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angie99
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dawo

Bewertungen

Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2024
Ehemänner
Gramazio, Holly

Ehemänner


ausgezeichnet

Schon die Idee dieses Romanes fand ich unheimlich originell: ein Dachboden, der Ehemänner ausspuckt! Und die Lektüre hat mich nicht enttäuscht!

Das Buch beginnt ganz rasant, gleich auf der ersten Seite wird Lauren mit ihrem ersten Ehemann (von dem sie bis anhin gar nichts wusste), konfrontiert.
Laurens Neugier und ihr unbändiger Wille, den mysteriösen Vorkommnissen auf die Spur zu kommen (und sie zu ihren eigenen Zwecken bestmöglich auszunutzen), hat mir von Anfang Spaß bereitet. Sie hat eine wunderbar selbstironische, anpackende und vorwärtsdenkende Art. Für jede noch so abstruse Situation findet sie eine Lösung – meistens ähnlich abstrus oder sogar noch einen Tick abstruser (darüber kann man natürlich genervt den Kopf schütteln, ich wiederum habe mich einfach köstlich amüsiert).
Außerdem zaubert Debütautorin Holly Gramazio nicht einfach nur einen Ehemann aus dem anderen aus dem Hut und lässt sie nach kürzerer oder längerer Zeit wieder verschwinden, sondern spielt mit der Situation an sich. In wenigen (gut platzierten) Details lassen sich die Auswirkungen von bestimmten, in der Vergangenheit getroffenen Entscheidung nachvollziehen – die Autorin beweist hier einen sehr cleveren und witzigen Umgang mit der skurillen Ausgangslage.
Ideenreich spielt sie die Möglichkeiten durch: Was, wenn sich mit dem Ehemann auch die freund- und nachbarschaftliche Beziehungen ändern – und vielleicht sogar deren Leben? Was, wenn ein „alter“ Ehemann plötzlich in einem neuen Lebensentwurf auftaucht? Was, wenn der neue Ehemann über das seltsame Dachboden-Phänomen mehr weiß, als Lauren recht ist? Was, wenn der Ehemann, der sich als unbrauchbar herausstellt, gar nicht mehr zurück auf den Dachboden will? – Einiges davon ist einfach nur unterhaltsam zu lesen, aber manches gibt auch durchaus Gedankenanstöße, die eigenen Entscheidungen zu hinterfragen. Viele Ehemänner tauchen nur in einem halben Satz auf, weil Lauren sich aufgrund von scheinbaren Nebensächlichkeiten gegen sie entscheidet: doch geht es uns nicht genauso, dass viele Menschen in unseren Leben nur Halbsätze darstellen? Warum eigentlich?!

In meinen Augen „Unterhaltung as its best“, da es neben dem witzigen Plot auch genug Stoff zum Nachdenken gibt. Die Frage „Wie treffe ich Entscheidungen?“ wurde noch selten so kurzweilig beantwortet!

Bewertung vom 20.04.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


gut

Eigentlich wollte ich um diese Neuerscheinung einen Bogen machen. Doch dann war da meine Neugier. Und eine Leseprobe. Und schon hielt ich es dann doch in den Händen.
Denn: Ich liebe Mareike Fallwickls Schreibstil. Er wirkt frisch, unverkrampft und kommt mit starken Bildern daher.
So wurde ich in den ersten Kapiteln von „Und alle so still“, in denen wir Elin, Nuri und Ruth kennenlernen, richtig eingesogen von dieser Wortgewalt und den vielschichtig gezeichneten Charakteren und ich vermutete ein ähnliches Highlight, wie es „Das Licht ist hier viel heller“ für mich gewesen war.

Doch als die eigentliche Handlung einsetzt – Frauen legen sich im stillen Protest auf den Boden – verlor mich das Buch zusehends. Nachdem die Hauptpersonen nämlich noch differenziert eingeführt wurden, übernimmt hier plötzlich Schwarz-Weiß den Stab. Und wie dieses monochrome Bild aussieht, sorgt nicht weiter für Überraschungen: hier die sich aufopfernden, einfühlsamen und solidarisierenden Frauen. Auf der anderen Seite die machtgierigen, gewalttätigen und depperten Männer.
Dass Frauen mehr Care-Arbeit als Mäner leisten, steht außer Frage, und dass diese noch viel mehr gewürdigt gehört, ebenso. Doch ausgehend von dem spannenden Szenario – was passiert, wenn Frauen sich verweigern? – entwickelt Fallwickl eine Dynamik, die ich immer absurder und *sorry for not being sorry* blödsinniger fand.

