Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
darkola77

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 10.11.2024
Women Living Deliciously
Given, Florence

Women Living Deliciously


ausgezeichnet

Männer und Frauen sind gleichberechtigt – das ist doch klar!
Das könnte man(n) denken – und Frau ebenso. Doch ganz so einfach ist es nicht. Und er erst recht nicht so eindeutig. Denn Auswirkungen und Einfluss des Patriachats sind verändert und subtil – und damit häufig erst auf den zweiten, sensibilisierten Blick zu erkennen.
Und genau diese geschärfte Sichtweise legt Florence Given an den Tag, wenn sie den weiblichen Körper, Schönheitsideale und (Selbst-) Beschränkungen von Frauen kritisch unter die Lupe nimmt und gleich einer Chirurgin freien Willen und Entscheidungsautonomie von patriarchalen Denkmustern und Grenzziehungen trennt. Und dabei Erstaunliches zu Tage befördert.
Für Given steht fest: Es ist Zeit, die rosarote Brille abzunehmen! Denn „der patriarchalische Käfig, der uns zurückhält, befindet sich jetzt in unseren eigenen Köpfen“. Hört sich nicht nur erschreckend an, hat auch Hand und Fuß und unzählige Anknüpfungspunkte an die doch so unterschiedlichen Lebenswelten und -modelle der Leser*innen. Oder anders gesagt: Auch ich selbst habe mich in zahlreichen Ausführungen und Beispielen wiedererkennt. Schmerzhaft. Aber auch notwendig.
Doch wie sagt Given weiter: Wir können nichts ändern, was uns nicht bewusst ist! Und das ist auch der Ausgangspunkt für ihren Drei-Punkte-Plan. Jäten, Pflanzen, Blühen! Denn nach dem Aufdecken von Glaubenssätzen und Gewohnheiten gibt sie lebensnahe und ganz praktische Impulse und Anleitungen, um die Samen für all die Ideen und Ziele zu pflanzen, die Frau für sich selbst will – und deren Früchte sie in der Phase des Blühens erntet.
Tatsächlich hat mich das Buch über viele Kapitel eiskalt erwischt. Warum? Weil ich mich für selbstreflektiert und aufgeklärt halte. Und trotzdem zahlreiche Fallen ausfindig gemacht habe, in die ich nur zu gern tappe, immer wieder. Und selbst nicht mal als solche wahrgenommen habe. Aus diesem Grunde: Das Buch ist Pflichtlektüre, Konfrontationstherapie und Ideengeber für Reflektionen und Wünsche. Und Seelenstreichler und Herzenswärmer gleich dazu.

Bewertung vom 01.11.2024
Okaye Tage
Mustard, Jenny

Okaye Tage


sehr gut

Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt – Liebe kann eine Achterbahnfahrt sein. Sie kann Endorphine und ungeahnte Höhen bereithalten und einen dann wieder ins Bodenlose stürzen und alles um einen herum grau und farblos werden lassen. Und den einen Menschen zum Mittelpunkt der eigenen Welt machen.
So geschieht es Sam mit Luc und Luc mit Sam. Was mit einer Begegnung, einem flüchtigen Gespräch begann, findet nun nach über zehn Jahren seine überraschende Fortsetzung. Und wird sofort zu etwas ganz Großem, etwas, was Kopf, Herz und den Sommer in London einnimmt. Denn eines steht fest: Nach nur wenigen Monaten muss Sam die Stadt und damit auch Luc wieder verlassen. Und ihre Beziehung ist beendet. Ein kalter, sauberer Schnitt, so ist es geplant. So soll es für Sam sein.
Das Ultimatum vor Augen, verlieren sich Sam und Luc ganz ineinander und ihrem gemeinsamen Leben. Gehen gemeinsam über Grenzen, sind zügellos, trunken vor Liebe und Alkohol. Und sind mit dem Abschied voneinander mit einer Leere konfrontiert, die sich auch systematisch, mit Plan und Disziplin nicht füllen lässt. Und sie zu einem großen Schritt veranlasst.
Doch ist Liebe allein genug? Ist sie für ein gemeinsames Leben erprobt, belastbar? Trägt sie durch Kompromisse und über Herausforderungen, Schwierigkeiten hinweg?
Bei allem, was sie eint, so verschieden sind Sam und Luc – und so ist auch ihre Sicht auf sich, ihr Gemeinsames und das, was sie trennt. Wir als Leser*innen können eben diese Sichtweisen erleben, wird die Geschichte doch in einem Wechsel mal aus der einen, mal aus der anderen Perspektive erzählt. Ergibt dadurch ein Ganzes, füllt Leerstellen, gibt Klärung. Und vor allem hält es Spannung und Lesefreude durchgehend auf einem hohen Niveau – der Roman macht Spaß! Wenn auch die Handlung das eine oder andere Mal erwartbar scheint.

