Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
leseleucht
Wohnort: 
Alfter

Bewertungen

Insgesamt 102 Bewertungen
Bewertung vom 11.06.2022
Ein unendlich kurzer Sommer
Pfister, Kristina

Ein unendlich kurzer Sommer


ausgezeichnet

Paralleluniversen
Lale steigt in einen Zug und fährt bis zur Endstation. Sie landet auf einem Campingplatz. Es ist Sommer. Sie ist am Ende der Welt.
Christophes Mutter ist gerade gestorben. In einem Buch findet er beim Aufräumen einen 38 Jahre alten Brief seiner Mutter an den Mann, der eigentlich sein Vater ist. Er steigt in ein Flugzeug und fliegt ans Ende der Welt, auf einen Campingplatz.
Gustav ist ein alter Mann, er sitzt am Ende der Welt auf einem Campingplatz und ist froh, dass er seine Ruhe hat. Bis zwei Menschen auftauchen in einem Sommer, der das Leben aller verändern wird.
Was als leichte Sommerlektüre beginnt endet als tiefgründige, aber auch tieftraurige Geschichte über das was man vom Leben lernen kann, vor allem von dem nicht gelebten Leben. Aber trotz aller traurigen Zwischentöne findet das Buch immer wieder zu einer locker leichten, heiteren Sommerstimmung zurück, den die Autorin dem Leser mit vielen Stimmungsbildern schmackhaft, fühlbar, hörbar und überhaupt mit allen Sinnen wahrnehmbar macht. Beim Lesen kommen immer wieder Erinnerungen hoch an eigene verbrachte Sommer, deren ganz eigene Stimmung plötzlich ganz präsent wird.
Auf einem Campingplatz mit seinen herrlich schrägen, skurrilen, aber umso liebenswerteren Figuren ereignen sich Dinge, die den Leser zum Schmunzeln, zum lauten Lachen, aber auch zum Nachdenken und zum Traurigsein bringen. Das Paralleluniversum an Ende der Welt wird immer wieder heimgesucht von den Einbrüchen der Wirklichkeit. Oder ist es das Paralleluniversum, das in die Wirklichkeit einbricht, um zu zeigen, dass die Wirklichkeit nicht vorgegeben ist durch das Vergangene, sondern manchmal einen guten Schubs in die Zukunft braucht, um neue Wege zu beschreiten.
Eine herrliche Sommerlektüre mit Tiefgang! Gut zu lesen mit den Füßen in einem See auf einem Campingplatz am Ende der Welt! Aber Achtung: Das Paralleluniversum könnte auch der eigenen Wirklichkeit einen guten Schubs geben!

Bewertung vom 23.05.2022
Gespräche mit einem Baum
Strolz, Matthias

Gespräche mit einem Baum


ausgezeichnet

Der Inhalt ist schnell wiedergegeben: Ein Mann philosophiert mit oder besser unter einem Baum über die großen Themen des Lebens: Herkunft, Sinn, Ziel, Sex, Macht, Geld, Erfolg … Prinzipiell eine schöne Idee: Bäume sind verwurzelt, ruhig und beruhigend. Genauso wie die Föhre des Autors. Dafür ist der Autor umso redseliger, sprunghafter und ein wenig selbstverliebt bzw. eitel. So durchschaut ihn auch der Baum im Buch. Der Mann reißt alle Themen an, ein bisschen hiervon, ein bisschen davon, eine Prise Schulz von Thun, eine Handvoll Zitate von Einstein, ein bisschen antike Philosophie, etwas moderne. Die Antworten bleiben oberflächlich, ein bisschen Zivilisationskritik (soziale Medien, Ausbeutung der Umwelt, Atombombe …), ein bisschen Resilienz, Achtsamkeit und Selbstfürsorge als Gegenmittel. Der Baum kommt selten zu Wort, er darf eher dem Monkey Mind des Autors als Plattform oder eher Klettergerüst für die wie Affen umherspringenden Gedanken dienen. Wer Weisheiten wie „Alles ist mit allem verbunden.“ oder „Ein Geheimnis ist ein Geheimnis.“ mag und wer es sich leisten kann, immer, wenn er sich im Stress fühlt, in seinen „Gedankenhelikopter“ oder auch einen echten Flieger zu steigen, um eine Auszeit vom Alltag und von sich selbst zu nehmen, der wird hier Antworten bzw. sich wieder-finden.