Diese auf Überspitzung fußenden Entwicklungen lassen für mich auch die Figuren immer unglaubwürdiger erscheinen. Nuri, der genug andere Probleme hätte, wird instant zum Frauen- und Allesversteher. Elin, die in ihrem bisherigen Leben höchstens Self-Care-Arbeit geleistet hat, kämpft für Überzeugungen, die ihre Lebenserfahrungen deutlich überschreiten. Elin funktioniert in meinen Augen nur als Abziehbild für einen weiblichen Körper, der endlich endlich versteht, dass Männer scheiße sind und sie ihr Glück nur bei anderen Frauen finden werden. – Zum Glück der Leserinnen in den hinteren Reihen wird diese Botschaft so laut und deutlich herausposaunt, dass sie auch von ihnen verstanden werden kann. Die Stille finde ich jedenfalls nur im Titel, ansonsten wirkt dieses Buch marktschreierisch auf eine platte und unangenehm aufdringliche Art.
Einzig Ruth überzeugt mich, sowohl als Charakter, als auch in der eindringlich-bedrückend geschilderten Arbeitswelt als Krankenschwester. Doch auch sie löst sich nicht aus eigener Willenskraft aus dem sogenannten System, sie ist einfach nur ein weiteres Opfer davon.

Was mir fehlt, ist das Beispiel einer Frau, die sich durch diese Proteste auf ganz praktische und realitätsnahe Weise aus ihrer „normalen“ häuslichen Care-Arbeit herausschält. Wie sie innere und äußere Widerstände überwindet. Eine, die einen möglichen Weg aufzeigt. In der Theorie dieses Romans müsste es sie geben, denn in diesem Buch ist von „immer mehr Frauen“ die Rede. Doch das Nicht-näher-auf-solche-Frauen-eingehen lässt bei mir den Verdacht aufkommen, dass die Autorin darauf selber keine Antwort weiß: Ist es überhaupt irgendwie möglich, die Arbeit an Kindern, Behinderten, Kranken und Alten einfach so niederzulegen?! Gerade auch im Wissen, dass dann alles vor die Hunde geht?!

„Die Männer haben keine Ahnung, was sie gewinnen könnten, wenn sie mitmachen würden“, sagt Nuri (S. 231) Leider bleibt diese Aussage nicht nur leer, sondern wird eher noch konterkariert, indem Fallwickl mit markigen, scherenschnittartigen Sätzen eine idealisierte Frauensolidarität heraufbeschwört und breitschneisig auf die Männer einhackt.
„Und alle so still“ ist ein bewusst provozierendes Werk, welches – das muss man ihm anrechnen – notwendige Diskussionen zu entfachen vermag. Ob es jedoch auf diese Weise auch anregt, geschlechterübergreifend nach konstruktiven Lösungen suchen (und dieses auch finden werden), das wage ich zu bezweifeln.

