Erklärungen und aufgesetzt pathetischen Gesprächen; sie werden nicht greifbar lebendig. Mir waren sie zwar nicht unsympathisch, aber irgendwann einfach egal.
Viele Themen, viele moralische Fingerzeige, viele Fakten und viel Fiktives – all das ist Shafaks neuestes Werk. Weniger wäre wahrscheinlich mehr gewesen.