Bewertung vom 27.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


ausgezeichnet

Wenn Ihr in den verbliebenen Wochen dieses Jahres nur noch ein Buch lesen könnt: Greift zu „Antichristie“! Legt es Freund*innen unter den Weihnachtsbaum, und lasst sie mit diesem Wunderwerk ins neue Jahr starten!
Warum ich so euphorisch bin? Es liegt nicht an der goldenen Herbstsonne in meinem Gesicht und den bunten Blättern vor meinen Füßen – okay, vielleicht ein wenig. Doch vor allem ist es dieses grandiose Gesamtpaket von Roman, das mich die vergangenen Tage und Wochen in seinen Bann gezogen hat, eine Geschichte vor meinen Augen und in meinem Kopf hat abspielen lassen und mir so viel neues Wissen, Einsichten und Denkanstöße vermittelt hat.
Und ganz wichtig und nicht zu vergessen: Die Sprache hat Witz, die Handlung Humor. Und das, obwohl das Sujet ein ernstes ist, ein grausames Kapitel der britischen Geschichte und des Leids der Menschen Indiens in der Kolonialzeit des Empires. Historische Figuren und Ereignisse vermischen sich mit Fiktion und einer Lebendigkeit, die sie die Jahrzehnte überbrücken und in der Gegenwart wieder auferstehen lässt.
Durga ist Teil dieser Fiktion und zugleich Mittelpunkt und verbindendes Element zwischen einem Heute im Jahre 2022 – zum Zeitpunkt des Todes Queen Elisabeth II. – und den indischen Revolutionären im Londoner India House des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und neben dem fantastischen Motiv der Zeitreise, allerlei Skurrilem wie einem Locked Room-Mord und Doctor Who als Zitategeber und Referenz geht es doch und vor allem um den Widerstand junger Inder im Herzen des Königreichs gegen ihre Unterdrücker und die Heterogenität und Trennung innerhalb des großen Subkontinents Indien in Form von Religionen, Abstammung, Kasten.
Mithu Sanyal vollbringt das Kunststück, aus dieser Vielzahl an Themen, Einflüssen und einem reichen Figurenensemble ein großartiges Ganzes zu erschaffen, das beim Lesen ebenso viel Vergnügen wie Nachdenklichkeit erzeugt. Und Zugang zu Geschichte und Ereignissen vermittelt, die aus eurozentristischer Sicht oftmals verborgen scheinen.

