Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 02.02.2023
Über die Berechnung des Rauminhalts I
Balle, Solvej

Über die Berechnung des Rauminhalts I


ausgezeichnet

»Über die Berechnung des Rauminhalts I«
ist ein Gedankenexperiment. Du bist Tara. Mit deinem Mann betreibst du einen Handel mit antiquarischen Büchern. Abgesehen von einer eingeschlichen Routine, bist du eine zufriedene Frau in der Mitte deines Lebens. Du fährst auf eine Auktion. Dann kommt der 18.November und deine Welt gerät aus den Fugen.

Für dich ist Groundhog Day. Du erwachst und es ist wieder der 18. November, Tag für Tag. Das bedeutet nicht, dass immer alles gleich verläuft. Im Gegenteil, du greifst nach allen Variationen, Stimmungen, Orten und Begegnungen. Du berechnet den Inhalt dieses begrenzten Raums, du erforscht, was dauerhaft verändert bleibt und was wieder zurück wandert zum Nullpunkt des 18. Novembers.
Dein Geliebter glaubt dir, ihr seid euch nahe, doch so sehr ihr es versucht, in der Nacht wandert seine Wahrnehmung und Erinnerung wieder auf Null. Du beginnst die Tage zu dokumentieren, irgendwann sind es zu viele, um sie deinem Liebsten zu berichten. Freude und Verbundenheit weichen zurück. Du bist gereizt, dann entdeckst du den Kosmos. Du spürst eine neue Kraft. Du gehst zurück zu deinem Ursprung des 18. Novembers und lauerst auf Hinweise für Variationen und Risse, bereit in den 19. November zu springen.

»Über die Berechnung des Rauminhalts I«, das sind Taras Tagebuch-Aufzeichnungen, die sie mit fortschreitend nummerierten Hashtags versieht. 170 komprimierte Seiten halten uns im Kosmos Tara's. Es ist kaum möglich, sich ihren Wahrnehmungen, ihrer Logik und ihren klugen Gedanken zu entziehen. Doch brauchen wir Abstand, der uns öffnet für weitere Blicke auf die vielen Schichten dieses Romans. Ist es übersinnlich, ist es Science Fiction oder das Wahngerüst einer Frau, deren Welt aus den Fugen ist? Ist das wesentlich für den Genuss und die evozierten Gedanken dieses Romans, der die Unerklärlichkeiten unserer Existenz in den Blick nimmt? Wahrscheinlich nicht sehr, aber die nächsten 6 Teile der »Berechnung des Rauminhalts« werden suchen und uns weitere Ebenen erspielen. Mich hat Balle für sich eingenommen, ich bin inspiriert.

Bewertung vom 28.01.2023
Rot (Hunger)
Varatharajah, Senthuran

Rot (Hunger)


ausgezeichnet

ROT (HUNGER) ist eine ästhetische Perfektion, ein lyrischer Roman, der jedes Wort wiegt, den Abstand und die Nähe misst, sich hingibt, sich öffnet und immer wieder ausbricht oder ins Fehlen greift, in die Vernichtbarkeit blickt, Sprache und Schweigen zugleich aufsucht.

Aus dem Johannes-Evangelium wird erinnert »𝑤𝑒𝑟 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐹𝑙𝑒𝑖𝑠𝑐ℎ 𝑖𝑠𝑠𝑡 𝑢𝑛𝑑 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐵𝑙𝑢𝑡 𝑡𝑟𝑖𝑛𝑘𝑡, 𝑑𝑒𝑟 ℎ𝑎𝑡 𝑒 / 𝑤𝑖𝑔𝑒𝑠 𝐿𝑒𝑏𝑒𝑛... 𝑊𝑒𝑟 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐹𝑙𝑒𝑖𝑠𝑐ℎ 𝑖𝑠𝑠𝑡 𝑢𝑛𝑑 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐵𝑙𝑢𝑡 𝑡𝑟𝑖𝑛𝑘𝑡, 𝑏𝑙𝑒𝑖𝑏𝑡 𝑖𝑛 𝑚𝑖𝑟. 𝑈𝑛𝑑 𝑖𝑐ℎ 𝑖𝑛 𝑖ℎ𝑚«. Diese Worte, die wir auch unreligiös lesen können, verkörpern sich bei Armin Meiwes und Bernd Jürgen Armando Brandes, bei A und B, die sich verabredeten, damit der eine den Anderen verspeist. Der Autor und seine Figur, die wie er heißt und viele Erfahrungen mit ihm teilt, besingen überdies die Liebe, den Abstand, die Haltlosigkeit. Die Senthuran-Varatharajah-Figur recherchiert für ihren Roman, sucht mit Hingabe nach Worten, Silben, Gedanken, Erinnerungen, Assoziationen und nähert sich dem Gegenstand des Kannibalismus mit offenem Herzen. Die Zusammenkunft und Verspeisung von A und B zieht er präzise nach, in den Linien fast zärtlich, vorsichtig, dabei kippend in eine ruhige Gewalt und Vernichtung. Für die Figur vermengen sich die eigenen Wünsche nach einer einverleibenden Liebe mit dem Kannibalismus-Thema. Sie verkörpern sich in Begehren, Begriffen, Redewendungen und Assoziationen.

