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Benutzername: 
Emmmbeee
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Feldkirch

Bewertungen

Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 02.02.2021
Aller guten Dinge sind zwei (eBook, ePUB)
McFarlane, Mhairi

Aller guten Dinge sind zwei (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Will Haben unter den Romanen
Laurie, 36, ist seit 18 Jahren mit Dan zusammen. Sie wäre einer Ehe und Kindern nicht abgeneigt, doch Dan wollte bisher nicht so recht. Da erfährt sie, dass eine Berufskollegin von Dan schwanger ist und er Laurie deshalb verlässt.
Um aus dem tiefen Schmerz herauszufinden, geht sie auf das Angebot des Firmen-Casanovas ein, eine Fake-Beziehung mit ihm einzugehen. Dieser Jamie verspricht sich, dadurch seriöser zu wirken und in der Rangleiter aufzusteigen. Laurie indes gewinnt dadurch persönlich an Boden, und ihre Freundin Emily unterstützt sie dabei nach Kräften. Prompt reagiert Dan eifersüchtig. Vielleicht findet er doch noch zurück zu der Frau, die er so stark verletzt hat? Doch dann gerät die geplante Fahrt aus dem Ruder.
In ihren neuen Single-Status bekommt Laurie nach der Mitleidswelle im Büro das Machogehabe, den Rassismus und Sexismus ihrer Arbeitskollegen schmerzhaft zu spüren. Wie weit geht diese Fake-Beziehung eigentlich? Ist sie noch zu stoppen?
Meine Sympathien fokussieren sich nicht nur auf Laurie, sondern sind auch auf ihre engsten Freunde gerichtet, sogar auf Dan und den Womanizer Jamie. Denn beide zeigen durchaus ihre Qualitäten.
Wenn ein neuer Roman von Mhairi McFarlane erscheint, möchte ich ihn lesen. Bisher hat mich noch jeder in seinen Bann schlagen können. Dieser ist süffig zu lesen und laviert mit ordentlich Drive durch ein Auf und Ab der Befindlichkeiten. Mhairi McFarlane spielt auf der kompletten Klaviatur der menschlichen Gefühlswelt. Überraschende Szenen am laufenden Band sorgen dafür, dass man das Buch nicht so schnell aus der Hand legt.
Es geht um Sein und Schein, um Zusammenhalt und Selbstbehauptung, um kritische Auseinandersetzung mit Rassismus und Sexismus. Mir gefällt die Entschlusskraft, mit der Laurie und Emily zu Werke gehen, um den Schmerz zu besiegen. Die einzelnen Charaktere sind plastisch herausgearbeitet, etwa die Giftnudeln am Empfang, denen nichts entgeht und die sich gern in Schadenfreude und Häme suhlen. Den Humor fand ich nicht ausgesprochen britisch.
Es kommt nicht oft vor, dass weiße Autoren farbige Protagonisten wählen. Meist muss erst darauf hingewiesen werden, dass sie nicht dem blassen Stereotyp entsprechen. Dass McFarlane diese à priori-Festlegung durchbrochen hat, gefällt mir besonders. Und auch, dass man bereits am Cover die Werke der Autorin auf den ersten Blick erkennt. Ein Buch, das ich allen empathischen Menschen mitbringen würde.