Bewertung vom 25.04.2022
Momente des Glücks / Modehaus Haynbach Bd.4 (eBook, ePUB)
Winter, Elaine

Momente des Glücks / Modehaus Haynbach Bd.4 (eBook, ePUB)


gut

Viel Herzschmerz, sonst aber eher wenig

Hauptfigur dieses Bandes aus der Reihe „Modehaus Haynbach“ ist Gigi, eine Freundin der beiden Haynbach Schwestern Viktoria und Mabelle, die mit gebrochenem Herzen aus Paris zu den Schwestern nach München flieht und den Männern abschwört, nur um sich dann entscheiden zu müssen, ob sie ihrem Herzen trauen kann, dass für den Schaupieler Leo Fürst oder für den italienischen Geschäftspartner des Modehauses schlägt.

Die Figuren sind ganz sympathisch, vielleicht etwas überspannt. Sie wünschen sich von ihren Partnern, was sie selbst nicht können: stark sein, klare Entscheidungen treffen und dazu stehen ohne Zögern und Zweifel. Damit sind sie – trotz aller Offenheit und Berufstätigkeit – nicht unbedingt Musterbilder der Emanzipation.

Die Schauplätze sind durchaus stimmungsvoll, wobei dem warmen, lebensfrohen Italien gegenüber dem etwas überkandidelten München klar der Vorzug zu geben ist und für ein wenig Urlaubsflair sorgt.

Was mir persönlich fehlt, ist eine deutlicher historische Atmosphäre, gelebtes Zeitkolorit. Zwar fallen ein paar Namen und Titel damaliger Schauspieler, Filme oder Musiktitel, wird ein Zeitungsartikel zur Rolle der perfekten Hausfrau angeführt, tauchen italienische Gastarbeiter auf und wird der Grundstein zur Berliner Mauer gebraucht. Doch bleiben dies alles Randnotizen, die den Leser nicht wirklich in eine bestimmte Epoche eintauchen lassen.

Und am meisten vermisse ich eine Handlung, die den Leser in ihren Bann zieht. Es geht immer wieder um Gefühl, um Liebeskummer, um Beziehungskummer, um Erziehungskummer. Zarte Bande werden geknüpft und wieder durchschnitten, verletzter Stolz, Sehnsucht, Angst vor Einsamkeit nehmen viel Platz ein. Aber es passiert nicht viel. Immer wenn die Geschichte an Dramatik gewinnt, so z. B als Sophie, Mabelles 13jährige Tochter, spurlos im Münchener Nachtleben verschwindet oder als Richard, Mabelles und Viktorias Bruder, auf einmal in Ostberlin durch den beginnenden Mauerbau festsitzt, wird die Spannung drei Seiten später recht banal wieder aufgelöst.

Wer Herzschmerz mag und modebegeistert ist, kann sein Leserhirn hier gern in Urlaub schicken. Wer an Familiensagas eher die lebendige Geschichte schätzt, wird in anderen Buchreihen besser aufgehoben sein.