Bewertung vom 05.10.2024
Scandor
Poznanski, Ursula

Scandor


ausgezeichnet

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit – das ist, was Philipp, Tessa und die weiteren Mitspieler*innen sprechen müssen, wollen sie die fünf Millionen Preisgeld gewinnen. Und sich nicht ihren schlimmsten Albträumen stellen müssen. Klingt einfach? Nicht aber, wenn Scandor Deinen Arm umschließt. Denn Scandor hört, spürt und bewertet alles. Und lässt Deinen Alltag damit zum Spießrutenlauf werden.
Doch diese Konsequenz wird Philipp und Tessa erst nach und nach bewusst. Wenn sie ihre Freund*innen vor den Kopf stoßen, Kund*innen mit schonungsloser Ehrlichkeit verärgern und sich zunehmend sozial isolieren. Und wäre das allein nicht schon genug, um die eigene Spielteilnahme wieder und wieder in Frage zu stellen und Nerven und Kräfte mehr und mehr schwinden zu lassen, häufen sich auch die merkwürdigen Zufälle und rätselhaften Begegnungen und Verbindungen. Was steckt wirklich hinter dem Wettbewerb? Und verfolgen die Spielmaster möglicherweise ein ganz eigenes Ziel?
Wer Poznanski und ihre Jugendbücher kennt, weiß: Bis zum Schluss, bis zur allerletzten Zeile bleibt es spannend und rätselhaft. Nimmt die Autorin uns mit auf Irrwege, führt uns in Sackgassen und setzt uns Verschwörungen, Staunen und ganz viel Überraschung und Nervenkitzel aus. Und weiß einfach großartig zu unterhalten! Und all das finden wir auch in „Scandor“ – verbunden mit der erschreckenden Vorstellung, dass jemand Drittes tiefen Einblick in unser Innerstes, in unser Selbst nehmen kann.
Wäre das bei mir möglich: Der Wahrheitsgehalt dieser Besprechung ist 100 %. Scandor würde es bestätigen.

Bewertung vom 21.09.2024
Pi mal Daumen
Bronsky, Alina

Pi mal Daumen


ausgezeichnet

Lieblingsbuch! Und zwar auf ganzer Linie.
Die Geschichte hat mich ins Herz getroffen, ohne dabei rührselig zu sein. Hat mich zum Lachen gebracht mit einem Witz und Humor, der punktgenau und passend ist. Und hat mich an das Buch gefesselt, die Nacht zum Tag gemacht.
Doch vor allem lässt sie mich nun wehmütig zurück, denn scheinbar bin ich noch nicht bereit, Moni und Oscar ziehen zu lassen. Mich von den Marotten und Besonderheiten des jungen Mathematikgenies zu verabschieden und auch Moni ein hoffnungsvolles „Auf Wiedersehen“ zu sagen, der lebenserfahrenen und patenten Mutter, Großmutter und Studentin, deren Herz so groß wie ihre Handtasche ist. Und auch die Mathematik werde ich vermissen, die vage Vorstellung von einer Wissenschaft, die das Leben, unsere Welt, das gesamte Universum zu erklären vermag und dabei für diejenigen, die sie zu durchdringen vermögen, Klarheit, Ordnung und den Blick in die tiefsten Tiefen und höchsten Höhen verspricht. Während alle anderen nur Zahlen, Symbole und Formeln sehen.
Doch, was mich wirklich überrascht, ist, wie sehr mir die Geschichte gefallen hat! Das Cover ist wunderschön, ein Eyecatcher, hat mich aber auch auf eine gänzlich andere Fährte geführt. Und wird samt Inhalt nun meinem Mann in die Hand gedrückt, der sich schon über mein verzücktes Lächeln und lautes Lachen gewundert hat. Und die brennende Nachttischlampe zur Schlafenszeit.
Wenn die Tage nun kürzer werden, darf „Pi mal Daumen“ für ein wenig wärmenden Sonnenschein zwischen den Seiten auf keinen Fall fehlen! Kombiniert mit einer Tasse Kamillentee – Oscars Lieblings- und einzigem Getränk in der Unimensa.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2024
Halbnah
Stadler, Anna Maria

