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Leipziger

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Insgesamt 3 Bewertungen
Bewertung vom 25.04.2018
Die Spur ist sichtbar noch
Granin, Daniil

Die Spur ist sichtbar noch


sehr gut

Bei dem Ingenieur Dudarew meldet sich eine unbekannte Frau. Zunehmend gereizt versucht der Mann die Fremde, die, wie sie betont, extra aus Tiflis angereist ist, abzuschütteln. Es gelingt ihm nicht. Die Frau ist zu hartnäckig. Sie drängt dem Mann eine Sammlung von Briefen auf, damit er sich an einen ehemaligen Kameraden erinnert.

Anders als die Protagonisten von Patrick Modiano, die sich stets vorbehaltlos ihren Erinnerungen hingeben, verweigert Dudarew kategorisch, den ohnehin nicht sonderlich belastbaren Faden ins Gestern aufzunehmen. Dudarew kann und will sich nicht erinnern. Zunächst streitet er ab, den Leutnant je gekannt zu haben, dann sträubt er sich, dessen Briefe zu lesen. Nüchtern stellt Dudarew die ungelöste Gretchenfrage jeder Erinnerung: wozu soll das gut sein. Gerade aus dieser harschen Ablehnung des Gedenkens eines Kriegsveteranen der Roten Armee, ein Affront gegenüber dem ruhmreichen Sieg, entfaltet die Novelle ihre fesselnde Sogwirkung.

Die Spur ist sichtbar noch erzählt von Menschen, die sich ganz nahe standen und trotzdem nie zusammenfanden. Obwohl sich die Frau während des Krieges mit dem Leutnant, an den sich Dudarew erinnern soll, eifrig geschrieben hat, war ihr nach dem Krieg nicht vergönnt, ihren einstigen Brieffreund zu treffen.

Granin, der leider erst kurz vor seinem Tod durch Altkanzler Schmidt auch dem westlichen Publikum nahegebracht wurde, beschreibt die Geschichte mit leisen Tönen: die Dramatik der unerhörten Begebenheit spricht für sich und bedarf keinerlei künstliche Aufputschmittel.

Bewertung vom 25.04.2018
Trotzki
Wolkogonow, Dimitri

Trotzki


gut

Leo Trotzki gehörte zu den schillerndsten Gestalten der Geschichte. Noch heute hält sich hartnäckig die Mär, Trotzki sei ein imperialistischer Verräter der Oktoberrevolution gewesen. Die rasche Tilgung der Fotografien (u.a. mit Lenin) und seines Namens wirkt bis heute: Man hat ihn vergessen. 1879 wurde Trotzki als Leo Davidowitsch Bronstein geboren, wegen politischer Tätigkeit wird er verbannt, nach 1917 mehrfacher Volkskommissar, 1925 erfolgt die Absetzung von allen Ämtern, 1928 beginnt seine erneute Verbannung. Nach einer erzwungenen wie leidvollen Odyssee durch viele Länder, wird er im Sommer 1940 in Mexiko von Stalins Schergen erschlagen. Trotz aller Widrigkeiten blieb er ein begnadeter Redner und exzellenter Schreiber sowie ein eloquenter Verfechter der permanenten Revolution.

Wolkogonow bemüht sich erst gar nicht in die übergroßen Fußabdrücke von Isaac Deutscher zu treten. Dessen Trotzki-Biografie gilt als Meisterwerk, das schwer einzuholen ist. Zu überholen ist es, um den alten Kalauer zu gebrauchen, erst recht nicht. Wolkogonow setzt beim Leser Wissen voraus, um daran mit unterkühltem Esprit anzuknüpfen. Enorm hilfreich ist der von ihm aufbereitete Anhang mit weiterführenden Lesetipps und einem ausführlichen Personenregister. Diese Bündelung von Namen und Lebensläufen führt dem interessierten Leser mit wenigen Zeilen die ganze Dramatik der damaligen Zeit vor Augen. Wolkogonow nutzt ausgiebig seinen Vorteil, indem er sich jener Quellen bedient, die I. Deutscher noch verschlossen waren. Es bleibt abzuwarten, was die Archive verraten, die in naher Zukunft von der Bürde der Geheimhaltung entbunden werden. Das macht Geschichte mitunter ja so spannend: je entfernter diverse Ereignisse im Zeitstrahl liegen, umso begehbarer werden die Landschaften, da die Instrumente zu deren Erkundung endlich griffbereit sind.