Bewertung vom 29.01.2021
Die Erfindung des Dosenöffners
Bagci, Tarkan

Die Erfindung des Dosenöffners


sehr gut

Schein und Sein
Timur Aslan, 20, lebt bei seinem Vater. Er hat noch nicht gefunden, was und wohin er im Leben überhaupt will, beneidet aus der Ferne seine anscheinend erfolgreichen Kollegen und quält sich mit dem einen Artikel herum, der ihm zum Sprung ins versprochene Volontariat einer maßgeblichen Zeitung verhelfen soll. Genauso wie andere auf die perfekte Welle warten.
Da schneit ihm die als verrückt verschriene Annette Wagner vor die Füße. Sie behauptet, den heute gebräuchlichen Dosenöffner erfunden zu haben. Doch damit er die Wahrheit und damit ihre Geschichte erfährt, muss er sie nach Basel kutschieren. Das ist nur möglich mit dem umhegten, kostbaren Oldtimer seines Vaters. Heimlich, versteht sich.
Die Befürchtungen, die dem Leser sofort kommen, treffen schon mal nicht ein. Doch jede Menge Anderes, Überraschendes geschieht.
Die ersten 70 Seiten zogen sich für mich zäh dahin. Dann nahm die Handlung zusehends an Fahrt auf und riss mich mit. Der Erzählstil offenbart sich als ein leichtfüßiger, die Zeichnung der Situationen scheint mir sehr lebensnah. Ich habe mit Timur gelitten wie mit kaum einem anderen Protagonisten – und ich lese viel. Besonders bewundert habe ich seinen Vater, der stets die Ruhe bewahrt, geduldig ist und seinem Sohn viele Freiheiten lässt, was andere Eltern kaum aufbringen.
Doch Annette schlägt alles. Was diese Greisin aus der Tasche zaubert und darin versteckt, etwa einen Pass mit anderem Namen oder Timurs Handy, verblüffte mich immer wieder. Nicht so gefallen hat mir die Zeichnung der beiden Basler Polizisten. Hier werden zu viele Klischees bedient.
Durch den großen Druck kommt man trotz der anfänglichen Längen gut voran. Das Buch liegt auch gut in der Hand, die Finger ertasten gern den hochglanzunterlegten Teil des Covers, Der Roman wird künftig wohl zu meinen Lieblingsbüchern zählen. Ich werde ihn jedem empfehlen, der glaubt, schon zu jedem Thema etwas gelesen zu haben.

Bewertung vom 10.01.2021
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


sehr gut

Man möchte mitreisen
Mit Rachel Joyce auf Reisen zu gehen, finde ich empfehlenswert. Schon die Pilgerschaft des Harold Fry war ein grandioses Stück Weg im Bereich der Literatur.
Diesmal darf der Leser zwei Frauen nach Neukaledonien begleiten. Zwei sehr unterschiedliche Frauen, was bereits in der Leseprobe viele Überraschungen versprach. Und diese Überraschungen wurden durchaus gehalten, die ganze Reise entlang bis zum Südpazifik.
Das Duo besteht aus der eher unscheinbar-grauen Hauswirtschaftslehrerin Margery Benson und Enid Pretty, die ihrem Namen alle Ehre macht und auf den ersten Blick in die Schablone „hübsch, aber dumm“ passt. Doch das täuscht, und das muss auch Marge erkennen, welche anfangs keine große Freude mit ihrer sexy Reisegefährtin hat.
Gemeinsam überwinden sie die Hindernisse, die sich ihnen entgegenstellen, nicht zuletzt ihre eigenen Vorurteile. Mit Witz, Mut und Tatkraft kommen sie einander näher, ändern ihre Sichtweisen und finden nicht zuletzt auch zu sich selbst.
Auf knapp 480 Seiten streut Joyce sowohl literarische Bonbons als auch mühselige Strecken, die vom Leser Durchhaltevermögen verlangen. In den langatmigen Partien habe ich eine gewisse Ruhe zwischen all dem Aufregenden gesehen und genossen.
Die Schilderungen sind überaus farbig, der Erzählfluss hat Tempo, der Stil ist flott, gepflegt, die Übersetzung in anspruchsvoller und dennoch leichter Sprache gehalten.
Die Umschlaggestaltung ist sehr gelungen, denn das Coverbild deutet gleich mehrere Themen des Inhalts an, ohne jedoch etwas Wesentliches zu verraten. Alles in allem ein Roman, den ich all meinen Bekannten schenken würde.

Bewertung vom 06.01.2021
Bären füttern verboten
Elliott, Rachel

Bären füttern verboten


gut

Kaleidoskop des Lebens
Als Sidney Smith nach langer Zeit nach St. Ives zurückkehrt, ist sie nicht nur 47 Jahre alt geworden, sondern bewegt sich auch als Freerunnerin durch die Gegend. Dabei begegnet sie einer Reihe von originellen Menschen, allesamt ungewöhnliche Exemplare. Doch was ist schon normal? Wer entscheidet, was sinnvoll ist und was nicht?
In St. Ives an der See herrscht ein raues Klima, und die Menschen gehören nicht zur leichtfertigen Sorte. Im Hintergrund tut sich einiges, das nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Es ist nichts wahnsinnig Weltbewegendes, Großes, aber hinterher hat sich jedes Mal etwas geändert.
Der Roman liest sich wie ein Kaleidoskop des Lebens, der Menschentypen, der Liebe. Mir scheint, als habe sich die Autorin an die Tastatur gesetzt, einem roten Faden folgend, aber offen für spontane Einfälle. Manchmal wird auch einem Tier, etwa den Gedanken eines Hundes, das Wort verliehen.
Im Lauf der Handlung erfolgen so viele Sprünge zwischen den Personen und den Zeitebenen, dass es mir schwerfiel, ein längeres Stück dran zu bleiben. Immer wieder musste ich weiter vorne nachzuschauen, wer das jetzt wieder ist, besonders im ersten Teil. Im zweiten wurde allmählich alles klarer.
Sehr lebendig und farbig sind die Personen geschildert. Der seltsame Buchhändler etwa ist sehr gut skizziert, um nur ein Beispiel herauszugreifen. Die Protagonistin Sydney Smith ist Zeichnerin, und manche Szenen des Romans kommen mir wie Zeichnungen vor, die der Leser zu einem Ganzen ordnen soll. Das jedoch fiel mir über weite Strecken schwer.
Daneben ist das Buch in einer sehr lebensnahen Sprache, einem süffiger Schreibstil, in einer temporeichen Handlung geschrieben. Das Buch entließ mich nachdenklich.

