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V. Schindler

Bewertungen

Insgesamt 9 Bewertungen
Bewertung vom 21.12.2023
Ausgelöscht
Prammer, Theresa

Ausgelöscht


ausgezeichnet

Zwei Frauen werden vermisst. Drei Wochen später tauchen sie wieder auf – eine in Berlin, eine in Wien. Seltsamerweise teilen beide identische Erinnerungen an die zuvor stattgefundenen Entführungen und glauben beispielsweise, nur zwei Tage weg gewesen zu sein. Wie hängen die beiden Fälle miteinander zusammen? Die Ermittler stehen vor einem Rätsel und holen sich Unterstützung von Erinnerungsforscherin Lea Goldberg und Psychiaterin Barbara Kirsch – beide Expertinnen in ihrem Gebiet. Allerdings eskaliert die Lage und eine atemberaubende Jagd beginnt.

Theresa Prammer versteht es, von Anfang an Spannung aufzubauen. Schnell wird klar, dass es auch persönliche Verbindungen der Opfer zu Lea Goldberg zu scheinen gibt und sie womöglich selbst in Gefahr schwebt. Geschickt flicht die Autorin nach und nach weitere Details aus den Erzählungen der Opfer sowie der Vergangenheit der Erinnerungsforscherin ein. Kontinuierlich werden neue Aspekte aufgedeckt, Puzzlestücke zusammengefügt und dennoch bleibt es spannend bis zum Schluss und die Auflösung kommt letztendlich überraschend.

Während Protagonistin Lea Goldberg die Haupthandlung aus der Ich-Perspektive erzählt, gibt es parallel im Wechsel Rückblicke, die von „Damals“ berichten. Erst am Ende wird aufgelöst, wer hier berichtet und wie die Handlung der Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenhängt.

Gerade durch den Blick auf die Vergangenheit legt die Autorin einen Fokus auf das Psychologische der Figuren. Auch Lea Goldberg hat ihre eigene Geschichte: Nach einem Fehlurteil durch sie ein Jahr zuvor wurde ein Angeklagter freigelassen und beging anschließend einen Mord. Die Erinnerungsforscherin leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, muss Benzodiazepine nehmen und ist arbeitsunfähig – bis der Wiener Ermittler ihre Hilfe in den Entführungsfällen anfordert.

Durch ihren eingängigen Schreibstil, die sorgfältig gezeichneten Figuren, die durch und durch spannende Handlung und nicht zuletzt das äußerst interessante Thema der Erinnerungsmanipulation schafft Theresa Prammer ein einzigartiges Lesevergnügen. Wer psychologische Thriller mag, wird nicht enttäuscht werden. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 16.04.2023
Mary & Claire
Orths, Markus

Mary & Claire


ausgezeichnet

„Mary & Claire“ erzählt die Geschichte von Mary Shelley, der späteren Autorin des bekannten Romans „Frankenstein“ und ihrer Halbschwester Claire Clairmont. Beide sind verliebt in den Dichter Percy Shelley, Marys späteren Ehemann. Als Mary ihrem Vater die Liebe zum bereits verheirateten Percy offenbart, wird sie eingesperrt. Claire fungiert als Überbringerin der geheimen Botschaften zwischen den beiden Liebenden. Kurze Zeit später entfliehen die Drei allen gesellschaftlichen Konventionen und reisen zu dritt von London nach Frankreich und in die Schweiz, woraufhin sie von ihren Familien verstoßen werden. Aufgrund finanzieller Engpässe sind sie allerdings bald gezwungen, wieder nach England zurückzukehren.
Später lässt sich Claire auf eine ungleiche Beziehung mit dem Schriftsteller Lord Byron, genannt LB, ein, den sie zutiefst verehrt. Sie fädelt ein Treffen mit ihm am Genfer See ein, zu dem sie auch Mary und Percy mitnimmt. Die vier sowie Byrons Leibarzt Polidori verbringen viele gemeinsame Abende. In einer Gewitternacht ruft Byron im Opiumrausch zum Wettbewerb auf: „Wer von uns schreibt die schaurigste Geschichte?“ Für Mary und Claire ist anschließend nichts mehr wie zuvor.