Bewertung vom 12.04.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Jimmy ist ein 12jähriger Außenseiter und Sammler von Weltrang (vor allem von Flippos – Plastikkarten, die sich als Gratis-Beigabe in Chipspackungen versteckten und Ende der ´90er Jahre in Belgien und der Niederlande für einen Hype sorgten). Und ein ehrlicher Finder. Denn unehrlich, das war sein Vater, der Geld veruntreut hat und sich dann aus dem Staub gemacht hat, was nun auf ihn zurückfällt.
Eines Tages tritt Tristan in sein Leben – ein gleichaltriger Junge, der mit seinen Eltern und Geschwistern zu Fuß und mit dem Boot aus dem Kosovo nach Belgien geflohen ist - und Jimmy ergreift die einmalige Chance auf einen Freund mit beiden Händen.
Das neue Buch von Lize Spit ist deswegen einerseits die bewegende Geschichte einer Freundschaft. Einer Freundschaft der Gegensätze: hier die ausländische Großfamilie, da das wohlstandsverwahrloste Einzelkind. Der Freundschaft zweier Jungen kurz vor der Pubertät, die sich über sprachlich-kulturelle Grenzen hinwegsetzt und sich mit kleinen Riten (Paprimatsch) und Gesten ihre eigene Welt erschafft, von der Autorin wunderbar empathisch eingefangen.
Es ist aber auch eine Geschichte, die von Flucht und Migration handelt. Eine, die laut Autorin auf wahren Begebenheiten beruht. Und eine, die sich in diesem Buch auf dramatische Weise zuspitzt und – man ahn ahnt es schon auf den ersten Seiten, obwohl es sich mehr um ein Hintergrundbrummen als um greifbare Sätze handelt – in einer Katastrophe endet.
Dieser unheilvollen Dynamik kann man sich kaum entziehen, das 128seitige Buch ist zügig gelesen und endet in einem Knall, der erst mit dem Zuklappen seine Wucht entfaltet, den ich aber in dieser Form auch als arg effekthascherisch empfand.
Mich haben tatsächlich die leisen Töne in diesem Werk am meisten angesprochen.
Jimmy ist der alleinige Erzähler dieser Novelle und man kann sich keinen besseren vorstellen. Zwar lernt man auf diese Weise die Ibrahimis nur aus seiner Sicht kennen, aber Spit baut so viele Beobachtungen, Zwischentöne und Seitenhiebe mit ein, dass sich der Horror ihrer Fluchterlebnisse in Nebensätzen erahnen lässt.
Jimmy mit seinem ehrlichen, goldenen Herzen muss man einfach gernhaben und an etlichen Stellen möchte man ihn drücken, weil er nicht nur sein eigenes Schicksal so tapfer erträgt, sondern auch gewillt ist, das seines Freundes in eine andere Richtung zu drehen. Seine kindliche Naivität und Unvoreingenommenheit sind es, die der ziemlich trocken daherkommenden Sprache das gewisse Etwas verleihen und die Erzählung in dieser Form funktionieren lässt.
Von mir 4,5 Sterne und eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 12.04.2024
Die Hoffnung der Chani Kaufman
Harris, Eve

Die Hoffnung der Chani Kaufman


sehr gut

Die Inhaltsbeschreibung von „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ hatte mir sehr zugesagt, allerdings kannte ich das Vorgängerbuch („Die Hochzeit der Chani Kaufman“) noch nicht und beschloss, zuerst jenes zu lesen: das war die richtige Entscheidung, die ich hiermit nur weiterempfehlen kann!
Denn obwohl „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ auch als Stand-Alone funktioniert, sind sich die beiden Roman vom Stil her so ähnlich, dass gilt: wem der zweite Band gefällt, der wird auch den ersten lesen wollen, und da ist es umgedreht doch sinnvoller!