Bewertung vom 18.04.2022
Das Glück riecht nach Sommer
Werkmeister, Meike

Das Glück riecht nach Sommer


gut

Sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht, sie liebt ihn …

Ina hat ihr altes Leben aufgegeben, die Beziehung ist zerbrochen, den Job an der Klinik in Husum hat sie geschmissen. Sie nimmt einen zweiten Anlauf in Hamburg: Dort will sie als Ärztin arbeiten oder nicht? Dort will sie in der WG ihrer Freundin Filiz einziehen, bis sie etwas Eigenes gefunden hat, oder nicht? Dort lebt Tim, auch Arzt und ihr einstiger Mentor im Praktikum, den sie liebt oder nicht? Dort trifft sie auf Sebastian, ihren alten Schulfreund, mit dem sie eine Beziehung eingeht oder nicht? Sollte sie vielleicht doch zurückkehren zu ihrer Familie an der Nordseeküste in der Nähe von St. Peter-Ording und sich um ihre kranke Schwester kümmern oder doch nicht? Viele Fragen stellen sich Ina auf dem Weg in ihr neues Leben, auf die es eine Antwort zu finden gilt. Dabei helfen ihr die Begegnungen mit ihren alten Freunden und Bekannten, aber auch neue Bekanntschaften, die sie der WG von Filiz macht und in einem kleinen verwahrlosten Schrebergarten, der mit zur WG gehört und den auf Vordermann zu bringen ihr einige eigenwillige Nachbarn in der Schrebergartenkolonie tatkräftig helfen.
Zum Glück sind die meisten Fragen, die sich Ina stellen, eher Luxusprobleme, da sich ja auch immer gleich eine Alternative findet. So muss der Leser sich nicht allzu große Sorgen um sie machen und kann das nette Schrebergarten- und WG-Ambiente mit seinen kauzigen Bewohnern genießen und sich von der Story treiben lassen. Dazu gibt es ein paar nette Verwicklungen und abwechslungsreiche Nebenschauplätze, garniert mit einer guten Prise hippem Hamburger Lifestyle, von der Basilikumlimo über das Paddeln auf der Außenalster bis hin zum Take-That-Konzert in der Elbphilharmonie. Was will man mehr für eine Zugfahrt zum Städtetrip nach Hamburg oder anderswohin oder für einen Nachmittag im Strandkorb an der Nordsee oder anderswo.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.04.2022
Die Diplomatenallee
Wieners, Annette

Die Diplomatenallee


gut

Ein Familienausflug in den Agentendschungel

Heike, jetzt verheiratet und Mutter zweier Kleinkinder, wurde einst von Professor Buttermann, seines Zeichens Experte für Graphologie, aus schwerer Kindheit gerettet und in die Geheimnisse der Handschriftenkunde eingeführt. Nach einem tragischen Zwischenfall im Institut, in den auch Heikes Bruder involviert ist, gibt sie ihre Karriere auf und zieht sich ganz ins Private zurück, wo sie mit ihrem Mann Peter einen Schreibwarenladen führt, der im Politikerviertel von Bonn gelegen ist. Solange bis sowohl der BND als auch die Stasi um Heikes überragende Fähigkeiten als Graphologin buhlen, geht es doch darum, dass die Ständige Vertretung der DDR in Bonn, die 1974 gegründet wird, ihre Mitarbeiter mit Hilfe ihrer Handschrift auf Loyalität überprüfen lassen will. Und der BND hat berechtigtes Interesse daran, mögliche Spion in den Reihen der StäV zu ermitteln. Heikes Familie und auch ihr Bruder werden zum Spielball der Machenschaften von Agenten. Und welche Rolle spielt dabei Professor Buttermann?
Die historischen Hintergründe und auch das Bonner Lokalkolorit stellen für mich die lesens- bzw. liebenswerten Seiten des Romanes dar. Die Rolle der StäV und der Graphologie in der BRD der 70er Jahre sind – wie die Autorin im kurzen historischen Nachwort selbst schreibt – eher unbekanntes Terrain und damit sehr reizvoll als Romanhintergrund.
Was für mich nicht so ganz passt und von daher bisweilen – unfreillig (?) - eine komische Wirkung erzielt, ist die Gestaltung der Figuren, die hier auf die harte Welt der Agenten trifft. Nehmen wir z. B. den Mann von Heike, Peter, auch von sich selbst als „Pipimädchen“ bezeichnet, der seine Familie beschützen will, in einen dubiosen Unfall einer Mitarbeiterin der StäV verwickelt wird und dann sogar in ein Handgemenge mit Schusswaffe, bis er sich schließlich zu seinem recht skurilen Freund Ilja zurückzieht. Auch Heike, ein durch ihre Kindheitserlebnisse traumatisierte Frau, die Angst vor ihrer eigenen Handschrift hat und sich nur nach Familiennormalität sehnt, will nicht recht zu der Frau passen, die als Doppelagentin agiert und zum Schluss bei nächtlichen Oberservationen im Eingang eines Parkhauses der Wohnblocks in der Pariser Straße, in der die Mitarbeiter der StäV Quartier genommen haben, fast ums Leben kommt.
Die Agentenstunts in dieser Roman fügen sich nicht wirklich in das Geschehen. So war ich mir beim Leser oft unsicher, ob ich in einem Agententhriller gelandet bin oder in einer Persiflage – gewollt oder eben unfreiwillig.