Schon der Einstieg mit der Szene am Friedhof ist originell und Sätze wie „Es ist ein fröhlicher Friedhof (…)“ (S. 7) oder Bilder wie „Eine Mütze Moos wächst in die Zeit: So wird dem Grabstein nicht kalt am Kopf.“ (S. 8) schaffen eine besondere Atmosphäre.
Überhaupt ist die sprachliche Ausgestaltung sehr gelungen. Gerade zu Beginn fallen die kurzen, fast atemlosen Sätze auf, mit denen Fragmente aus Marys Kindheit beschrieben werden. Später, als Percy ins Leben von Mary und Claire tritt, werden auch die Sätze länger und spiegeln die schwärmerischen Gefühle der jungen Mädchen.

Immer wieder wird die Einsamkeit thematisiert – in ihrem Gegensatz zum Alleinsein. Mary, Claire und Percy beflügeln sich einerseits gegenseitig und suchen die Gesellschaft der anderen, um dem Alleinsein zu entgehen, suchen aber auch immer wieder die produktive, schöpferische Einsamkeit, aus der heraus sie etwas erschaffen und die Kraft zum Schreiben nehmen. Überhaupt geht es immer wieder ums Schreiben und die Werke der Protagonisten.
Gleich von Anfang an wird der hohe Stellenwert, den das Schreiben in der Familie von Mary einnimmt, deutlich: „Die Zeit des Schreibens ist heilig …“ (S. 11) lautet eine Regel bei den Godwins. Bis zum Mittag darf der Vater nicht in seinen Gedanken gestört werden. Aber auch Marys verstorbene Mutter, die Schriftstellerin Mary Wollstonecraft, ist der Tochter ein Vorbild. Mary will ebenso schreiben, selbst wenn es heißt, dass Mädchen das nicht können. Und sie fühlt sich auch ein Stück weit dazu verpflichtet – starb ihre Mutter doch im Wochenbett kurz nach ihrer Geburt und wurde so daran gehindert, weitere Werke zu verfassen.
Die Liebe zu den Worten, die Lust am Fabulieren ist auch das, was Mary, Claire und Percy verbindet. Und auch auf der Flucht aus London dürfen Bücher nicht fehlen: „Bücher, dachte sie, sind Kleider für den Geist!“ (S. 96)

Markus Orths ist mit „Mary & Claire“ ein stimmungsvoller, atmosphärischer Roman gelungen, der Geschichte lebendig werden lässt. Mit liebevollem Blick auf seine Figuren erzählt er die Geschichte von Mary Shelley und Claire Clairmont, in der es um die Literatur, Liebe und nicht weniger als das Leben selbst geht. Eine Lektüre, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Bewertung vom 31.01.2022
Eure Leben, lebt sie alle
Hein, Sybille

Eure Leben, lebt sie alle


ausgezeichnet

Fünf Frauen. Die Älteste von ihnen, Marianne, ist gerade 80 geworden, und Mutter des viel zu früh verstorbenen Jonas Kiekhöfel, einem aufstrebenden, charismatischen Musiker. Auch zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Sohnes ist sie mit vier seiner damaligen Freundinnen, die sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, verbunden. Während Marianne mit den Widrigkeiten des Altwerdens kämpft, befinden sich Ellen, Freddy, Luise und Johanna gerade in der Midlifecrisis und sind dabei, ihre Leben neu zu sortieren.