ROT (HUNGER) ist radikal, schwer, intim und vielschichtig. Es liegt mir fern, alle Bedeutungsebenen und Verbindungen aufzuspüren, denn auch die Rezeption verläuft für mich lyrisch, sinnlich, im Genuss und in der Hingabe für das Geschriebene selbst. Jede Seite kann ich aufschlagen und es finden mich bedeutsame Sätze, die ins metaphysische reichen. Ich verneige mich vor dem Autor, er hat großes geschaffen, das mit zu dem Besten gehört, was ich 2022 gelesen habe.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.01.2023
Unberechenbar
Spiotta, Dana

Unberechenbar


sehr gut

Sam ist 53 Jahre alt, ihr Leben verläuft in geregelten Weißen akademisch geprägten Vorstadtbahnen. Sie hat einen freundlichen Mann, eine heranwachsende Tochter, einen netten Nebenjob und ein Haus sowieso. Doch schaut sie distanziert-abgeneigt auf sich und die Frauen um sie herum. Sie langweilen sie, die postsexuellen Weißen Frauen in Hillary-Clinton-Hosenanzügen, die Sauvignon Blanc schlürfen, die Personal Trainer engagieren und Schönheitsoperationen in Betracht ziehen. Die einzige Aufregung ist die verhaltene Beunruhigung, dass Trump an die Macht kommt, und nicht Hillary, eine Frau, wie sie. In Sam brodelt es nicht nur körperlich, sie ist unruhig, schlaflos, ihr ist heiß und kalt. Mitten in der Kriminalitätsgeprägten Innenstadt kauft sie ein zerfallenes Haus und in einer Kettenreaktion verlässt sie Mann und Tochter.

Es ist doch erstaunlich, dass Frauenfiguren ab 50 als sexuelle und lebenshungrige Wesen selten untragisch geschildert werden. Deshalb feier ich jeden Roman, der diese Lücke schließt. Wer bis jetzt noch nicht an »Vladimir« von Julia May Jonas dachte, möge dies nun tun. Denn auch »Unberechenbar« ist ein amerikanischer Unterhaltungsroman, der viele gesellschaftlich wichtige Themen anreißt, der aus der Perspektive einer alternden Weißen Frau geschrieben ist, die sich einerseits befreit, andererseits in den Stereotypen stecken zu bleiben droht und deren Ernsthaftigkeit durch eine ordentliche Prise Humor gebrochen wird. Liebe Vladimir-Begeisterte, ihr werdet auch »Unberechenbar« mögen.

Bewertung vom 28.01.2023
Der junge Mann
Ernaux, Annie

Der junge Mann


ausgezeichnet

Er ist Mitte 20, Student, wohnt bescheiden und hat sich sie in den Kopf gesetzt. Sie ist Mitte 50, an einem anderen Punkt und lässt sich fallen in diese Leidenschaft.
Im gewohnten Ernaux-Stil erkundet die Autorin diese Episode ihres Lebens, legt mehr ihre als seine Motive, Reaktionen und Emotionen frei. Ernaux vermittelt Neugier an dem Altersunterschied, erfreut sich an einer überwundenen Scham. Sie zeigt Lust, Konventionen zu brechen, sich immerzu zu entwickeln, diesen Bruch literarisch zu verarbeiten und in ihr Gesamtwerk einzufügen, denn »Der Junge Mann« erzählt auch die Geburt von »Das Ereignis«.