In beiden Büchern steht die in eine jüdisch-orthodoxe Gemeinde hineingeborene Chani im Mittelpunkt des Geschehens. „Die Hoffnung…“ setzt rund ein Jahr nach der „Hochzeit“ an, was ich schade finde, denn gerade Chanis und Baruchs erste Schritte im Eheleben hin zu der erst noch wachsen müssenden Liebe zueinander hätte ich allzu gerne verfolgt (zumal dies im ersten Buch quasi angeteasert wird). Doch Eve Harris Bücher setzen weniger auf Tiefenpsychologie als mehr auf die Dynamik von Dilemmata und so ist es hier der ausbleibende Kindersegen, der die Geschichte in Gang bringt.
In einem zweiten Erzählstrang verfolgen wir, wie es mit den bereits bekannten Figuren Rivka und Avromi weitergeht. Beide hadern auf ihre Art und Weise mit den starren Vorschriften der Religionsgemeinschaft: die von ihrem Mann getrenntlebende Rivka in London, ihr in Ungnade gefallener Sohn Avromi in einer Jeschiwa in Jerusalem.
Sie alle müssen ihren eigenen Weg durch den Dschungel an jüdischen Traditionen und Riten bzw. daraus hinaus finden und der Autorin gelingt es, diese unterschiedlichen Wege nachvollziehbar aufzuzeigen. Sie spart dabei nicht mit Kritik an einem männergemachten und teilweise absurd wirkenden System, verfällt dabei aber nicht in eine plumpe Schwarz-Weiß-Zeichnung, sondern ringt auch dem Leben in der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft ihre positiven Seiten ab: Stabilität, Zusammenhalt, Lebenssinn, Gastfreundschaft, überschwängliche Feierlichkeiten.
Hier liegt auch genau die Faszination dieser Bücher: wir bekommen einen Blick hinter Türen, die Nichtjuden normalerweise verborgen bleiben. Wir erhalten Einblick in eine Parallelwelt, die geographisch teilweise sehr nah und kulturell doch gefühlte Jahrhunderte weit entfernt liegt.
Die jüdischen Sitten und Eigenheiten fließen so selbstverständlich in den Text ein, dass die kulturelle Schwelle sehr niedrig bleibt, die jiddischen Begriffe werden in einem Glossar erklärt, das man am Ende kaum mehr braucht. Verwundert stellt man an dieser Stelle fest, wie viel man durch diese Lektüre über das Judentum gelernt hat, ohne es zu merken. Denn die „Chani Kaufman“-Bücher sind in erster Linie Unterhaltung und kommen trotz einiger nicht gerade einfacher Themen mit einer bewundernswerten Leichtigkeit daher.
Manches bleibt dadurch – wie bereits angedeutet – etwas oberflächlich: Chani beispielsweise wirkt in diesem Buch blass und streckenweise sogar unsympathisch, mit Baruchs Mutter Mrs Levy gibt es die bereits bekannten und leider ziemlich klischeehaften Zickereien und die Gespräche mit der Heiratsvermittlerin Mrs Gelbman verkommen zu Karikaturen.
Trotzdem überwiegen die positiven Eindrücke einer liebevollen und gleichzeitig lehrreichen Lektüre – falls es irgendwann eine weitere Fortsetzung gäbe, ich würde sie lesen!

Bewertung vom 11.03.2024
wir sind pioniere
Erdmann, Kaleb

wir sind pioniere


ausgezeichnet

keine majuskeln kein punkt kein komma überhaupt keine satzzeichen höchstens mal ein abschnitt
sicher ein prätentiöses ar***h der sowas schreibt und das dann auch noch wir sind pioniere betitelt als wäre er der sprachpionier der neuzeit einer der denkt das sei jetzt literatur nur weil er für sein aufgeblasenes blabla keine satzzeichen verwendet
aber dann lese ich es doch abschnitt für abschnitt seite für seite und wider erwarten bekomme ich es weder mit gähnender inhaltsleere noch mit triefender bedeutungsschwangerheit oder bedeutungsschwangerschaft zu tun sondern nur mit einer profanen menschenschwangerschaft sowas passiert ja mal

sie freut sich in stuttgart und ich in graz aber dann schicke ich doch ein smiley ein ganz normales smiley nicht mit herzaugen oder offenem mund oder großen augen nur ein sympathisch lächelndes smiley ein zufriedenes glückliches von innen erfülltes smiley das große gefühlsausbrüche gar nicht nötig hat wie es ein na ja man könnte sagen gottvertrauen hat ein smiley in der blüte seines lebens das gerade erfahren hat dass es vater werden wird seite 10

ich merke dass dass das mit den pionieren eher ironisch gemeint ist so wie eigentlich das ganze buch und dass es gar nicht mal so prätentiös ist und der autor vielleicht auch gar kein ar***h wobei ich das nicht beurteilen kann weil ich ihn nicht persönlich kenne aber sein buch gefällt mir das kann ich beurteilen
außerdem ist es nun mal so dass ein stream of consciousness ohne satzzeichen mehr streamt als mit
ich streame deshalb mit bruckner von einem eurovision song contest public viewing in graz mit einem zwischenstopp in münchen nach stuttgart und mit vero zu ihrem wochenendlover nach mannheim mit dem sie schluss machen soll oder muss

ich rufe mich zur ordnung ich fange an mit dem zurechtlegen ich leg mir was für keno zurecht zum thema offene beziehung und elternschaft da sind solche wörter wie ruhe und verantwortung und gemeinsamkeit und entscheidung und bald habe ich einen kleinen haufen mit guten wörtern seite 66