Sybille Hein gelingt es auf leichtfüßige Weise, den Leser mitzunehmen in die verschiedenen Lebensrealitäten: während Marianne immer wieder mal etwas vergisst und schon mal den Weg nach Hause nicht findet, kämpft Freddy nicht nur mit ihrem Gewicht, sondern auch um die Finanzierung des Pflegeheimplatzes für ihren Vater. Luise, die niemand so richtig für voll nimmt, versucht, ihre Familie zu managen und übersieht, dass sich ihre Vorstellungen von Geigenunterricht oder Konfirmation nicht mit denen ihrer Kinder und ihres Ehemanns decken. Ellen reduziert ihre Tätigkeit als niedergelassene Psychologin, um als Sängerin ihr Comeback zu feiern, und Johanna, die noch nie richtig Boden unter den Füßen bekommen hat, liegt nach einem Sturz vom Balkon im Krankenhaus.

Sybille Heins Roman lebt von kleinen Alltagsszenen, wie sie jeder von uns so oder ähnlich durchleben kann und spannt einen Bogen von der Pubertät über die Midlifecrisis hin zu den Herausforderungen des Alters. Der Autorin ist damit eine sehr erfrischende Lektüre rund um ein witziges Frauengespann gelungen. Unterhaltsame Lesestunden sind garantiert!

Bewertung vom 07.11.2021
Die Frau, die den Himmel eroberte
Giese, Vanessa

Die Frau, die den Himmel eroberte


ausgezeichnet

Eine Frau der Bewegung

1889 sieht die junge Schneiderin Katharina Paulus, genannt Käte, zum ersten Mal dem bekannten Ballonfahrer Hermann Lattemann beim Aufstieg und anschließenden Fallschirmabsprung zu. Sie ist fasziniert. Kurze Zeit später landet Hermann Lattemann buchstäblich vor ihren Füßen in einem Vorgarten. Käte und Hermann verlieben sich und Kätes Schicksal ist besiegelt. Zunächst übernimmt sie die Näharbeiten für Hermanns Ballons, entwickelt aber zunehmend den Wunsch, auch selbst in die Luft aufzusteigen. So wird aus der einfachen Näherin die Ballonfahrerin, Luftfahrtpionierin und Unternehmerin Katharina Paulus.

Die Romanbiografie „Die Frau, die den Himmel eroberte“ von Vanessa Giese beginnt am Ende von Käte Paulus‘ Leben. Die Ich-Erzählerin blickt auf die Vergangenheit zurück und nutzt als alte Frau die letzte Kraft, um ihr eigenes Leben zu rekapitulieren. Der Autorin gelingt es dabei hervorragend, Käte Paulus zum Leben zu erwecken und den beeindruckenden Weg einer starken Frau nachzuzeichnen, die trotz diverser Schicksalsschläge und Entbehrungen im Krieg unbeirrt an ihren Zielen festhält, sich immer wieder neu ins Leben stürzt und niemals aufgibt.

Mit ihrer Romanbiografie ist Vanessa Giese ein in sich stimmiges und rundum überzeugendes Erstlingswerk gelungen. Wer gerne eine Zeitreise zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unternehmen und mehr über das Leben der willensstarken Luftfahrtpionierin Käte Paulus erfahren möchte, wird nicht enttäuscht sein. Auch der Unterhaltungsfaktor ist durch den dramaturgisch geglückten und spannenden Handlungsaufbau garantiert. Einsteigen und abheben – das gilt auch für die Lektüre.