Bewertung vom 06.01.2021
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


gut

Raub in drei Spielarten
Im vorliegenden Roman geht es um mehrere Themen rund um die Verfolgung der Juden ab den Dreissigerjahren bis hin zu den Forschungen ihrer Nachkommen in der Gegenwart. Als besonders tragisch empfand ich den erzwungenen Verzicht der jungen Senta auf ihre Tochter Evelyn. Damit verknüpft ist ihr späteres Scheitern im Bemühen um Annäherung und um die Sicherung der Zukunft ihres Kindes.
Ein zweites grosses Thema ist der unrechtmässige Besitzanspruch der Nazis, speziell in der Kunsthandlung der Familie Goldberg, die eine der Hauptrollen spielt. Es geht aber auch um den regelrechten Raub der kleinen Evelyn, als Sentas kinderlose Schwägerin Trude ihre Lage ausnützt und sich die Kleine unter den Nagel reisst, jede spätere Annäherung hintertreibend.
Doch auch die jüngste Generation in der Person der Studentin Hannah fällt einer Spielart des Diebstahls zum Opfer: Ihre Dissertationsbemühungen werden vom ihrem Doktorvater plagiiert. Sie ist gefangen in grosser Unsicherheit, was ihre Zukunft betrifft, auch in amouröser Hinsicht. Doch ist sie dem Familienerbe auf der Spur: Sie möchte das verschwundene Vermeer-Bild wiederfinden.
Vier Frauen sind die Säulen dieser Story, wobei eine weitere fast zur Gänze ausgespart wurde: Hannahs Mutter. Über sie erfahren wir nur wenig.
Auch die Herren spielen keine allzu grosse Rolle. Die beiden „Hauptmänner“ hingegen sind in ihrer Charakteristik markant gezeichnet. Auf der einen Seite Hannahs Doktorvater, der ihre Zuneigung schamlos ausnutzt und seine Lorbeeren auf ihrer Arbeit aufbaut.
Der andere ist Jörg Sudmann, ein Wichtigtuer, von sich eingenommen bis zum Gehtnichtmehr. Er versucht krampfhaft und penetrant, eine Art deutsche Wiedergutmachung zu betreiben und gibt sich unglaubwürdig als Israel-Fan. Er will aber auch als der grosse Helfer und Förderer in Hannahs Leben dringen.
Zwei Erzählstränge, die unabhängig voneinander beginnen, nähern sich allmählich bis zum überraschenden Ende. Manche Kapitalanfänge sind verwirrend, weil inzwischen Zeitsprünge stattgefunden haben und erst im Nachhinein erläutert werden. In meinen Augen findet das manchmal lückenhaft statt. So erfährt der Leser nie, warum Julius einen Gips trägt. Mich hat jedoch der lebendige Erzählstrom mitgerissen, ich war richtig mit dabei, egal wo die Schauplätze liegen.
Auch wenn über die Zeit ab den Dreissigerjahren schon viel geschrieben worden ist, beleuchtet Alena Schröders Roman eine weitere Facette. Ich empfehle ihn allen Menschen, die mehr über die dunkelste Zeit Deutschlands erfahren möchten, und allen, die sich um Menschen bemühen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.10.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


