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Top-Rezensenten Übersicht

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Miro76
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Österreich

Bewertungen

Insgesamt 142 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2022
Ellis
Mariani, Selene

Ellis


sehr gut

Ellis ist in Italien geboren und hat dort ihre ersten Lebensjahre verbracht, bevor sie mit ihrer Mutter in deren Heimat Deutschland übersiedelte. Zweisprachig aufgewachsen, mit einem Fuß in Italien und einem in Deutschland ist sie immer irgendwie fremd. Da fragt man sie, wo sie herkommt, dort wird sie wie eine Touristin behandelt.

In der Schule wurde sie schwer gemobbt, bis ein neues Mädchen in ihrem Haus einzieht und in ihre Klasse kommt. In Grace findet Ellis endlich eine Freundin. Doch diese Freundin entpuppt sich als wenig vertrauenswürdig, denn immer wieder schließt sie sich dem Klassenmob an und verletzt Ellis zutiefst.

Als sie sich Jahre später wieder begegnen, schließt sich Ellis ihr nicht vorbehaltlos an. Die alten Zweifel nagen und Grace hat sich auch nicht völlig verändert.

Selene Mariani erzählt uns Ellis Geschichte sehr fragmentarisch. In kurzen Kapiteln springt die Erzählung durch die Zeit und durch die Länder. Man muss aufmerksam lesen, damit sich die Geschichte zusammensetzt und wir bekommen einen tiefen Einblick in diese leicht toxische Beziehung zwischen den Mädchen bzw. zwischen den beiden Frauen.

Die vielen Auslassungen geben uns Leser*innen Raum für eigene Gedanken und Gefühle. Das hat mir prinzipiell gut gefallen, wird aber gegen Ende hin doch etwas zu weit getrieben. Wenn ein ganzes Gespräch nur mehr in Satzfragmenten zu finden ist, dann fühle ich mich damit doch etwas verloren. Schlußendlich hängen Ellis und Grace am Ende irgendwie in der Luft und bleiben meiner Fantasie überlassen. Deshalb ziehe ich bei meiner Bewertung auch einen Stern ab. Ansonsten war es ein intensiver Lesegenuss.

Bewertung vom 21.07.2022
Violeta
Allende, Isabel

Violeta


ausgezeichnet

Violetta del Valle ist 1920 in Santiago de Chile geboren und in relativem Wohlstand aufgewachsen, bis Vaters Spekulationen die Familie in den Ruin trieben und ihn in den Selbstmord. Um der Schande zu entgehen flieht die Familie auf ein Landgut weit im Süden des Landes in die Verbannung.

Doch was als Verbannung beginnt, wird später zur Heimat. Den Landsitz wird Violetta nie aufgeben und er wird ihr immer wieder Zuflucht bieten in stürmischen Zeiten.

Violetta del Valle darf 100 Jahre lang leben. Von Pandemie zu Pandemie sozusagen, denn geboren wurde sie, während die spanische Grippe wütete und gestorben ist sie, während der Isolation durch Corona.

Ihr Leben war geprägt vom Geist der Freiheit. Für Frauen war es damals nicht selbstverständlich, ihr eigenes Geld zu verdienen und als sie ihren ersten Mann verlassen hat, musste sie ihm all ihren Wohlstand überlassen, denn sie hatte kein Recht auf ihre Konten. Diesen Fehler wird Violetta kein zweites Mal begehen.

Ihr Begegnen alle möglichen Arten von Ungerechtigkeiten und so wird sie im Alter für Frauen kämpfen, für Bildung am Land, für die Abtreibung und auch für die Indigenen, denen noch weniger Rechte zugestanden werden, als den Frauen.

Ihren Lebensweg kreuzen die verschiedensten Menschen. Da gibt es große Ganoven, sie verstrickt sich fast in Drogengeschäften, bekommt mit der Colonia Esperanza zu tun und immer wieder auch mit der Politik, die in diesem Jahrhundert in Chile kaum zur Ruhe kommt. Die großen Umwälzungen stehen hier nicht im Vordergrund, werden aber immer wieder thematisiert, weil sie auch den Alltag von apolitischen Personen tangieren.