Bewertung vom 04.04.2022
Gretas Erbe / Die Winzerin Bd.1
Engel, Nora

Gretas Erbe / Die Winzerin Bd.1


gut

Wein, Weib und Gesang

Wein: Greta wird groß auf dem Weingut der Familie Hellert, das stets um seine Existenz ringt und in Konkurrenz zu dem Weingut der Freudenbergs steht, dem das Glück sehr viel holder zu sein scheint. Wer wird am Ende die Nase vorn haben?

Weib: Nicht nur als Frau, sondern auch als uneheliches Kind und als Waise, da ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben und der Vater unbekannt ist, hat Gretas es schwer. In der Familie Hellert, weil sie eher Dienstmagd, Kindermädchen und Arbeiterin ist, denn Ziehtochter. In der Gesellschaft der 70er Jahre, weil diese den Frauen, die Selbstbestimmung, beruflichen Aufstieg, finanzielle Unabhängigkeit und eine eigene Meinung für sich einforderten, mehr als kritisch gegenüberstanden. So darf Greta doch nicht das lang erstrebte Abitur machen, sondern wird von ihrem Ziehvater zur Weinbauschule geschickt, um der Familie als billige Fachkraft zu dienen. Denn wirklich dazu gehören tut Greta nicht. Erst am Ende des ersten Teils dieser Reihe scheint sich ihr Schicksal zu wenden: was wird sie anfangen mit der ersehnten Freiheit?

Gesang: Dafür steht Robert, der zweitälteste Sohn der Hellerts, auch einer, der sich nicht in die Familien fügen will. Statt einer Banklehre macht er lieber Musik und strebt nach einer großen Karriere, sodass es zum Bruch mit der Familie kommt. Er verliebt sich in Elsa. Aber sie ist noch nicht volljährig und er finanziell nicht abgesichert. Hat ihre Liebe eine Zukunft?

Die Atmosphäre der 70er Jahre fängt der Roman gut ein, sei es gesellschaftlich – die Sternkampagne: Ich habe abgetrieben, sei es kulturell – siehe die Playlist am Ende des Buches, sei es historisch - das Attentat bei den Olympischen Spielen in München, sei es alltags- und sittengeschichtlich – so z. B. die elektrische Trockenhaube, die es der Hausfrau ermöglicht, sich die Haare bei Verrichtung ihrer hausfräulichen Pflichten schön zu machen.
Der Stil ist gut lesbar, die Figur von Greta sympathisch und die Ereignisse in der Familie Hellert mit den vier Kindern neben Greta, die zum Teil schon ihre eigenen Familien gründen vielseitig und unterhaltsam. Das Buch hält sein Versprechen auf gute, kurzweilige Unterhaltung. Am Ende kommt auf Greta eine schwere Entscheidung zu, die aber offenbleibt. Ein guter Cliffhanger zum Weiterlesen von Band 2!

Dass die Figuren insgesamt etwas sehr klischeehaft sind, vor allem die Familie Hellert mit Ausnahme von Robert, dem Musiker, und Matse, dem sehr weiblichen Nesthäkchen, allesamt geifernde Spießbürger und Sittenwächer in bigottester Art und Weise, hat eher ein komische als eine störende Note. Als ironisch übertriebenes Sittengemälde lassen sie sich herrlich komisch betrachten.

Etwas ermüdend ist die ziemlich gefühlsduselige Beziehung zwischen Robert und Greta, die sich immer gegenseitige Liebe schwören, aber doch nicht zu einander finden. Da wäre nach meinem Geschmack etwas weniger Hin und Her mehr gewesen.

Wer nach guter Unterhaltung und Abwechslung und einer Auszeit vom Alltag sucht, ist mit dem Roman „Gretas Erbe“ gut beraten. Eine Familiensaga im Winzermilieu vor dem Hintergrund der 70er Jahre ist da auch mal eine willkommene Abwechslung zu den vielen anderen Familiengeschichten in Romanform.