Halbnah


sehr gut

Die Stadt als Ort der Begegnungen, des sozialen Miteinanders aber auch eines Vakuums, das von den Menschen mit ihren unterschiedlichen Geschichten, Bedürfnissen und Wünschen gefüllt wird – „Halbnah“ bietet für all dies einen Raum, Auffangbecken und Projektionsfläche. Und gleich Perlen an einer Kette reihen sich Ausschnitte der einzelnen Leben und Handlungsfragmente aneinander.
Drei Frauen sind es, die wir begleiten in einer zeitlich klar begrenzten Gegenwart und einer Vergangenheit, die weit und breit ist. Kata und Mira verbindet eine gemeinsame Kindheit, ein Aufwachsen als Schwester und Pflegekind und ein Verhältnis der räumlichen Distanz und emotionalen Nähe. Sarah erscheint dagegen in einem Prozess des Loslassen und des Infragestellens ihrer sozialen Bindungen und Beziehungen. Mit Blick auf ihren Lebensgefährten Elias folgt auf ihre emotionale Entfremdung ein Weggang aus der gemeinsamen Wohnung und damit eine Trennung. Stück für Stück. Karton für Karton. Ein Zueinanderfinden mit Benjamin, auf welchen sie Sehnsüchte und die Hoffnung auf eine erfüllte Partnerschaft projiziert, findet anders als von ihr erhofft jedoch nur in kleinen Schritten statt.
„Halbnah“ ist viel und sperrt sich gegen eine Zuordnung in Genres und Kategorisierungen, die eigenen literarischen An- und Zielsetzungen nur wenig Raum lassen. Es ist die Beschreibung des Alltags der jungen Frauen, die uns Einblicke in Denken und Handeln einer Generation und doch dreier Individuen gewährt. Zugleich sind es die poetischen Elemente und die Klugheit in Aussagen und Betrachtungen, die ein Verweilen in Kopf und Gedanken schaffen – und eine Fortsetzung im Bezug zu eigenen Ansichten und Leben.
Nur die Perlen auf der Kette reihen sich in Teilen in Abständen, die lose und in ihrer Verbindung nicht eindeutig sind. Bevor sie abreißen – so wie auch der beschriebene Tag so plötzlich zu enden vermag.

Bewertung vom 09.09.2024
Lieferdienst
Hillenbrand, Tom

Lieferdienst


ausgezeichnet

Die Geschichte ist rasant. Hat Tempo und gibt ordentlich Gas.
Und das hat sie gemein mit den Bringern der großen Lieferdienste in einem neuen Berlin der Zukunft. Denn flink, findig und mit Blick auf die Konkurrenz gnadenlos müssen auch diese sein, bricht doch mit jeder Bestellung, die aufgegeben wird, ein gnadenloses Wettrennen um die schnellste Zustellung los. Und die eigens aus dem 3D-Drucker produzierte Ware droht bei Niederlage wertlos zu werden.
So weit, so erschreckend. Und ein Albtraum des Kapitalismus. Und für all diejenigen, die wissen, dass auch die neuste GameStation – so die Konsole der Zukunft – Ressourcen zieht. Von Arkadis, einem „Vollblut-Bringer“ des Unternehmens Rio, sind jedoch vor allem Kraft und Nerven gefordert, als er nicht nur Zeuge der Ermordung seines legendären Kollegen Airbox sondern in dessen Folge auch in Geheimnisse und Abgründe hineingezogen wird, welche den Fortbestand des bisherigen Liefersystems in Frage zu stellen drohen.
Es ist also dramatisch. Mysteriös. Und hoch spannend! Denn Airbox‘ Mission ist mit Lug und Trug, Fallstricken und Sackgassen, Explosionen und vor allem der schärfsten Currybulette Neu-Berlins gepflastert. Und auch die Leser*innen sind gefragt, wenn sie in ein Feuerwerk an kreativen Einfällen und originellen Wortschöpfungen eintauchen, die auf den ersten Seiten noch ins Auge springen mögen – dann jedoch Teil des stimmigen Settings und eines runden Gesamtbildes werden. Und einfach jede Menge Spaß machen!
Hillenbrand kanns! Mich maßlos unterhalten. Mich zum Lachen bringen. Und mich immer wieder mit einem „Das musst Du hören!“ Sätze und Passagen meinem Mann laut vorlesen lassen. Dem es wohl ebenfalls gefällt – zumindest ist das Buch nun direkt in seine begierigen Hände gewandert.