dieses buch hat keine satzzeichen aber mehrere haufen gute wörter es ist originell unheimlich witzig und geht nah
nah an grazer sehenswürdigkeiten, mannheimer architekturbesonderheiten und den dorfbrunnen im rewe to go
nah an seine figuren und ihre abgefahren alltäglichen probleme
nah an nidoscreens und vergeigte chancen
nah an versicherungsrechnungen schwerlastregale und die widrigkeiten des erwachsenwerdens
nah an das phänomen deutsche bahn und die unsicherheiten von lebensplänen
nah an lina dina sina oder doch jacques und eine erdrückend unsichere zukunft

interessant wie eine beschissene situation manchmal nur sekunden braucht um sich zu einer katastrophalen situation zu entwickeln denke ich seite 163

fakt ist das lesen hat mir großes vergnügen bereitet das ist wohl dann ein funfact und deshalb 5 sterne

funfact sagt bruckner in meinem kopf er sagt es quasi achtzig mal am tag funfact und oft sind die facts gar nicht fun sondern er erklärt mir bloß wie eine oberleitung funktioniert oder eine ampelschalte oder eine french press oder zwischenmenschliche beziehungen seite 62

Bewertung vom 06.03.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Der Klappentext von „Yellowface“ tönte so vielversprechend, dass ich dieses Buch letztes Jahr schon zu meinem absoluten „Must-Read 2024“ erklärt und seinem Erscheinungstermin regelrecht entgegengefiebert hatte. Wer darf was schreiben, was veröffentlichen? – diese Frage interessiert mich alleine schon aufgrund meiner eigenen Schreiberfahrungen brennend und aufgrund der spannenden Ausgangslage eines geklauten Manuskripts erwartete ich einige neue Denkanstöße.
Nach einem mitreißenden Einstieg tritt die Story jedoch zusehends auf der Stelle. Es mag für Außenstehende interessant sein, einen Einblick in die Mechanismen des Verlagswesens zu bekommen, ich empfand es als monotone Berichterstattung bereits bekannter Prozesse.
Ich-Erzählerin June Hayward ist zwar ein ambivalenter Hauptcharakter ohne Heldenglanz, doch ihre Motive sind so durchschaubar, dass sie trotzdem viel zu glatt wirkt. Der mehr erklärende als erzählende Ausdrucksweise der Hauptfigur und lasche Dialoge tun ihr übrigens, dass dieser wunderbar flüssig geschriebene Roman in weiten Teilen zu einem glitschigen Einheitsbrei verkommt.
Ich vermisse Ecken, Kanten, Spitzen und Tiefen. Stattdessen spulen die Figuren und Social-Media-Beiträge ein geradlinig zurechtgelegtes Pro- und Contra-kulturelle-Aneignungs-Programm ab. Im letzten Viertel zieht das Tempo auf der Handlungseben zwar nochmals an, doch sogar der künstlich aufgebauschte Höhepunkt endet vorhersehbar.
Überhaupt bleiben die Überraschungen fast vollständig aus. Sicherlich schneidet Rebecca F. Kuang wichtige und aktuelle Themen wie Hass im Netz und Diskriminierung an, vermag es, Diskussionen in Gang zu bringen, verschiedenen Argumente zu beleuchten. Allerdings geht die Tiefe ihrer Darstellung kaum über das hinaus, was schon der Klappentext verrät – und das ist für 380-Seiten-Werk eine zu magere Ausbeute.
Trotz der aufsehenerregenden Grundproblematik und den belehrenden Ansätzen bleibt „Yellowface“ deutlich hinter meinen Erwartungen zurück.
Die drei Sterne gibt es in erster Linie für den Mut des Verlages, eine Kritik an den eigenen Marktstrategien zu veröffentlichen – denn der Hype um dieses Buch ist wohl die eigentliche (Real-) Satire dahinter.

Bewertung vom 19.02.2024
Himmelwärts
Köhler, Karen

Himmelwärts


ausgezeichnet

„Himmelwärts“ hat geschafft, was nur wenige können: Es hat mich zu Tränen gerührt. Denn Toni-Peperoni hat schwere Vermissung – und Karen Köhler beschreibt diese so intensiv, nah und einfühlsam, dass die Leere, die Tonis Mutter hinterlassen hat, alleine beim Lesen schmerzt.