Mit Violetta porträtiert Allende eine Frau, die Zeit ihren Lebens ihren Visionen folgte, sich engagiert für Frauenrechte, aber nie all zu politisch ist. Dadurch stehen auch ihre Lieben im Vordergrund und ihre Art zu leben, die ihrer Zeit immer einige Schritte voraus war. Die Zeitgeschichte mit den politischen Umbrüchen, der Militärdiktatur und deren Sturz werden nicht analysiert. Sie werden thematisiert, weil niemand der Schreckensherrschaft entkommen konnte. Allende informiert mit diesem Buch und bietet Denkanstöße sich tiefer mit der chilenischen Geschichte zu befassen, ohne dabei zu sachlich zu werden. Violetta ist ein Roman über eine interessante Frau. Es ist ein emotionales Buch, die Schicksale berühren mich als Leserin und gleichzeitig kann ich dabei meinen Horizont wieder ein Stück erweitern.

"Noch mit siebenundneunzig fühlte ich mich nicht alt, weil ich meine Vorhaben verfolgte, neugierig auf die Welt war und mich angesichts einer geschlagenen Frau empören konnte. Ich dachte nicht an den Tod, weil das Leben mich begeisterte." (S. 387)

Bewertung vom 19.07.2022
Dämmerstunde
Sok-Yong, Hwang

Dämmerstunde


ausgezeichnet

Bak Minu ist ein erfolgreicher Architekt, der ins letzte Viertel seines Lebens eintritt. Ein Kollege stirbt an Krebs und eine alte Freundin lässt von sich hören. Das veranlasst ihn, sein Leben Revue passieren zu lassen.

Uhi Dschong hat ihr Studium beendet und versucht im Theater Fuss zu fassen. Sie lebt in prekären Verhältnissen, denn sie kämpft für ihren Traum, der leider kein Essen auf den Tisch bringt. Doch sie kennt ihre Prioritäten.

Durch diesen zwei gegenteiligen Lebensentwürfen zeigt uns Hwang Son-Yong wie man in Seoul leben kann.

Bak Minu ist ein Aufsteiger. Früh war ihm klar, dass der Weg aus dem Slum nur durch Bildung möglich ist. Mit Ausdauer, Ehrgeiz und einen großen Stück Glück ist ihm das hervorragend gelungen. Doch seine Ehe ist zerrüttet, seine Frau und Tochter leben einen Ozean entfernt und Freunde hat er auch nicht sehr viele. Einsamkeit beginnt ihn bereits zu umgeben.

Die Bewohner des Berghangslums hingegen sind fast wie eine große Familie. Allein ist man da selten, aber der Alltag ist auch geprägt von Arbeit, Entbehrungen und Gewalt; die Möglichkeiten sich aus dem Sumpf zu arbeiten begrenzt.

Mit Dämmerstunde zeichnet der Autor ein Porträt der Gesellschaft Seouls. Da sind die Slumbewohner, die aus verschiedensten Gründen auf den Berghängen gelandet sind und die der Willkür der Stadtverwaltung ausgeliefert sind. Da ist die Mittelschicht, der es kaum besser geht. Arbeiterrechte und faire Bezahlung sind ein Traum, der vielleicht irgendwann Realität wird. Und da ist eine Oberschicht, die ihre Wurzeln vergessen hat und eine Dekadenz auslebt, als gäbe es nichts als Profit.

Was einem am Ende des Lebens dämmert, hängt davon ab, welch ein Mensch man war.

Auch dieses Buch des Autors hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es liest sich etwas eigenwillig. Die abwechselnden Erzählstimmen verwirren anfangs, aber es fügt sich alles am Ende. Der Autor spielt hier ein bisschen mit Namen, Zugehörigkeiten und Zeitebenen. Als Leser*in muss man einfach nur geduldig sein. Er hält seine Fäden gekonnt in der Hand und am Ende hat Sok-Yong eine interessant Geschichte erzählt und sämtliche Wirrnisse beseitigt!

Bewertung vom 03.07.2022
Der Fluss ist eine Wunde voller Fische
Salazar, Lorena

Der Fluss ist eine Wunde voller Fische


sehr gut

Mutter und Sohn fahren in einem motorisierten Kanu den Rio Atrato hinauf. Mit dem Schnellboot würde diese Reise keinen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Doch so eilig haben es die beiden nicht, denn sie sind unterwegs zur leiblichen Mutter des Jungen.