gut

Haifutter

Der Ich-Erzähler Kalmann Odinsson ist zwar Mitte 30, aber geistig im Kindesalter geblieben. Seinen Sheriffstern und den Cowboyhut hütet er wie den eigenen Augapfel. Aus einer Stelle geht hervor, dass er mit dem Down-Syndrom behaftet ist. Und doch hat er in manchem den Erwachsenen einiges voraus.
Als der Hotelier und Dorfkönig von Raufarhöfn, Robert McKenzie, verschwindet und Kalmann im Schnee eine Stelle mit viel Blut sieht, lastet mit einem Mal viel Wissen auf seinen Schultern. Da sein dementer Grossvater im Altersheim wohnt und Kalmann seine Mutter nicht oft sieht, hat er keine richtige Ansprechperson. Da ist nur Noi im Internet. Aber von dem kennt er nicht einmal das Gesicht, und online ist er auch bald nicht mehr.
Die Polizistin Birna kommt ins Dorf und forscht nach dem Verschwundenen. Sie spürt, dass Kalmann mehr weiss, als er sagen will. Mit viel Geduld erfährt sie schliesslich, was notwendig ist. Im Höhepunkt der Story wird Kalmann zum Helden des Dorfen, büsst allerdings dabei fast sein Leben ein.
Joachim B. Schmidt hat mit Umsicht die Gestalt des Kalmann gezeichnet. Ein sogenannter Dorftrottel mit ganz eigener Logik, der dennoch manchen Bewohnern einiges voraushat. Vor allem kann er ein Geheimnis bewahren, wenn er auch schwer daran trägt. Dass ihm die Sympathien gehören, ist gleich zu Beginn klar. Doch Schmidt hat auch ein liebevolles Bild eines grösstenteils entvölkerten Teils von Island entworfen, dessen Bewohner andere Prioritäten und eine etwas andere Sicht auf die Welt haben. Unerwiderte Liebe ist ein weiteres Thema, auch auf den Kinohelden Forrest Gump wird angespielt.
Es geht also um einen Todesfall, bei dem man bis kurz vor Romanende nicht weiss, wodurch er eingetreten ist. Doch das Überleben eines Menschen, der anders ist, spielt eine grössere Rolle. Bis zuletzt habe ich mich gefragt, wovon er eigentlich lebt, da er ja einen eigenen Haushalt führt. Vom Gammelhai-Verkauf sicher nicht. Auch habe ich erwartet, dass auf den zweiten Todesfall genauer eingegangen wird.
Alles in allem ein liebenswerter Roman mit interessantem Hintergrund.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.10.2020
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Ferrante, Elena

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen


ausgezeichnet

Deprimierende Geschichte

Giovanna ist 13 und lebt behütet in einer kultivierten Mittelschichtswelt, hoch oben auf den Anhöhen über Neapel. Als sie hört, wie ihr Vater sie hässlich nennt, da sie offenbar immer mehr nach ihrer Tante Vittoria kommt, ist sie tief erschüttert. Fand ihr Papa sie bisher etwa nicht hübsch, ja schön? Und wer ist diese Vittoria überhaupt, die man so sorgfältig vor ihr verbirgt? Sie spürt der offensichtlich vulgären Herkunft ihres Vaters nach und gerät in Abgründe, die sie verstören.
Als sie zudem bemerkt, dass ihre Mutter den Zärtlichkeiten anderer Männer aufgeschlossen ist, verliert Giovanna das kindlich-naive Vertrauen zu einer Welt, in der sie sich bisher geborgen und sicher gefühlt hat. Was sollte sie noch glauben, wem vertrauen? Durch das gewaltige und alles überziehende Lügennetz der Erwachsenen sieht Giovanna eine Welt, die ihr nicht allzu lebens- und liebenswert erscheint. Widersprüche noch und noch tun sich auf, sie scheint keinem mehr trauen zu können. Es sind die Neunzigerjahre, Giovanna steht auf der Schwelle zum Frau-Sein, und gerade jetzt würde sie Halt benötigen.
Obwohl die einzelnen Episoden gewohnt unterhaltsam und kurzweilig zu lesen sind, dringt doch wieder der melancholisch- gedämpfte Ferrante-Ton durch. Es scheint keine richtig glücklichen Frauen zu geben, nur solche, die sich vormachen, glücklich zu sein. Oder solche, die resignieren und auf ausgeleierten Gleisen fahren.
In sieben Abschnitte geteilt, begleitet der Leser Giovanna durch die schwierigen Jahre der Pubertät, in denen sie mit Widersprüchen, Gegensätzen, dem körperlichen Unbehagen zu kämpfen hat und zurechtkommen muss.
Unbehagen hat auch mich während des Lesens nie verlassen. Die Sprache war sicher authentisch, lebendig, bildhaft. Die Autorin malt kontrastreiche Szenenbilder, vermag die Spannung bis zum Schluss mit Drive zu halten. Dennoch verleidet mir diese immerwährende Traurigkeit die Lust am Lesen der Ferrante-Bücher. Schon die zuletzt erschienenen Romane haben mich ziemlich hinuntergezogen.