Nein, es gibt in diesem Buch nicht nur Trauriges. Es gibt auch beste Freundin YumYum, ein kosmisches Radio, Erlebnisperlen auf Lakritzschnecken, Snackgeheimhaltung, Sternschnuppensichtung und Grasfühlung.

Karen Köhler navigiert ihre Leserschaft mit charmanten Sprachwitz in einem Kapitel-Countdown von 10 bis 0 durch die gesamte Gefühlspalette. Wo mich die Autorin in „Wir haben Raketen geangelt“ mit ihrem flapsigen Schreibstil nicht ganz erreicht hat, fand ich hier jede ihrer Wortschöpfungen innovativ und bereichernd.

Allerdings: „Himmelwärts“ ist nicht Ponyhof. Nicht nur, dass der Tod ein wichtiges, aber auch sensibles Thema ist, das nicht jedes Kind gleich gut verkraftet, so ist auch die unkonventionelle, nicht leicht zugängliche Erzählweise ein Grund, warum ich dieses Buch erst ab dem Teeniealter empfehlen würde. – Dann aber wärmstens!

Hier entfaltet sich eine sehr tiefgründige Geschichte, die es schafft, schön, tröstlich, traurig und schön traurig zugleich zu sein. Ein unvergessliches Leseerlebnis!

Bewertung vom 25.01.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


gut

Valeries Mutter Christina erkrankt an Krebs, was die beiden Frauen wieder näher aneinanderbindet und offenbart, wie kompliziert das Verhältnis zwischen ihnen ist.
Debütautorin Felicitas Prokopetz untersucht diese schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, indem sie Valeries Großmütter in ihren Roman einbezieht: schon Christines Mutter Martha, von ihrer Mutter mit 14 Jahren zu Verwandten geschickt, konnte ihr nicht die erhoffte Liebe entgegenbringen.
Auch die Mutter von Valeries Vater Roman, die sich an den Wochenenden um ihre Enkelin gekümmert hat, hat auf ihre Weise mitgeprägt.

Übergangslos springen die Kapitel zwischen Figuren, Zeiten und Schauplätzen umher. Ich hätte mir statt einleitenden Sätzen à la: „Charlotte, die später einmal Romans Mutter und noch später Valeries Omi sein wird“ einen schematischen Stammbaum auf einer Umschlagsklappe gewünscht. Denn besonders zu Beginn ist die unzusammenhängende Vielzahl an Figuren sehr verwirrend und hemmt den Lesefluss.
Schön ist, wie sensibel und wertefrei Prokopetz mit ihnen umgeht, damit die generationenübergreifenden Automatismen nachvollziehbar werden. Sprachlich ist das Buch eher einfach gehalten, ohne trivial zu sein, auch das hat mir gefallen.
Trotzdem schaffen die 200 Seiten leider nicht viel mehr, als Schlaglichter auf diese Biographien zu werfen, worunter die emotionale Tiefe leidet.

„Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist zwar keine traurige, aber eine ernste Auseinandersetzung mit familiären Prägungen, Abhängigkeiten und dem Drang nach Selbstverwirklichung, der vor allem den Frauen so oft verwehrt bleibt. Obwohl es der Autorin gelingt, einige eindrückliche Bilder zu zaubern, feministische Anklänge ohne erhobenen Zeigefinger unterzubringen und die Verbindungen zwischen den einzelnen Lebensentwürfen herauszuarbeiten - was wohl auch ihr primäres Anliegen war - blieben mir die (überwiegend weiblichen) Protagonisten fremd und distanziert.
Mit seinem komplexen Aufbau eine fordernde, aber auch lohnenswerte Lektüre für alle, die sich vielleicht selber fragen, wie sich die eigene Familiengeschichte auf die Beziehung zur Mutter und / oder die Erziehung übertragen hat. Oder die sich für Familiensagas interessieren, ohne sich durch ein armdickes Buch kämpfen zu müssen.