Bewertung vom 23.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


sehr gut

Für die Hungrigen eher als für die Satten
Der Autor porträtiert mit großer Kennerschaft das Jahr 1923 monatsweise und gibt im Anhang einen Ausblick, „wie es weiter geht“, indem er kurze Porträts der historischen Figuren gibt, die im Buch vorher in die Ereignisse involviert waren oder die die Ereignisse überhaupt erst angestoßen haben. Und es ereignet sich viel im Jahre 1923. Viele Figuren haben ihren Auftritt, seien es Privatpersonen mit bewegtem Schicksal oder seien es historische Persönlichkeiten, die bereits eine große Rolle spielen, wie Stresemann oder Hitler, wie Anita Berber oder Kurt Tucholsky, oder die noch eine große Rolle spielen werden, wie Sepp Herberger, der in diesem Jahr als Geldzähler inflationäre Eintrittspreise zählen muss, oder Victor von Bülow, Loriot, der in diesem Jahr geboren wird. Wie auch die Mutter des Autors.
Für jeden Leser ist etwas dabei und für jeden Leser liest sich – je nach Interesse – die eine Passage leichter als andere. So kommt der kulturell Interessierte auf seine Kosten, wenn es um die schönen Künste geht, die Literatur, Kafka, Fallada, Gorki, oder das Kino. Der am Leben des kleinen Mannes, um mit Fallada zu sprechen, Interessierte, wenn es um die Sorgen und Nöte, aber auch die Freuden des einzelnen geht, auch wenn letztere eher dünn gesät sind. Wie vergnügt er sich, aber auch wie viel kostet ihn ein Brot? Ganz besonders angesprochen werden die politisch und historisch Interessierten, die sich nicht von den permanent wechselnden Verhältnissen und Regierungen der Weimarer Republik abschrecken lassen. Diejenigen, die der Kampf Rot gegen Braun interessiert, aber auch der gemeinsame Kampf gegen Franzosen im Ruhrpottstreik, wobei das Gemeinsame nicht wirklich verbindend ist. Auch die Inflation ist ein spannendes sowie aktuelles Thema. So hält sich der heutige Leser vor Augen, wie schlimm es einmal mit der Inflation gekommen ist und was wahrer Mangel in den Regalen der Läden, was realer Hunger und reale Not bedeuten. Auch wenn er sich dabei doch nicht ganz losmachen kann von dem Blick auf das, was ihn heute vielleicht doch einmal wirklich bedrohen könnte. So schwankt er zwischen dem Glück, das ihn damit getroffen hat, ein Hundertjahrenachherlebender zu sein, und der flehentlichen Hoffnung, ihn mögen solche Verhältnisse verschonen. Ein Blick über den Tellerrand jedoch hilft gegen den Egozentrismus, der im eigenen Leid immer das größte sieht, auch wenn es nur die vorübergehende Abwesenheit von Mehl, Speiseöl oder Klopapier ist. Worauf der Leser sich dabei allerdings einlassen muss, ist das „Ragout“, wie es der Theaterdirektor seinem Dichter und dem Narren schon in Goethes „Faust“ im Prolog abverlangt. Er muss sich einlassen auf ein buntes Durcheinander von Personen, von Ereignissen, von Anmerkungen zu einem Jahr in einer nicht immer ganz so anderen Zeit, von dem ihm eventuell der eine Happen besser munden wird als der andere. Aber für jeden ist auf jeden Fall etwas dabei. Und jeder wird seinen Lesehunger und seinen Wissensdurst, so er sich diesen in einer satten Zeit bewahrt hat, für eine Zeit – bis zum nächsten Buch – stillen können.

Bewertung vom 02.03.2022
Die Tochter der Zarin / Die Zarin-Saga Bd.2
Alpsten, Ellen

Die Tochter der Zarin / Die Zarin-Saga Bd.2


sehr gut

Historischer Schmöker in bewährter Manier
Der Inhalt des Romans ist schnell wiedergegeben: Elisabeths Kampf um den Zarenthron. Die Geschichte enthält alle Ingredienzien eines historischen Schmökers für lange Leseabende auf dem Sofa oder im Bett: Liebe, Mord, Rache, Intrige, Spannnung, Verzweiflung ... Dabei nimmt die Autorin den Leser mit auf die Reise in die russische Geschichte und die russische Seele: Ränke um den Zarenthron, politische Interessen, internationale Verwicklungen, die Opulenz des Palastlebens, aber auch die Kargheit des russischen Bauernlebens. Der Leser erfährt einiges über das breite Spektrum gesellschaftlichen Lebens, russische Bräuche und russischen Aberglauben. Das Buch selbst schafft immer wieder eine dichte Atmosphäre, auch immer wieder mystisch angehaucht: dunkle Vorzeichen, Prophezeiungen spielen eine Rolle. Einziger Kritikpunkt: Die epischen Schilderungen der Stimmungen sind bisweilen sehr bildüberfrachtet, und dann stockt der Lesefluss. Wenn die Autorin auf diese Stimmungsmetaphorik verzichtet, erzeugt sie einen Lesefluss, der den Leser geradezu in die Zeit und das Leben der Elisabeth hineinzieht. Wer also 600 Seiten und ein dichtes Beziehungsgeflecht einer Vielzahl von Figuren nicht scheut, wird hier auf seine Kosten kommen.