Bewertung vom 16.10.2020
Ada
Berkel, Christian

Ada


sehr gut

Suche nach dem Vater

Das Kind Ada fühlt sich erst allmählich heimisch, als sie nach Jahren in Argentinien mit ihrer Mutter Sala zurückkehrt nach Deutschland. Wir schreiben das Jahr 1954. Die Jüdin konnte bis nach dem Krieg untertauchen, floh dann aber mit ihrer kleinen Tochter nach Südamerika.
In Buenos Aires hat es Hannes gegeben, dem Ada sich herzlich verbunden gefühlt hat. Nun ist da aber ihr Vater Otto. Als Kriegsheimkehrer hatte er seine Frau Sala nicht mehr vorgefunden und deshalb eine andere geheiratet. Da sie jedoch mit dem gemeinsamen Kind Ada wieder in Berlin ist, lässt er sich scheiden. Er heiratet Sala erneut, und die Familie ist wieder vollständig. Doch ist er Adas Erzeuger? Welche Rolle spielt dann Hannes? Alles ist recht verwirrend, auch für den Leser.
Wie ein roter Faden zieht sich Adas Suche nach ihrem Vater, nach Wahrheit und Klarheit durch das Werk. Auf mehreren Zeitebenen führt uns die Erzählerin Ada durch ihr Leben. Wir folgen ihr zum Mauerbau, in die Geschehnisse von 1968 und sogar zum Festival nach Woodstock, bis hin zum Frühling 1993.
Meine Sympathie gehört der Titelheldin, auch wenn mir ihre illegalen Handlungen ganz und gar nicht gefallen. Doch auch Ottos tolerante Haltung imponiert mir, als Sala für ein paar letzte Wochen des Abschieds zurück nach Buenos Aires fährt, zu Hannes.
Es geht in diesem Roman um die Liebe zu zwei Männern, um die Suche nach der eigenen Identität, um Schweigen und Vertuschen. Wieder ist es ein Stück Familiengeschichte, eingebettet in drei Teile: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Markante historische Ereignisse stützen die Handlung und prägen auch das Mädchen Ada.
Nachdem ich von Berkels «Apfelbaum» begeistert war, habe ich mir ebensolche Lesefreuden auch von «Ada» erwartet, und ich wurde nicht enttäuscht. Ich bin erstaunt, wie gut er sich in eine Frau hineinversetzen kann. Besonders farbige Szenen malt Christian Berkel, wenn er die Situation in Woodstock schildert, oder wie Jugendliche eine vietnamesische Dschunke kapern. Auch der Ausflug in die Pariser Welt der Mode und der Kunst war ein Highlight.
Es sind kurze Kapitel mit Titeln, was in Romanen nicht oft vorkommt. Spannungsbogen
Berkel ist ein souveräner Erzähler, der es versteht, über das ganze Buch verteilt aktuelle Themen anzuschneiden. Ich freue mich schon auf sein nächstes Werk.