Bewertung vom 28.12.2023
Wieso? Weshalb? Warum?, Band 26: Komm mit zum Schwimmen
Erne, Andrea

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 26: Komm mit zum Schwimmen


ausgezeichnet

Immer weniger Kinder können sicher schwimmen - diese (leider nicht neue) Erkenntnis wurde von einer entsprechende Studie 2022 bekräftigt: „Die Zahl der Nichtschwimmer im Grundschulalter hat sich in den letzten fünf Jahren (auf 20 Prozent) verdoppelt.“ Damit erhöht sich logischerweise das Risiko von Unfällen drastisch.
Vor diesem Hintergrund wird das Anliegen dieses (von der DLRG empfohlene) Buches rasch klar: Kindern das Thema Schwimmen näherbringen, und zwar möglichst früh. Der Besuch eines Schwimmkurses wird im Alter von 5 bis 6 Jahren empfohlen und deckt sich somit ideal mit der Zielgruppe der „Wieso? Weshalb? Warum“-Reihe.
In diesem Band folgen wir Yunus und seiner Schwester zum Planschen am Badesee, zu einem Besuch im Schwimmbad, zum Schwimmkurs und dem Ablegen des Seepferdchens. Informationen über Wassersportarten und Baderegeln runden „Komm mit zum Schwimmen“ ab.
Das bewährte Konzept dieser Sachbuch-Reihe funktioniert: altersgerecht aufbereitete Informationen; Einbindung von kindlichen Erfahrungswelten; auf jeder Seite Klappen, welche die Neugier wecken und die jungen Leseratten zum Mitmachen anregen; ansprechende, bunt-naturalistische Illustrationen.
Die lockere und selbstverständliche Art der Erklärungen lassen keine Unsicherheiten oder Ängste entstehen. Vielmehr kommt rüber: Lerne schwimmen – es macht Spaß!
Meine Tochter ist begeistert, und ich natürlich auch!
Rundum: ein toller und dazu noch sehr wichtiger Band der beliebten Reihe und eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 31.08.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


sehr gut

Ein Buch mit einer äußerst aktuellen und relevanten Thematik:
Ich-Erzählerin Mila beschließt, ihre digitalen Spuren im Internet zu löschen, aus Angst davor, irgendwann gecancelt zu werden. „Niemand wusste, zu welchem Zeitpunkt verschiedene Daten und Infos von mir oder über mich zu einem Ball des öffentlichen Interesses zusammenschmelzen könnten und ich in einem digitalen Inferno gelyncht werden würde. Es war die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor dem Urteil der anderen.“ (S. 14)

Minutiös gibt Debütautorin Jenifer Becker Einblick in Milas sich veränderndes Leben mit all den Tücken, die ein solches Unterfangen mit sich bringt: Kontakte zu halten ohne Social Media wird schwierig bis unmöglich, aber die Verkomplizierung betrifft bald auch alltägliche Verrichtungen, für die man sich ins Internet einwählen muss.
Ihr Schreibstil ist sehr nüchtern, beinahe emotionslos und hat eher die Form eines ausschweifenden Berichts als eines Romanes im eigentlichen Sinne.
Der fehlende Spannungsbogen wird garantiert manche*n Leser*in abschrecken, doch nach meiner anfänglichen Befürchtung, dass die Lektüre selbst zu einer „Zeit der Langeweile“ werden würde, hat sich nicht bestätigt. Ja, es zieht sich, es ist ab und zu anstrengend, Mila in die engsten Winkel ihres Daseins zu begleiten – aber die weitere Entwicklung dieses Digital-Detox-Experiments hat mich trotzdem interessiert weiterlesen lassen.
Auch ist Mila selbst ist ein ziemlich opaker und melancholischer Charakter, ihre nächsten Schritte sind zwar von logischer Dynamik, aber aus rein menschlicher Sicht eben doch nicht immer nachvollziehbar.

Der depressive Grundton hat denn in meiner Bewertung auch den fünften Stern genommen; besonders erbaulich ist die Lektüre leider nicht.
Sehr empfehlenswert aber trotzdem.
Denn die intelligente Struktur und der informative Gehalt des Werkes haben mich überzeugt. Sogar das Ende, das anscheinend so offen und unklar daherkommt und mich im ersten Moment total enttäuscht hat, fand ich nach längerem Überlegen grenzgenial.
Auf jeden Fall ist „Zeiten der Langeweile“ keine heitere Unterhaltungsliteratur, sondern ein forderndes Werk, das es in sich hat. Aber dementsprechend auch Nachhall, viele Gedankenanstöße und ungeheures Diskussionspotenzial zum Umgang mit digitalen Medien erzeugt.