Mit »Der Junge Mann« bricht Ernaux nicht nur mit thematischen Konventionen, sondern auch formal mit einer Konvention, die uns Leser:innen wichtig ist. Ein Roman sollte schon 300 bis 400 Seiten lang sein, weniger als 200 bitte nicht. Hat er aber weniger Seiten, winden wir uns, ihn Roman zu nennen. Und unter 100 Seiten, da hadern wir, so wenig Seiten, was ist das und ja, das ist teuer pro Seite sozusagen. Gerade jetzt, wo die Preise steigen und die Buchpreise zu steigen drohen, wirkt »Der Junge Mann« wie eine Provokation, denn er ist nur 41 Seiten lang, effektiv nur 32, groß geschrieben auch noch.

Natürlich irritierte auch mich die Kürze, in gut einer halben Stunde bin ich durch diese leidenschaftliche und zugleich lakonische Miniatur gestürmt, denn Tempo hat sie auch noch. Doch »Der Junge Mann« lohnt sich sehr, sowie der Inhalt als auch die radikal kurze Form haben meine Erinnerungen wie Haltungen provoziert und in einem neuen Licht gezeigt.
Ernaux erzählt mit »Der junge Mann« eine Geschichte, die mit jedem Wort mehr zu einer anderen würde. Der Nachhall würde sich mindern, ich wäre wahrscheinlich weniger inspiriert, je mehr Ernaux den Text in die Länge gezogen hätte. Vielleicht hinterfrage ich nun den Drang, Kunst an ihrer Seitenzahl messen zu wollen.

Bewertung vom 20.01.2023
Wo die Liebe schläft
Greenlaw, Lavinia

Wo die Liebe schläft


ausgezeichnet

»Wir machen einen Fehler oder biegen falsch ab, und wenn wir klug sind, bauen wir darauf, bis ein Weg entsteht. Als würde man eine Landkarte aus Abgründen und Sackgassen bauen.«

Mit »Wo die Liebe schläft« hat Greenlaw einen psychologisch klugen, nachdenklichen und poetischen Roman über die Liebe geschrieben, dessen Figuren in der Mitte ihres vollen Lebens stehen. Erzählt wird aus einem vorbewussten Raum, der alle Möglichkeiten der Figuren definiert. Sie können sich in diesem Raum bewegen, seinen Fährten folgen, oder sie abwehren, sich ablenken lassen, sich in ihre bewussten Gedanken, Sehnsüchte und Pläne flüchten.

Iris, eine Museumskonservatorin und der Historiker Raif spüren in einer flüchtigen Begegnung, wie ihre Körper und ihr Vorbewusstes ja zueinander sagen. Die Choreographie dieses zarten Romans lässt Iris und Raif abbiegen, sich begegnen, aber nicht direkt zugreifen. Raif ist zu beschäftigt mit seiner Befangenheit und Trauer. Seine Mutter braucht Hilfe und er versucht die Frau, die ihn ausgesucht hat, zurück zu lieben. Auch Iris kämpft mit alten Dämonen, mit Migräne, mit Panikanfällen und einer geendeten Liebe zu ihrem MS-Kranken Mann, Vater ihrer zwei Kinder, der sie betrog, den sie ausschloss, sie weiß nicht, was als erstes kam.

Ich flog durch die Seiten dieses leisen poetisch-eindringlichen Romans und dachte, es geht also doch, von Liebe in der Lebensmitte zu erzählen, ohne die Sorge um oder Fixierung auf ein "Verwelken" von Frauen oder die ganze Klaviatur der damit assoziierten Stereotype abzuspuhlen.
Sound und Stimmung ließen mich an Kundera denken, ähnlich soghaft, süßlich melancholisch las es sich. Der Blick auf die Figuren war vergleichbar direkt und schonungslos, doch Greenlaws Figuren sind mit einer nachsichtigen Liebe geformt, sie ließ immer einen Möglichkeitsraum offen, in dem sie friedlicher werden, Hoffnung haben, Glück und Erfüllung spüren können. Auch wenn die Frage offen bleiben muss, was das ist, innige Liebe und ob es möglich ist, sie festzuhalten.