Bewertung vom 07.10.2020
Die zitternde Welt
Paar, Tanja

Die zitternde Welt


gut

Unsichere Zeiten

Als hochschwangere Frau folgt Maria ihrem Wilhelm nach Anatolien, wo er am Bau der Bagdadbahn massgeblich beteiligt ist. Der dörflichen Enge in Deutschland entkommen, warten in der Türkei natürlich andere Schwierigkeiten, aber sie fühlt sich dort wohl. Mit drei Kindern hat sie bald eine richtige Familie, nach einigen Jahren heiraten Maria und Wilhelm sogar. Doch der ausbrechende 1. Weltkrieg ändert alles, die Familie zieht nach Wien, aber die Buben, inzwischen junge Männer, verschlägt es in andere Richtungen.
Die Kürze eines Glimmspans entscheidet das Schicksal, um Leben und Tod der Brüder. Als Erich von seinem Einsatz im 1. Weltkrieg zurückkehrt, kann er seine zitternden Hände nicht mehr in den Griff bekommen. Sie hindern ihn daran, einen Beruf auszuüben. Nur die Musik befreit ihn vom Zittern, und so wird er Tanzlehrer.
Hans muss sich wegen des Kriegsverlaufes im Karst verstecken. Durch die politischen Allianzen weiss die Familie aber bald nicht mehr, zu welcher Nation sie eigentlich gehört, welche ihnen Schutz bieten kann. Doch auch vom zweiten Weltkrieg wird die Familie nicht verschont. Tochter Irmi muss zwar nicht fürchten, als Soldat zu dienen, doch auch als Pflegerin ihrer Mutter wird sie hart gebeutelt.
Der Roman gibt Einblick in gegensätzliche Welten von der Jahrhundertwende bis nach 1945.
Wer bin ich und wer darf ich sein? Wohin gehöre ich? Das Ende bleibt für mich offen und macht neugierig auf eine mögliche Fortsetzung.
Meine Sympathien gehörten anfangs ganz klar Maria, die sich durchzusetzen vermag, aber auch dann, wenn sie nachgeben muss, sich im Neuanfang immer wieder bewährt. Doch als sie ihrer Tochter das Leben schwer macht, sehe ich ihre Person mit anderen Augen.
Dass der Baum auf dem Coverbild auf den Kopf gestellt ist, erkennt man erst bei genauem Hinschauen. Doch auf den Kopf gestellt ist vieles, etwa dass die hochschwangere Maria 1896 ihrem Geliebten nach Anatolien nachreist und Reformkleider trägt. Auch, dass sie so widerspenstig ist und sich ihrem Mann entgegenstellt, entspricht nicht dem damaligen Zeitgeist. Dass sie einen Geliebten hat, von dem ihr Mann weiss, erst recht nicht.
Aus verschiedenen Perspektiven geschrieben, wirkt das Werk besonders lebendig. Der Stil ist angenehm süffig zu lesen, obwohl ich anfangs nur langsam in den Text hineinfand. Eigentlich erstaunlich, dass ein Familienepos 300 Seiten auskommt. Schön finde ich den gelb eingefärbten Schnitt und die angenehme Glätte der Buchseiten.

Bewertung vom 06.09.2020
Jahresringe
Wagner, Andreas

Jahresringe


sehr gut

Geschändete Natur

Leonore Klimkeit ist als Ost-Flüchtling in ein Dorf geraten, dessen Bewohner ihr mit Vorurteilen begegnen. Sie hat für ihr zartes Alter, das sie grosszügig nach oben aufrundet, bereits viel zu viel gesehen und erlebt. Nun findet sie beim Moppenbäcker und seiner Mutter Aufnahme. Soweit hat sich bis heute im Flüchtlingswesen wenig geändert.
Doch Leonore levitiert manchmal. Sie kann ohne Hilfsmittel schweben, sich oberhalb des Erdbodens bewegen. Dabei wird sie von gewöhnlichen Menschen nicht wahrgenommen, nur von Tieren und dem Dorf-Aussenseiter. Auch der Pfarrer nimmt sie wahr und denkt, sie sei die Jungfrau Maria. Diesen Moment nutzt Leonore, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen.
Ihr Sohn Paul bildet die zweite Generation, er erlernt das Bäckerhandwerk. Doch als eine Kohletagbau-Gesellschaft immer mehr Grund aufkauft und Häuser niederreisst, will Leonore ihrem Kind vor allem eins ersparen: so wie einst sie seine Wurzeln gewaltsam herausreissen und woanders neu einpflanzen zu müssen.
Die dritte Generation, Pauls Kinder, wiederum steht sich als Gegner gegenüber, alles im Zusammenhang mit geschändeter Natur.
Von Beginn an haben wir es mit mutigen, unerschrockenen Menschen zu tun. Vor allem auf Leonores Charakterisierung ist Andreas Wagner eingegangen. Doch auch die farbige Zeichnung der anderen Personen hat mich tief beeindruckt.
Mir hat die eindringliche Schilderung dieser schweren Schicksale sehr gefallen. Meine Sympathien sind eindeutig auf der Seite von Leonore, aber auch von Hannes, Arnold und Paul. In sachlichem Ton und dennoch nahe gehenden Schilderungen tut sich vor dem Leser eine beinahe archaische Welt auf.
Was es mit den Maiglöckchen auf sich hat, erschloss sich mir erst spät. Und auch die kaum sichtbaren Jahresringe auf dem Cover sind klug eingesetzt.
Ich hoffe, dass diesem Romandebut noch viele weitere Werke folgen werden.