Bewertung vom 16.08.2024
Chain-Gang All-Stars
Adjei-Brenyah, Nana Kwame

Chain-Gang All-Stars


ausgezeichnet

Gewaltig, eindringlich und mit einer Kraft und Stärke, die Kopf und Gedanken sprengen – „Chaing Gang All-Stars“ lässt Dich nicht mehr los!
Und damit meine ich zum einen das Leseerlebnis selbst: Die Sprache ist intensiv, reich an Bildern und Schönheit, literarisch. Sie nimmt einen gefangen, trägt einen durch die Zeilen und den Fortgang einer Geschichte, die reich an Fantasie, Spannung und actiongeladenen Elementen und Wendungen ist.
Doch neben all dem, was den Roman zu einem aufregenden und fesselnden Leseerlebnis werden lässt, ist da auch eine Tiefe, Schwere, ein Erschrecken im Erkennen dessen, was uns hier auf einem so verlockenden Silbertablett präsentiert wird. Denn die Welt, die Adjei-Brenyah zeichnet, ist grausam, menschenverachtend, rassistisch – und nicht weit entfernt von dem, was wir uns vorstellen können. Was realistisch ist. Und real und existent.
Brot und Spiele für das Volk! Das sind die Gladiator*innenkämpfe der Chaing Gang All-Stars – blutige und ausschließlich tödliche Auseinandersetzung verurteilter Straftäter*innen, bewaffnet mit martialischen und archaisch anmutenden Waffen, ausgetragen in großen Arenen und vor einem Millionenpublikum. Und zugleich sind diese barbarischen Schlachten Ausdruck einer Gesellschaft, in welcher die Würde und das Leben des*der Einzelnen einen jeden Wert verloren hat. In welcher die Mehrzahl der Gefangenen einen Migrationshintergrund und eine dunkle Hautfarbe hat.
Thurwar und Hurricane Staxxx sind die gefeierten Sterne an diesem blutroten Himmel der Grausamkeiten. Ihre Siege sind zahlreich und legendär, ihre Gegner*innen vernichtet. Und zugleich sind sie ein Liebespaar auf ihrem blutigen Weg in eine als hypothetisch zu betrachtende Freiheit, welcher der Siegerin als Licht am dunklen Horizont winkt. Doch die Gamemaster sind erbarmungslos. Und wittern die ganz große Show.
Wenn Du es Dir heimelig und bequem in Deinem Denken, Deinen Ansichten und der Vorstellung von einer gerechten, fairen Welt machen möchtest: Das ist nicht das richtige Buch für Dich! Wenn Du allerdings bereit bist, Strukturen kritisch zu hinterfragen, Ungleichheiten zu erkennen und Dich zudem in einem spannungsreichen Pageturner zu verlieren: „Chaing Gang All-Stars“ ist das Buch für Dich – das Dich begeistert, berührt, Dir lange bleibt!