Bewertung vom 09.01.2023
Blutbuch
de l'Horizon, Kim

Blutbuch


sehr gut

"Écriture fluide"

»Ich habe diesen Text schon zigmal angefangen, ich habe Plots konstruiert, bis mir übel wurde. Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.«

De L'Horizon kennt die Traditionen, die Techniken, wichtige Vorbilder des eigenen Schreibens gut, doch passt es nicht, will so nicht, sperrt sich. "Écriture fluide" hat De L'Horizon das Schreiben genannt, das sucht und eigene Formen im Gehen kreiert. »Blutbuch« läuft in viele Richtungen, verleibt sich die Themen einer Familiengeschichte, der Liebe, der Distanz, von Körperlichkeit, Sexualität und Gewalt, scheinbar gefestigten und fluiden Geschlechterbildern und nationaler Mythen, Botanik, der Klassengrenzen, der Überwindung dieser und weiterer Themen ein. Die Erzählstimme geht diese und weitere Pfade ab, benutzt dafür unterschiedliches literarisches Schuhwerk, nimmt Anlehnung an Deleuze, Wolf, Haraway, Ernaux, Eribon, Luis, um einige herauszugreifen, überschreitet Formen der Prosa, Lyrik, Autofiktion, Essay, Kulturgeschichte und der Sprache selbst.

Auf manchen Wegen wollte ich verweilen, bei anderen dachte ich, oh Seiten möget ihr euch wieder anderem Zuwenden, doch bewundere ich die Ausbalanciertheit der Erzählstimme, die alle Wege und Mittel zusammenhält, sie immer wieder hinterfragt, reflektiert und für ein harmonisches Ganzes sorgt.
@timothypaulmuc hat mir auf die Sprünge geholfen, was mich nachdenken ließ.
»Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin sechsundzwanzig«, so jung. Ich hoffe, dass der ganze Fame nicht platzt und auch nicht stört bei einer weiteren Entwicklung und Reifung. Ich möchte mehr lesen von Kim De L'Horizon und ich vermute, dass meine Textbegeisterung bei einer älteren Version von De L'Horizon ansteigen wird.

Bewertung vom 09.01.2023
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen


ausgezeichnet

Eine große postkoloniale Erzählung

Suchst du eine große Erzählung, in die du eintauchen kannst? Ein Labyrinth, das dich in den Bann zieht, ausufernd, spannend, soghaft, episch, mit Humor, mit Libido, mit einem klaren Blick und einem Schuss Selbstironie?

Suchst du eine große Erzählung, die die Literatur selbst zum Gegenstand macht, die Liebe zum Lesen, zum Schreiben, die Betrachtung der Welt durch die Augen der Literatur?

Suchst du eine große Erzählung aus der Perspektive einer senegalesisch-pariser Figur, die sich weigert, rassistische Klischees zu bedienen, diese thematisiert, historisch einordnet und zurückspielt?

Dann greife zu diesem.

Konzentration braucht es schon, die Ebenen und Fährten dieses klugen Romans zusammen zu bringen. Doch es lohnt sich sehr, denn »Die geheimste Erinnerung der Menschen« führt eine fast altmodisch anmutende klassische etwas größenwahnsinnige Erzählung, die sowie europäischen, als auch lateinamerikanischen und westafrikanischen Erzählungtraditionen folgt, zusammen mit einem heutigen Sound, einem krimihaft aufgebauten Plot und einer kaum zu entgegnenden Kritik am Literaturbetrieb, der als Spiegel dient für eine rassistische postkoloniale Situation.

Gewidmet hat Sarr »Die geheimste Erinnerung der Menschen« Yambo Ouluguem, der mit »Das Gebot der Gewalt« 1968 als erster Afrikanischer Autor den Prix Renaudot gewann, dann mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert wurde und sich nach Mali zurückzog. Sarr spinnt aus ihm Elimane, der 1938 als erster afrikanischer Autor einen wichtigen Literaturpreis in Frankreich gewinnt, dafür gefeiert, angezweifelt, angefeindet und schließlich mit Plagiatsvorwürfen überzogen wird, ohne der Frage der Intertextualität nachzugehen. 80 Jahre später fällt dem jungen Autor Diégane Latyr Faye das phantastische Werk nebst Geschichten um den Autoren in die Hände und er folgt den fragmentierten Spuren, die sich anders als erwartet zusammenfügen.

2021 gewann der erst 31jährige Sarr mit diesem großartigen Traditionen, Zeiten und Perspektiven verpflechtenden postkolonialen Roman den wichtigen Prix Goncourt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.12.2022
Liegen
Geißler, Heike

Liegen


ausgezeichnet

»Ich liege nicht, weil ich müde bin.
Ich liege, weil ich so müde bin.
Ich liege für später.
Ich liege hier zu Lernzwecken.
Ich liege hier für eine gewaltige Pause, die immer wieder unterbrochen wird.
Wie geht's denn so?
Ach, nächste Frage.
Ich warte auf ein gutes Vorzeichen in die Welt.
Ich liege nicht in mathematischer Zuverlässigkeit.
Zwei schlechte Ereignisse ergeben kein gutes.«