Es begleiten sie Verlustangst, Fragen nach der Mutterschaft im Allgemeinen und die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Jahre.

So wie der Fluss in stetigem Strom dahinzieht, so plätschern auch die Erinnerungen an die eigenen Kindheit, die plötzliche Mutterschaft ohne die Mühen des Gebärens und die Kindheit des Jungen. Mal wird anderen Reisenden erzählt, mal sind es Gedanken die um diese Themen kreisen.

Das Buch besticht weniger durch die Handlung, als durch die dichte und düstere Atmosphäre die die Reisenden durch alle Dörfer begleitet und schließlich im Zusammentreffen der beiden Mütter mündet.

Lorena Salazar entwickelt durch ihre Schreibweise einen eigenwilligen Sog, der den Lesefluss antreibt. Trotz anspruchsvoller, äußerst lautmalerischer Sprache, wird man immer mehr in diese Erzählung hineingezogen, die einen nicht mehr loslässt. Genau wie die Strömung eines starken Flusses muss man einfach bis zur Mündung folgen und selbst dann verlässt einen die düstere Stimmung nicht sofort. Diese Wunde voller Fische hallt lange nach!

Bewertung vom 20.06.2022
Landpartie
Shteyngart, Gary

Landpartie


gut

Der Schriftsteller Sasha Senderovsky möchte das Virus in seiner Bungalowsiedlung am Land aussitzen. Dazu lädt er auch seine besten Freunde aus Studientage ein, deckt sich mit besten Lebensmittel und Alkoholika ein und erwartet eine aufregende Zeit in der Abgeschiedenheit.

Wer hätte sich das damals im Frühling 2020 nicht auch so gewünscht?

Dieser Klappentext hat mich sofort angesprochen und ich habe mir lange Abende unter Freunden vorgestellt, mit tiefsinnigen Gesprächen und schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen.

Doch so kommt es nicht in diesem Buch. Denn die Gäste sind gar nicht alle Freunde. Unter ihnen ist eine ehemalige Studentin Senderovskys und ein berühmter Schauspieler, der nicht namentlich genannt wird. Diese beiden bringen ordentlich Wirbel in die Gemeinschaft und das Ganze wird zu einer Farce durch wechselnde Liebschaften.

So plätschert der Roman dahin. Manchmal konnte ich mich köstlich über die Irrungen und Wirrungen der Pandemieneulinge amüsieren. Lustig fand ich auch die Verschwörungstheorien, die ja um die ganze Welt gingen und manchen Aberglauben über Ansteckungswege und Abstände.

So fand ich die ersten beiden Abschnitt sehr unterhaltsam. Aber da nicht wirklich mehr kam, war dieses Thema irgendwann erschöpft und deshalb konnte mich die Geschichte ab der Hälfte immer weniger fesseln.

Das tragische Ende fand ich auch etwas eigenwillig erzählt. Darauf kann ich leider nicht näher eingehen, ohne zu viel zu verraten.

Als Einstiegslektüre über die Pandemie ist das Buch sicher geeignet. Es ruft Erinnerungen wach, ohne zu sehr zu beschweren. Man bleibt auf Distanz, weil die Gäste und Bewohner der Bungalowsiedlung auch nicht so viel von sich preisgeben.

Im Großen und Ganzen fand ich das Buch unterhaltsam, hatte mir aber mehr erwartet. Meiner Meinung nach, hat der Autor mit diesem Roman das Potenzial der Geschichte nicht ausgenützt. Da wäre mehr drin gewesen!

Bewertung vom 12.06.2022
Die Lüge
Franko, Mikita

Die Lüge


ausgezeichnet

Miki ist noch sehr klein, als seine Mutter den Kampf gegen den Krebs verliert. Nach dem Wunsch der Mutter kommt er zu seinem Onkel Slawa, der mit seinem Freund zusammenlebt.

Dass sich die beiden seit Jahren lieben, darf keiner erfahren, denn sonst darf Miki nicht bei ihnen bleiben. Für Miki ist es ganz normal, zwei Väter zu haben, doch schon als kleiner Junge muss er lernen, zu lügen und zu verschweigen.