Bewertung vom 10.10.2021
Die Übersetzerin
Lecoat, Jenny

Die Übersetzerin


sehr gut

Beklemmend
Hedy ist Jüdin aus Österreich und vor der Verfolgung durch die Deutschen nach der Annektion Österreichs auf die Kanalinsel Jersey geflohen, nur um dort von ihrem Schicksal wieder eingeholt zu werden, als die Deutschen die Insel besetzen. Genötigt von den harten Umständen der Besatzung, dem Mangel an Kleidung und Nahrung, bewirbt sie sich um eine Stelle – ausgerechnet bei den deutschen Besatzern – als Dolmetscherin, da sie sowohl Deutsch als auch Englisch spricht. Als sie dort dem Wehrmachtsoffizier Kurt Neumann begegnet und beide sich gegen alle Widrigkeiten in einander verliebten, beginnt beider Kampf um Hedys Rettung. Denn mit Verschlechterung der Kriegslage für die Deutsche gerät Hedys Leben immer mehr in Gefahr. Aber die drohende Niederlage der Deutschen, Rettung für Hedy, bedeutete für Kurt den möglichen Tod. Hat die Liebe der beiden überhaupt eine Zukunft?
Basierend auf einer historischen Begebenheit schildert die Autorin den entbehrungsreichen, unmenschlichen und scheinbar aussichtslosen Kampf der Menschen unter den Bedingungen des Krieges. Die vermeintlich friedliche Insel Jersey mit ihrer wildromantischen Naturkulisse und dem ländlich-bäuerlichen Leben entpuppt sich bald als Falle für Hedy und alle die, die ihr helfen. Zum einen erscheint jeglicher Fluchtversuch unmöglich, zum anderen gehen allen Inselbewohnern bald die notwendigen Dinge zum Leben aus. Und der Leser kämpft sich mit ihnen durch Kälte, Hunger und Aussichtslosigkeit, die in der Frage Dorotheas, Hedys Freundin und Retterin, bei der sie sich versteckt hält, gipfelt: Haben wir bis jetzt den Krieg überlebt, um am Hunger zu sterben? Immer wieder leuchten kleine Funken der Hoffnung auf, ein Ferkel, das geschlachtet werden kann, ein paar illegal erworbene Fische, die den Hunger stillen, aber immer wieder müssen auch neue Gefahren überwunden werden: Hedy muss sich im Haus der Freundin verstecken, ihre Anwesenheit darf von keinem Bewohner bemerkt werden und, als die Nazis ihr auf die Spur kommen und Dorotheas Haus unter die Lupe nehmen, müssen Hedy und Kurt einen Plan ersinnen, um Hedys Leben zu retten.
Doch nicht in einer rasanten Abenteuerjagd rast der Leser durch die Geschehnisse, er ringt sich mit den Protagonisten durch das zähe Warten auf Rettung. Beklemmend spitzt sich die Ausweglosigkeit immer weiter zu. Selbst die Momente größter Spannung unterliegen einer Art Lähmung, die auch den Leser erschöpft.
Atmosphärisch ist dieser Roman beklemmend und auf recht unspektakuläre Art grausam. Das Schicksal der beiden Freundinnen geht dem Leser nahe. Hingegen bleibt die Figur Kurt Neumann ein wenig blass. Zu unproblematisch trennt sich sein Leben in das des deutschen Wehrmachtoffiziers von dem des Geliebten der Jüdin Hedy. Gerade im Spannungsfeld dieser Figur hätten sich ein paar interessante Fragen nach Gefühlen und Gedanken aufgetan. Gerade hier hätte es interessante Ansatzpunkte um die Frage nach Schuld und Verantwortung gegeben.
Aber insgesamt kann man auch in diesem Roman wieder feststellen, dass das wahre Leben die „besten“ Geschichten schreibt: Der Plot der Verwicklungen, bei dem niemand als Gewinner aus der Sache herauskommen zu können scheint, verdeutlicht dem Leser, wie unberechenbar das Schicksal ist.