Bewertung vom 29.11.2020
Dieses ganze Leben
Romagnolo, Raffaella

Dieses ganze Leben


sehr gut

Willkommen in der Wirklichkeit …

Reiches Elternhaus mit Villa und Pool, eine äußerlich perfekte, durchtrainierte Mutter und der Vater Vorstandsvorsitzender der Baufirma Costa Costruzioni. Dazwischen die übergewichtige sechzehnjährige Paola, die sich selbst als hässlich bezeichnet, und ihr Bruder Richi, der im Rollstuhl sitzt. Beide passen nicht in die auf Glanz polierte elterliche Fassade und versuchen, der erfolgsfokussierten Welt zu Hause zu entfliehen und bei ihren täglichen von der Mutter auferlegten Spaziergängen das wahre Leben zu erfahren. So lernen sie Antonio und dessen Bruder Filippo kennen, die in der von der Mutter so sehr verhassten „Margeritensiedlung“ aus Sozialbauten aufwachsen, die die Costa Costruzioni errichtet hat. Nach und nach beginnt die Fassade zu bröckeln – Paola, in deren Familie bislang das Schweigen großgeschrieben wurde, wird mit Wahrheiten konfrontiert, die einerseits tragisch sind und ihr andererseits die Chance geben, sich und ihr Leben grundlegend zu ändern.

In „Dieses ganze Leben“ geht es um Arm und Reich, Sein und Schein und eine junge Protagonistin, die anders ist als die meisten Altersgenossen und doch irgendwie dazugehören will. Gerade die Diskrepanz zwischen lockerem Erzählgestus und handfesten Missständen macht die Lektüre interessant. Dennoch vermittelt der Coming-of-Age-Roman keine wirklich neuen Erkenntnisse und wirkt durch zahlreiche Happy Ends abschließend ein wenig konstruiert. Abgesehen davon aber eine unterhaltsame Lektüre.

Bewertung vom 21.08.2020
Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens
Barbash, Tom

Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens


sehr gut

The show must go on …

New York City 1979. Das ist der Ausgangspunkt für Tom Barbashs Roman “Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens“.
Nachdem sein Vater Buddy Winter, berühmter Moderator einer Late Night Show einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, soll sein Sohn Anton seine Karriere wieder zum Laufen bringen. Anton erholt sich gerade von einer Malaria, die er sich beim Einsatz mit dem Peace Corps in Gabun zugezogen hat, und kehrt hierfür zu seinen Eltern zurück, die nicht weniger als in „The Dakota“, der New Yorker Adresse für die Reichen und Berühmten, zu Hause sind. Als er selbst wieder auf den Beinen ist, legt er sich für seinen Vater ins Zeug, fungiert als dessen rechte Hand und tut alles, um ihn zurück ins Showgeschäft zu bringen. Allmählich hinterfragt er jedoch, inwieweit er bei der Neuerfindung von Buddy Winter noch seinen eigenen Weg geht.

Tom Barbash gelingt es von Anfang an, den Leser auf eine Reise ins New York Ende der 70er / Anfang der 80er mitzunehmen, einen eintauchen zu lassen in die pulsierende Stadt, in der parallel die High Society ihre Partys feiert und Ted Kennedy auf Wahlkampftour geht, während auf den Straßen Kriminalität an der Tagesordnung ist.
Es ist interessant, Anton Winter auf seinen Touren zu begleiten – die Darstellung seines Alltags und dessen Reflexion wirken sehr realistisch. Vordergründig muss alles leichtfüßig über die Bühne gehen, hinter den Kulissen heißt es, hart arbeiten und strategisch zu überlegen, wie man die Einschaltquoten nach oben bringt und Publikum und Sender auf seine Seite zieht. Man geht aus, um gesehen zu werden und versucht, sich dabei stets im besten Licht zu präsentieren.

Irgendwann allerdings hat man verstanden, wie das Leben von Buddy Winter und Sohn, ihrem Nachbarn John Lennon und anderen aus ihrem Umfeld funktioniert – gerade Richtung Ende gibt es unnötige Längen.
Was die Lektüre anfangs sehr spannend macht – die durchaus gelungene Mischung zwischen historischen Begebenheiten und den mit ihnen verknüpften realen Persönlichkeiten sowie fiktiver Handlung und Figuren – bremst sie zunehmend auch. Immer wieder geht es um John Lennon und ob die Beatles nun in die neue Show von Buddy Winter kämen – hier hätte man sicher kürzen können.