Früh quälen ihn diese Spannungen, denn Miki braucht seine beiden Väter. Papa Slawa ist der, mit dem man fast immer Blödsinn machen und eine Menge Spaß haben kann. Papa Lew ist der, der darauf achtet, dass Regeln eingehalten werden, der aber wie ein Fels in der Brandung steht.

Die Lügen haben Miki immer zugesetzt. Er ist deshalb sogar mal von zuhause weggelaufen. Aber mit dem Älterwerden, wird es für Miki immer schwieriger diese inneren Konflikte zu tragen, bis die ganze aufgestaute Wut in einem Gewaltausbruch kulminiert.

Beim Lesen hat es mir fast das Herz gebrochen, mit welchen Sorgen ein so geliebtes Kind sich abplagen muss, nur weil eine Gesellschaft etwas als normal tituliert hat und etwas anders dadurch abartig sein soll.

Die große Liebe in der Miki aufwachsen darf und sich immer angenommen fühlen darf, trotz Streitigkeiten und verbalen Ausbrüchen, ist aus jeder Zeile zu spüren. Der Autor hat seine Figuren äußerst liebevoll gezeichnet und mutet ihnen einiges zu. Die Spannungen zwischen Innen- und Außensicht sind so eindringlich beschreiben, dass man sie beim Lesen selbst zu spüren meint.

Und dann setzt ihm auch noch die Pubertät zu und sein eigenes sexuelles Erwachen. Aber ein Kind, dass in großer Liebe aufwachsen darf, kann auch viel aushalten. Es tut weh, zu lesen, dass es so sein muss. Und noch trauriger ist, dass es nicht nur in Russland so wäre. Auch bei uns ist es am Land schwer vorstellbar, wie es einem Kind mit zwei Vätern oder zwei Müttern ergeht. Auch dieses Kind sieht sich wahrscheinlich mit einer Menge Vorurteilen konfrontiert.

Mir hat dieser Coming-of-Age Roman ausgesprochen gut gefallen. Ich habe mit Miki gelitten, mit Wanja gelacht, war auch ein bisschen verleibt in Slawa und hatte unglaublichen Respekt vor Lew.

"Die Lüge" ist ein emotionales Buch, das ein Stück weit Regenbogen in die Literatur bringt und ich empfehle es allen, die bereit sind die alten Stereotypen endlich fallen zu lassen.

Bewertung vom 06.06.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Happy Récré - glückliche Auszeit - heißt der Familienkanal, den Melanie bespielt seit ihre Tochter Kimmy 2 Jahre alt ist.

Melanie wollte immer berühmt sein. Als Teenager hat sie ihre Zeit damit verbracht, Reality Shows zu schauen und wollte ihren Idolen nacheifern. Sie hat es sogar mal durch ein Casting geschafft, wurde allerdings bei den Probeaufnahmen bereits wieder gefeuert. Sie war nicht extrovertiert genug. Sie war zu sehr auf ihre Grenzen fixiert.

Das sollte sich später ändern, denn Melanie tut alles, damit ihre Kinder berühmt und glücklich sind. Für ihre Vorstellungen gehören diese zwei Adjektive zwingend zusammen. Nebenbei scheffelt die Familie ordentlich Geld mit diesem Kanal, dessen Follower die Millionengrenze längt überschritten haben und schließlich durch die Decke gehen, als Kimmy vermisst wird.

In diesem Roman begleiten wir nicht nur Melanie und ihre Familie, sondern auch die Ermittlerin Clara. Eine patente Polizistin, die ebenfalls eine ungewöhnliche Kindheit hatte. Allerdings nicht im Internet. Die Kapitel über sie und ihre Arbeit fand ich sehr interessant und geben der beklemmenden Story der Geschwister Kimmy und Sammy einen Gegenpol bzw. eine kleine Auszeit von der überbordenden Veröffentlichung des Privatlebens.

Delphine de Vigan thematisiert hier die Folgen oder Traumata, die Kinder ertragen müssen, deren Leben sich in der Öffentlichkeit abspielt. Das vermeintlich sichere Zuhause wird hier zu Bühne und die Persönlichkeit geht unter in der Rolle, die es täglich zu spielen gilt.