Geißler liegt im Bett, auf dem Sofa, liegt sich durch den Tag, durch die Stadt, durch das Arbeiten, die Arbeitsunfähigkeit, durch die Produktivität, in den Gedanken, oder den Gedanken im Weg, im Schreiben, in Müdigkeit, mit Ermüdung, in Ratlosigkeit, mit Trotz und Abkehr, in der Frage ob ihr Liegen nicht doch eine Haltung ist, eine Suche nach einem anderen Sinn, oder doch das Label einer Krankheit verdient, eine Abkehr, ein Verpassen und sich abwenden ist.

Es ist heiter, ernst, bejahend, verneinend, subversiv, passiv und aktiv, was Heike Geißler über das Liegen schreibt. Sie dichtet, sie sinniert über das Liegen und das »ist keine Attitüde, es könnte natürlich eine sein, denn es wäre so leicht, aus dem Liegen eine Attitüde zu machen.« Als ein Manifest des Liegens liest sich Geißler lyrischer Essay und sie macht klar, die Lösung für alles ist das Liegen auch nicht, verschiebt es höchstens den Blick und lässt die Lesenden mit inspirierenden Gedanken zurück.

Erschienen ist dieser stimulierende Text bei Rohstoff, dem neuen Imprint von Matthes und Seitz, der junge experimentelle Texte erschwinglich zugänglich macht. Ganz mein Geschmack, wird nicht mein letztes von Rohstoff sein.

Bewertung vom 28.12.2022
Eine Zusammenfassung von allem, was war
Abbas, Rasha

Eine Zusammenfassung von allem, was war


ausgezeichnet

Wenn du Erzählungen schätzt, wenn du eine zarte, wuchtige, flackernde Sprache liebst, wenn du Figuren magst, die sich quer legen zu Klischees, wenn dich Syrien interessiert oder Berlin oder Menschen, wenn dich Zeit interessiert oder wenn dich Zeit nicht interessiert, wenn dich russische Raketen, Krieg, Drogen, Abgründe nicht abschrecken, wenn du das Absurde im Leben suchst oder immer wieder findest, dann lies dieses.

Bewertung vom 28.12.2022
Ein Zuhause schaffen
Cin, Tice

Ein Zuhause schaffen


sehr gut

»Die Welt ist kein 𝐿𝑎 𝐿𝑎 𝐿𝑎𝑛𝑑.«

Diese Welt ist im nordöstlichen London, in Tottenham, ein türkisch-zypriotischer Mikrokosmos. Der Kosmos sind Damla und Anne-Mama Ayla, die in High Heels abspühlt. Gestreift werden die kleine Schwester İpek, Nene-Oma Makbule, die Freundin Cemile und all die Männer, die die Szenerie betreten, reden, Rollen einnehmen, blöd sind, lustig, nett, die Drogen nehmen, verkaufen, Geschäfte machen, Gewalt verwenden, reden, machen, tun, leben.

Es ist, als würde eine Kamera auf die Community gehalten. Aus Abstand verfolgen wir, wie sich die Idee entspannt, Heroin in Kohlköpfen aus der Türkei nach Tottenham zu schmuggeln und wie das Leben weiterläuft. Eine Innenschau der Figuren bleibt fast aus. Vielleicht hat Şeyda Kurt Recht damit, dass gerade das stimmig ist, die Figuren nicht auszuwringen »bis aus ihnen alle Gedanken, Zweifel und Ängste herausfließen«, ist es doch ein schmaler Grat zwischen Selbstermächtigung und Othering. Begeistert bin ich von Sprache, Form, Perspektive und Szenerie. Inspirierend ist es, wie die türkisch - zypriotischen Worte und Redewendungen in den Text eingeflochten werden. Ebenso spannend ist es, dass nicht alles auserzählt und erklärt wird, die Sensibilität der Figurenzeichnung, die Zusammenarbeit mit der Sensitivity - Leserin Bayan Goudarzpour. Doch Cin machte es mir ab der Mitte der Geschichte schwer. Es trug mich nicht durch die Geschichte, ich verlor das Interesse, es war manchmal wie ein Rauschen, ein Gemurmel, in das meine Aufmerksamkeit ab der Mitte nicht mehr eintauchen wollte.
Vielleicht würde es für mich in einem anderen Medium, im Theater oder anders funktionieren, denn spannend ist »Ein Zuhause schaffen« schon.