Bewertung vom 03.10.2021
Berlin Friedrichstraße: Novembersturm / Friedrichstraßensaga Bd.1
Schweikert, Ulrike

Berlin Friedrichstraße: Novembersturm / Friedrichstraßensaga Bd.1


sehr gut

Geschichts- und LIteraturunterricht in seiner schönsten Form!
Berlin in den goldenen Zwanzigern - die vier Freunde Johannes, Robert, Ilse und Luise sowie ihr stilles Anhängsel aus dem Hinterhaus, Ella, sind zusammen aufgewachsen. Ihre Lebensläufe haben sich durch den Ersten Weltkrieg getrennt, aber die spannungsreiche Zeit der Weimarer Republik bringt sie einander wieder näher, in Liebe, Eifersucht, Freundschaft und Verrat.
Anhand dieser fünf Lebensausschnitte ersteht das Berlin der Zeit um die Jahrhundertwende bis hin zum Aufstieg der Nationalsozialisten dem Leser lebendig vor Augen.
Dadurch dass diese Lebensläufe so unterschiedlich sind und uns in ganz verschiedene soziale Schichten, aber auch in ganz unterschiedliche Milieus führen, eröffnet sich dem Leser die ganze Spannbreite damaligen Lebens, und es wird nie langweilig: Da ist Johannes, der verspätete versehrte Kriegsheimkehrer, der nicht mehr in sein altes gut bürgerliches Leben zurückfindet, sondern als Kioskbesitzer einen ganz neuen Lebensentwurf für sich entwickelt; Robert, einst sein bester Freund, der - auch ehemaliger Soldat - recht erfolgreich an sein Vorkriegsleben anschließen kann und als Architekt erfolgreich ist; Ilse, die Schwester von Johannes, die als Modeschöpferin und eher den Frauen als den Männern zugeneigt den Leser mitnimmt in die buntschillernde, aber auch sündige Berliner Nacht- und Nebenwelt der Varietés und Kinos; und Luise, die Frau zwischen Johannes und Robert, die sich schließlich für Robert entscheidet und sich damit auch entscheiden muss für Beruf oder Familie; und zu guter letzt Ella aus dem Hinterhof, die sich mit ihrem unehelichen Sohn durchschlagen muss, nachdem sie seinetwegen ihrer Anstellung als Verkäuferin verloren hat und nun auf die Hilfe ihres kleinkriminellen Bruders Paul angewiesen ist. Die Figuren gehen auf jeden Fall zu Herzen, jede ist auf ihre Weise sympathisch, hat Stärken und Schwächen und nimmt den Leser mit auf diese turbulente Lesereise. Manchmal sind die Verwicklungen und Schicksalsschläge allerdings doch ein wenig zu dramatisch und "ein wenig drüber". Die Unterhaltung hätte auch ohne das ganz große Drama gut funktioniert, was aber verzeihlich ist angesichts der großen Stärke dieses Romans: Eine Vielzahl an historischen und kulturell bedeutenden Personen aus Literatur, Musik, Kino, Varieté, Lifestyle, Sport und Politik bevölkern den Roman und gestalten ein anschauliches Panorama der Zeit. Man lernt viel, erfährt Neues oder entdeckt Bekanntes wieder: die Künstlersalons in Berlin, das schillernde Nachtleben, das uns zeigt, das Diversität kein ganz so aktuelles Thema ist, wie man denken könnte, die Comedian Harmonists, die Rennstrecke Avus, aber auch die politischen Unruhen der Weimarer Republik, die schnell wechselnden Reichskanzler, die Auseinandersetzung zwischen Roten und Braunen, aber auch die immer wieder eingestreuten Rückblicke in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs und auf die Situation der hungernden Bevölkerung zu Hause, die Arbeitslosigkeit, die Armenküchen, Obdachlosenheime usw. vermitteln ein für einen Unterhaltungsroman außerordentlich differenziertes, gut recherchiertes und fundiertes Bild der Epoche. Eine gelungene Lehrstunde in Sachen Zeit- und Kulturgeschichte, die auf unterhaltsame Art mehr Wissen als so mache Geschichtsstunde zu vermitteln vermag!