Was mit Kimmy passiert, verrate ich hier natürlich nicht. Nur so viel: diese Geschichte ist spannend bis zuletzt. Fast ein Thriller, den die Autorin hier vor dem erneuten Hintergrund aufgezogen hat.

Für mich war das Buch ein echter Pageturner. Es ist abwechslungsreich, es bietet sich eine gewisse Themenvielfalt, es gibt einen Spannungsbogen, der nicht überstrapaziert wird und der Stil ist ansprechend zu lesen. Eignet sich auch hervorragend als Sommerlektüre!

Bewertung vom 05.06.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


gut

Mit "Milchmann" hat uns Anna Burns bereits tiefe Einblicke in die andauernden Konflikte in Nordirland geboten. Auch dieser Roman war nicht einfach zu lesen. Die sperrige Sprache und die alltägliche Gewalt waren nicht leicht zu ertragen. Ihr Debüt "Amelia", das erst jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist noch ein ganz anderes Kaliber.

Die Autorin lässt uns in Episoden an Amelias Leben teilhaben. 1969, als die Konflikte so richtig ausbrechen, ist Amelia 8 Jahre alt - ein neugieriges Kind, das versucht die Welt um sich zu verstehen und in eine Zeit hineinwächst, die von Gewalt und Missbrauch durchdrungen ist.

Die arbeitende Klasse ist den Straßenkämpfen völlig ausgeliefert. Familien werden zerrissen, Freunde werden zu Feinden, Auge um Auge und nie, aber wirklich niemals davonlaufen, denn es gilt das Gesicht zu wahren. Lieber sehenden Auges in den Tod gehen, als Schande über die Familie bringen.

Amelia aber, geht einer Schlägerei lieber aus dem Weg. Sie flüchtet sich in ihre Magersucht, entfremdet sich immer mehr von ihrer gewalttätigen Familie und driftet schließlich in die Alkoholsucht ab. Sie weiß, dass sie ihrer Heimat den Rücken kehren muss, aber sie schafft es erst, als es fast zu spät ist. Sie nimmt ihre Neurosen mit in ihre neue Heimat.

Anna Burns zeigt uns mit diesem Roman, dass die über Jahre andauernde Gewalt auf den Straßen niemanden unbeeinflusst lässt. Sie greift um sich und zieht alle in ihren Bann. Ein Entkommen ist kaum möglich. Die Auswirkungen auf den Alltag und die Psyche der Betroffenen sind enorm.

Für meinen Geschmack veranschaulicht die Autorin das ein bisschen zu genau. Manche Szenen strotzen vor Gewalt, Verrohung und Missbrauch. Ich hätte das gerne nicht so detailliert geschildert gehabt. Ich hätte die Botschaft auch dann verstanden, wenn die Tragödien nicht so auserzählt gewesen wären. Das war mir schon fast zu viel.

Bei der Lektüre begleiten wir Amelia bis zu den Friedensverhandlungen 1994. Also fast dreißig Jahre ihres Lebens und doch kämpft sie immer noch mit ihren Wurzeln. Es gibt einen klitzekleinen Lichtblick am Ende, aber der innere Kampf ist längst nicht ausgestanden. Die vielen Toten, die am Wegrand liegen, machen das Überleben auch nicht leichter.

Das Buch ist sehr eindringlich und lässt bestimmt niemanden kalt, aber ich bin mir sicher, dass es vielen Leser*innen zu direkt, zu brutal und zu heftig ist und dadurch vielleicht sogar weniger Menschen erreicht, als es möchte. Mir hat es streckenweise viel Überwindung gekostet weiter zu lesen und deshalb kann ich auch nur 3 Sterne vergeben für diesen schonungslose n Roman, der wie ein lauter Hilferuf aus Belfast klingt.

Bewertung vom 09.05.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


sehr gut

Eulabee und Maria Fabiola sind die allerbesten Freundinnen. Sie leben in einem schmucken Stadtteil von San Francisco, besuchen eine Privatschule für Mädchen und wachsen eigentlich recht behütet auf.

Maria Fabiola ist eine schillernde Schönheit, immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Eulabee ist schlau, eine gute Schülerin und steht immer etwas im Schatten ihrer Freundin.