Bewertung vom 22.07.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Wie Flüsse, die sich durch Länder und Zeiten ziehen, ineinander münden und zusammen einen reißenden Strom ergeben – Elif Shafak vermag es, aus drei scheinbar ganz unterschiedlichen Erzählfäden ein großes Ganzes und eine fesselnde und mitreißende Geschichte zu erschaffen. Und das Gesamtbild beleuchtet die Länder des ehemaligen Mesopotamiens gleich einem Kaleidoskop in seiner Historie und in Grausamkeiten, Verletzungen und Traumata, die über Grenzen hinweg bis in die Gegenwart und auf den europäischen Kontinent reichen.
Arthur ist ein Kind der Armut, des Elends und der Vereinsamung. Geboren im ausgehenden 19. Jahrhundert in einem London, das nur die Starken und Einfallsreichen den Kampf gegen Krankheit, Kriminalität und Verwahrlosung gewinnen lässt, erweist er sich dank seines herausragenden Intellekts als Überlebenskünstler. Und als Wunderkind. Denn allein durch autodidaktische Schulung gelingt ihm das, woran zahlreiche Wissenschaftler und Experten seiner Zeit verzweifeln: Er vermag es, die Keilschrift der alten assyrischen Kultur auf ihren überlieferten Tontafeln zu entziffern. Ist hiervon geradezu besessen. Und macht dabei eine Entdeckung, die sein Leben für immer verändern und weltweite Aufmerksamkeit erregen wird.
Narin ist ein junges ezidisches Mädchen, das gemeinsam mit ihrer Familie in ihrem Heimatdorf im Südosten der Türkei lebt. Der Bau des Ilisu-Staudamms bedroht nicht nur ihr Zuhause sondern auch die ezidische Gemeinschaft, Bräuche und Kultur, so dass ihre Familie beschließt, sie im Land ihrer Vorfahren, im heiligen Lalisch-Tal taufen zu lassen. Doch es ist das Jahr 2014, und Narin, ihr Vater und ihre über alles geliebte Großmutter werden Zeugen und Opfer des furchtbaren Genozids an den Eziden, der sich vor den Augen der Welt in aller Öffentlichkeit vollzieht.
Und schließlich ist da Zaleekah, Tochter einer Einwanderin aus dem Nahen Osten und aufgrund ihrer Herkunft, des frühen Todes ihrer Eltern und ihrer Kindheit und Jugend im Hause ihres dominanten Onkels in London verwundet und schwer traumatisiert. Die Begegnung mit Nen, einer Tätowiererin, Historikerin und bald einzigen Vertrauten Zaleekahs ändert für die junge Frau alles. Und gibt ihr die Stärke und Mut, welche sie all die Jahre nicht spüren konnte.
Die Figuren dieser Geschichten sind miteinander verbunden wie Tautropfen auf einem Spinnennetz. Es ist das Wasser als das Jahrhunderte und Jahrtausende überdauernde Element, das diese Brücken durch Zeit und Raum schlägt. Und es ist ein Gedicht, dessen Ursprung in Mesopotamien liegt. Und bis heute Menschen aller Herkunft und Länder in seinen Bann zieht.
Was daraus wird: etwas Großes! Ein Sog, der einen beim Lesen nicht mehr loslässt. Und ein Strudel, der in die erzählerischen Tiefen zieht. Und die Wellen über Dir zusammenschlagen lässt. Der Roman hat mir so viel gegeben. Und Elif Shafak mir ein neues Lieblingsbuch.

Bewertung vom 09.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Beeindruckend, erschreckend, hochaktuell – und ein Spiegel und Ausblick dessen, was geschehen kann und wird, wenn wir nicht wachsam sind. Und uns nicht einsetzen und kämpfen für unsere Demokratie. Unsere Werte. Für die Menschlichkeit.
Irland wird zum totalitären Staat! Erst langsam, schleichend, sich zunehmend überschlagend in Geschwindigkeit, Grenz- und Rechtsüberschreitungen, in Morden, Verschleppungen und Folter. Und Eilish ist mit ihrer Familie mittendrin – in Dublin, in dem Schrecken, Grauen und der Unmöglichkeit des Begreifens, Verstehens. Zu gewaltig ist das, was geschieht, zu absurd scheinen allein die Gedanken an das, was sich gerade vor den eigenen Augen vollzieht.
Eilishs persönlicher Albtraum, der Krieg in ihrem Inneren und Außen, beginnt mit der Verhaftung ihres Mannes Larry, eines Gewerkschafters, seinem spurlosen Verschwinden. Und dann geht es Schlag auf Schlag, Einschlag folgt auf Einschlag, auf Erschütterung, Detonation. Ihr ältester Sohn Mark soll zum Militärdienst eingezogen werden, Schule und Studienpläne werden zerstört – und schon ist Eilish mitten im Kampf um ihre Familie, deren Zukunft, ihr gemeinsames Überleben. Doch wird sie zunehmend machtlos, Willkür und Terror, Entsetzen und Trauer schutzlos ausgesetzt – bis auf einmal ihr gesamtes Leben in Trümmern liegt, im Staub des Zements, in den Überresten und der Zerstörung von Bombardement und Entmenschlichung.
Die Handlung, der Fortgang der Geschichte ist teils kaum zu ertragen. Und das ist gut so! Denn bei aller Fiktion ist der Roman so erschreckend, da erschreckend realistisch und zunehmend vorstellbar. Und er rührt an unseren Urängsten: dem Verlust des Zuhauses, dem Tode unserer Liebsten, dem Ausgeliefertsein der Gewalt, Willkür und Gesetzlosigkeit.
„Das Lied des Propheten“ ist so wichtig, gerade jetzt!