Wolkogonow geht auf sämtliche Geschehnisse ein, die Trotzki zeitlebens trieben, bis ihn das System, welches er maßgeblich aufgebaut hatte, als einen Getriebenen geißelte. Zum Kern der Person Trotzki stößt Wolkogonow eher sporadisch. Manchmal erliegt er dem Charme und der Schläue seines Protagonisten, dann wieder fühlt er sich von dessen schroffen Urteilen und brutalem Vorgehen abgestoßen. Wolkogonows bemüht sachlicher wie steifer Ton fällt besonders dann ins Gewicht, wenn er Textstellen aus dem reichen Fundus von Trotzki zitiert. In den angeführten Passagen sprühen die Funken, die bei Wolkogonow fehlen. Was wiederrum unlauter ist, dies als Kriterium anzuführen, da Trotzki, wie bereits erwähnt, ein wirklich begnadeter Schreiber war. Und wenn es um seine Person ging, entfachte er gern mal ein Feuerwerk.

Bewertung vom 25.04.2018
Aug in Auge
Aitmatow, Tschingis

Aug in Auge


ausgezeichnet

Aitmatows Geschichte Aug in Auge greift ohne lange Vorrede das ungeliebte wie heikle Thema der Fahnenflucht auf. Ein Soldat entfernt sich von der Truppe, um bei seiner Frau Unterschlupf zu finden. Die Freude, die die Frau empfindet, weiß sie doch ihren Mann endlich wieder in ihrer Nähe, schlägt bald in lähmende Verunsicherung um, die das ohnehin beschwerliche Leben hinter der Front noch unerträglicher macht. Es liegt an der Frau, ihren Mann zu versorgen und gleichsam nach außen hin so zu tun, als warte sie jeden Tag auf einen Brief von ihm. Aitmatow macht seinen Leser zum Zeugen, der erfahren muss, wie Krieg die mögliche Sinnhaftigkeit des Menschen und dessen Leben nicht nur in Frage stellt sondern annulliert.

Zeichnet die Handlung eines Deserteurs Mut aus oder ist es Feigheit? Ist es das gute Recht eines jeden, dem eine Uniform übergeworfen und eine Waffe in die Hand gedrückt wurde, all dies fortzuwerfen und gen heimische Stube zu stürmen? Oder offenbart der Flüchtende seinen grenzenlosen Egoismus, schließlich kappt er mit seinem Schritt den Gemeinschaftsvertrag? Wann rechtfertigt existenzielle Not einen solchen Alleingang? An einer Stelle der Geschichte versucht sich der geflohene Soldat an einer Erklärung: „Ich will nicht in der Fremde meinen Kopf hinhalten. Warum soll ich in einer Gegend kämpfen, die ich nie gesehen habe und in der niemand aus meiner Sippe je gewesen ist? Wer den Krieg angezettelt hat, mag ihn auch selber ausführen. Ich warte ab, ich mache da nicht mit ...“

Aitmatows frühe Novelle, Erscheinungsjahr war 1958, wirft Fragen auf, die schwerlich mit dem bekannten Vokabular beantwortet werden konnten und können. Natürlich erntete der Autor harsche Kritik. Millionen sowjetische Soldaten waren dreizehn Jahre zuvor für die Befreiung des Landes und schließlich für halb Europa gefallen, da galt es als Staatsräson, Aug in Auge abzulehnen. Was die Kritiker jedoch nicht daran hinderte, Aitmatow Jahre später mit allen denkbaren Ehrungen zu würdigen. Anders, die Kritiken und Auszeichnungen fehlten, erging es Alfred Andersch 1952 beim Erscheinen seines Berichts Die Kirschen der Freiheit. In dem Buch beschreibt der in München geborene Autor seinen Weg zur Desertation im Juni 1944.