Nichtsdestotrotz ist Ich-Erzähler Anton ein sympathischer Protagonist. Er bewegt sich sicher in der Glamour-Welt, hinterfragt diese aber auch kritisch und fühlt sich genauso in Afrika zu Hause. Dass er schlussendlich doch einen ähnlichen Weg wie sein Vater einschlägt – selbst wenn er versucht, sich von diesem freizuschwimmen – überrascht zunächst. Wahrscheinlich entspricht genau das aber dem Werdegang vieler, die sich am Ende doch wieder dort finden, wo auch die Eltern zu Hause waren.

Der Titel „Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens“ weckt auf Anhieb Interesse. Die Mischung zwischen einer Familiengeschichte („mein Vater“), einer Story in der Show-Welt („John Lennon“) und elementarer Lebenserkenntnis („das beste Jahr unseres Lebens“) macht neugierig und Lust auf die Lektüre. Am Schluss stellt sich aber die Frage, ob es wirklich „das beste Jahr“ von Anton und seinem Vater war, das hier beschrieben wurde. Zwar genießen sie das Mehr an gemeinsamer Familien-Zeit, das es im Show-Alltag vor Buddys Zusammenbruch nicht gab, aber schließlich entscheiden sich doch sowohl Buddy als auch Anton wieder für das Leben davor. Vielleicht ist der Originaltitel „The Dakota Winters“ doch treffender …

Wünschenswert wären ein bisschen mehr Tiefgang, etwas, das Buddys und Antons Leben grundlegend verändert und das der Leser ggf. als Erkenntnis für sich selbst mitnehmen kann. Wenn man das Buch ohne diese Erwartung liest und es mehr als atmosphärische Spiegelung der Zeit vor 40 Jahren in der New Yorker Musik- und Showszene liest, eignet es sich dennoch als unterhaltende Lektüre für zwischendurch.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.07.2020
Die Marschallin
Del Buono, Zora;Del Buono, Zora

Die Marschallin


ausgezeichnet

„Ich bin aber nicht dezent!“

Das ungeschönte Portrait einer eigenwilligen, starken Frau sowie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus – nicht weniger hat sich Zora del Buono mit ihrem Werk „Die Marschallin“ vorgenommen. In ihrem Roman zeichnet die Autorin – oft erstaunlich nüchtern und wertfrei – das Leben ihrer Großmutter Zora Del Buono von 1919 bis 1980 nach. Ein steiniger Weg zwischen Kriegen, Italien und Slowenien und prägenden Schicksalsschlägen, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. „Kommunismus ist Aristokratie für alle.“ Dieses Zitat ist der Familiengeschichte vorangestellt und beschreibt sehr gut den Widerspruch, in dem sich die alte Zora Del Buono befindet: Mit ihrem Ehemann Pietro, einem erfolgreichen Radiologieprofessor, genießt sie ein großbürgerliches Leben und engagiert sich, als Bewunderin Josip Broz Titos, gleichzeitig im Widerstand gegen den Faschismus Mussolinis. Ein Raubmord, in den Zora aufgrund ihrer politischen Aktivitäten 1948 verwickelt wird, gerät ihr und ihrer Familie zum Verhängnis. Die daraus resultierenden Geschehnisse lassen sie bis zum Lebensende nicht mehr los. In ihrem eindrucksvollen Schlussmonolog lässt die Autorin ihre Großmutter die Vergangenheit auf ergreifende Weise Revue passieren. Selbstbewusstsein vermischt sich mit Härte und Bitterkeit – in Frieden abschließen sieht anders aus.

Ebenso vielschichtig wie die Persönlichkeit der bewunderten wie gefürchteten Zora Del Buono war, gestaltet sich der Roman der Enkelin. Neben der ausführlichen Beschreibung der politischen Begebenheiten werden Themen wie mangelnde Mutterliebe und eine fast krankhafte Ablehnung alles Weiblichen verhandelt. Es lässt tief blicken, wenn eine Mutter, die als Kind selbst – wenn auch nur vorübergehend – von der Mutter verlassen wurde, die eigenen Söhne nicht beim Namen nennt, sondern ihnen Nummern vergibt und keine Schwiegertöchter, Schwägerinnen oder andere Frauen neben sich duldet. Sehr anschaulich sind aber auch die Beschreibungen der Neben-Charaktere wie beispielsweise die der Tante Otilija.