Doch so untrennbar sind die beiden Mädchen gar nicht, denn eines Tages behauptet Maria Fabiola, dass der Mann, der sie nach der Uhrzeit gefragt hatte, sich währenddessen im Auto selbst befriedigte. Die beiden anderen Mädchen in ihrem Kreis zeiht sie schnell auf ihre Seite, doch Eulabee steht zu ihrer Sicht der Situation und sagt aus, dass da nichts war.

Die Folgen hat sie zu tragen und Maria Fabiola ist manipulativ. Für Eulabee ändert sich alles. Maria Fabiola allerdings macht einfach weiter.

Eulabee überzeugt als Protagonistin in diesem Roman. Ihre Gedankengänge und Ideen sind gut nachvollziehbar. Sie ist sich der Macht der Worte bewusst und trägt auch die Konsequenzen. Die ganze Situation mit den Mädchen entgleitet, Eulabee wird in ihren Grundfesten erschüttert und lässt dabei ihre Kindheit zurück.

Dieses Buch ist eine etwas andere Coming-of-Age Geschichte. Die Dramen sind nicht so unmittelbar, es gibt keine große Liebe, aber es gibt ein Mädchen, die zu ihrer Meinung steht, Verantwortung übernimmt und ihren Weg geht, auch wenn dieser steinig ist.

Vendela Vida konnte mich auch mit diesem Buch begeistern. Ihre Sprache ist einfach und direkt, die Entwicklung der Persönlichkeiten hat mir gut gefallen. Einzig der Schluss, der im Schnelldurchlauf mehrere Jahre abhandelt war mir etwas zu kompakt. Das Buch hätte durchaus ein paar Seiten mehr vertragen. Allerdings sollte der Fokus wohl bei den kleinen und größeren Lügen und deren Folgen bleiben. Wäre alles auserzählt worden, hätte sich vielleicht die Gewichtung verlagert.

Mir hat gut gefallen, wie die Autorin die Macht der Worte hervorhebt und bewusst macht, welche Auswirkungen kleine Lügen haben können!

Bewertung vom 23.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


gut

Andrew Haswell Green (1820 - 1903) war der Sohn eines Farmers. Mit dem Kopf in den Wolken und einem untrüglichen Gespür für Strukturen konnte er schon als Kind einigen Ideen auf dem Hof umsetzen. Doch ein Skandal veranlasste seinen Vater, ihn nach New York in die Lehre zu schicken. Er fristete sein Dasein in einem Kabuff eines Gemischtwarenladens, der ihm eine kräftige Lungenentzündung und die Freundschaft zum späteren Präsidentschaftskandidaten Samuel Tilden einbrachte.

Einige Jahre verbrachte Green in Trinidad, als Vorarbeiter, was ihn zu einem noch größeren Menschenfreund machte und ihm ausreichend Geld einbrachte, um im Anschluss Jura zu studieren. Das war sein Sprungbrett für seine Karriere. Als Vater von Greater New York und Schöpfer des Central Parks sollte er eigentlich unvergessen sein. Aber so ist es wohl nicht gekommen.

Die Lebensgeschichte von Andrew H. Green habe ich mit größtem Vergnügen gelesen. Sein Weg ist berührend und beeindruckend. Seine Lebensart lässt weinen und lachen zugleich.

Die Art und Weise, wie uns der Autor diese Geschichte erzählt, hat mir leider nicht so gut gefallen. Der Versuch einen Krimi aus dieser Biografie zu machen, sagt mir nicht zu. Das Leben des Anwalts, des Ermittlers und der wichtigsten Zeugin sind in Zwischenkapiteln ausschweifend ausgearbeitet und haben mich leider gar nicht begeistert. Ich hätte gerne mehr über Andrews Geschwister erfahren, die immer nur am Rande vorkommen.

So bin ich Zwiegestalten bei der Bewertung des Buches. Die Hälfte verdient fünf Sterne, ist interessant, lehrreich und berührend. Die andere Hälfte hat mich leider gelangweilt. Somit vergebe ich 3 Sterne mit Bedauern für ein Buch, das mich eigentlich auch restlos begeistern hätte können!