Es ist mutig, dass die Autorin, die beim Tod ihrer Großmutter gerade 18 Jahre alt war, vierzig Jahre später ein Buch über ihre Familiengeschichte veröffentlicht und sich mit dem, was in der Familien-DNA verborgen ist, derart schonungslos auseinandersetzt.

Sich in einer Zeit, in der das Patriarchat noch einen entsprechenden Stellenwert hatte, als Frau zu behaupten, wie es Großmutter Zora getan hat, verdient Bewunderung. So heißt es „Wenn Zora etwas sagte, galt das. Zora war das Gesetz.“ (S. 306) Liebenswert war sie in ihrer radikalen und anderen Frauen oft feindlich gesinnten Art wahrscheinlich aber nur für wenige. „Ich bin aber nicht dezent!“ ist einer ihrer Ausrufe aus dem Abschlussmonolog und beschreibt vielleicht den Grund, weshalb sich die Enkelin selbst viele Jahre nach ihrem Tod mit dem, was die Großmutter umgab, auseinandersetzt. Auch wenn es nicht nur Gutes war – die alte Zora Del Buono hat etwas bewirkt. Und ihre Enkelin auch – mit ihrem überzeugenden Roman. Vielleicht gelingt es der Autorin damit, für ihre Großmutter, aber auch für alle Nachfahren von Zora Del Buono Frieden zu finden.

Vielen Dank an den Verlag C.H.Beck für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Bewertung vom 26.04.2019
Fast schon ein ganzes Leben
König, Rita

Fast schon ein ganzes Leben


ausgezeichnet

Fast wie im richtigen Leben

Sie blickt gen Westen, er gen Osten. Das Cover von „Fast schon ein ganzes Leben“ verdeutlicht sehr gut das, womit sich Rita König in ihrem Roman beschäftigt: dem Lebensweg von Birgit und Paul, den sie zunächst jahrelang gemeinsam gehen, bevor es beide in unterschiedliche Richtungen treibt. Die Autorin beschreibt gekonnt und mit geschickter Verknappung, wie die beiden zusammenfinden, zusammenleben, sich langsam entfremden, auseinandergehen und letztendlich doch wieder annähern. Rita König skizziert in einer sachlich-nüchternen, dennoch bildhaften Sprache und erstaunlich frei von Wertung das, was ihre beiden Protagonisten umtreibt – gemeinsam und jeden für sich alleine. Der Mauerfall erschüttert nicht nur die Ordnung der brandenburgischen Kleinstadt, in der die beiden leben, sondern auch nach und nach den Familienzusammenhalt. Zu verschieden sind die Pläne und Wünsche für die Zukunft: während die „große“ Mauer fällt, scheint sich die interfamiliäre, die sich schon in den Jahren vorher erahnen lässt, erst richtig aufzubauen. So unterschiedlich die Sichten sind, sind sie dennoch beide nachvollziehbar. Und das ist vermutlich die größte Stärke des Romans. Einerseits entstehen immer wieder Beklemmungsgefühle und Birgits Sehnsucht nach der „weiten Welt“ kann erahnt werden. Andererseits kann man mit Paul mitfühlen – in seinem fast schon naiven Versuch, Birgit alle Wünsche zu erfüllen, um das kleine Familienglück und einen Ort von Geborgenheit zu wahren. Vielleicht ist auch das die Quintessenz der Geschichte: Jeder hat – berechtigterweise – seine eigene Sicht und seine eigene Wahrheit. Es ist ein großes Glück, wenn zwei sich finden, die diese teilen, aber eben ohne Garantie auf Lebenszeit. Fast wie im richtigen Leben …