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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 25.02.2023
Mann im Mond
Bastasic, Lana

Mann im Mond


sehr gut

Abgründige Kindheitsperspektiven sind der Kern von Lana Bastašićs Erzählungen. Die erzählenden Kinder sind unschuldig-naiv, wütend, sie schlängeln sich durch und die Welt, die sie vorfinden, sie ist nicht schön. Angenehme Lektüre ist Mann im Mond nicht und die Schwere brechender Humor ist kaum zu finden.

Bastašić entromantisiert die Kindheit als ein heiler Ort. Sie zeichnet in ihren zwölf Kurzgeschichten ein beklemmendes Bild, dessen Hintergründe für die Kinder sowie uns Leser:innen nur in Andeutungen vorkommen. Genauso wie sie, verstehen wir nicht, warum die Erwachsenen in den Geschichten so stumpf sind, so mit sich beschäftigt, dass sie gar nicht merken, wie sie mit ihren Kindern umgehen, was sie ihnen weitergeben und was für Spuren das hinterlassen kann. Die Erwachsenen sind eine wütende Gefahr, sie schämen sich, sie kritisieren, sie überschreiten Grenzen, sie sind gestorben, sie werden sterben oder sie sehen die Kinder einfach nicht. Wir müssen uns hinzudenken, was mit den Erwachsenen los ist, was mit ihnen mal war. Und wir müssen es aushalten, dass ihre Macht nicht in allen Geschichten zu schrumpfen beginnt. Erst die letzte Geschichte macht explizit, was meines Erachtens wesentlich ist. Die Geschichten spielen in Bosnien, viele sind von den Kriegen und der Nachkriegszeit geprägt, auch wenn die beschriebenen Kindheitsperspektiven universeller sind, als uns lieb ist.

Bewertung vom 25.02.2023
Liebes Arschloch
Despentes, Virginie

Liebes Arschloch


sehr gut

Liebes, Arschloch ist wie mit einer heißen Nadel geschrieben, hitzig, spitz, temporeich und kurzweilig. Viele zeitgenössische Themen greift die französische mit ihrer provokativen Literatur etablierte Autorin Despentes auf, komponiert sie zu einem eingängigen Stück Popliteratur, ohne dabei Pop zu sein. Sie wählt den Social Media Briefroman als Form, verarbeitet #metoo, die Pandemie, Geschlechterrollen und Altern, Vatersein, Drogen, Abstinenz und wählt die Buch- und Filmbranche als Szenerie.

Der Einstieg ist giftig, ein alternder Weißer Mann, der Autor Oscar pöbelt auf Instagram die alternde Schauspielerin Rebecca an. In einer PN schiebt er Bewunderung und eine Entschuldigung hinterher. Rebecca blockiert ihn nicht, sie antwortet wortgewandt. Aus einem Schlagabtausch entsteht eine immer persönlichere Konversation. Oscar sieht sich als Opfer von Zoé, die Pressereferentin war, in die er sich verguckte, der er nachstellte, die gekündigt wurde und nie wieder einen Job in der Verlagsbranche erhielt, die nun auf ihrem gut laufenden feministischen Blog einen Shitstorm auslöste. Oscar jammert, Rebecca entgegnet und klagt über ihre eigene Situation. Ziemlich schnell offenbart sich ihr gemeinsames Ventil, die Drogen, polytox, die Erhabenheit des Konsums, die Illusion, alles im Griff zu haben und nun die Ahnung der zerstörenden Kraft von Nähe zu sich selbst und zu anderen. Im Zuge der Pandemie und ihrer persönlichen Krisen beschreiten sie gemeinsam den Weg der Abstinenz.

Schlau sind die Figuren gewählt. Ihre durch Substanzen, ihre Positionen und ihr Bewusstes getrübte Wahrnehmung wird mit der Außensicht der anderen Figuren kontrastiert und lässt den Lesenden genug Raum für eigene Schlussfolgerungen. Für meinen Geschmack war es zu viel Oscar. Seine Bemühungen ein guter Vater zu sein, waren mir zu konventionell erzählt und ich hätte seine Selbsterkenntnisse in dieser Auserzähltheit nicht gebraucht, aber ich bin kein heterosexueller Mann. Wie erwartet war »Liebes Arschloch« beste Unterhaltung, soghaft, toxisch, zart und es interessierte mich weit mehr als der brandenburgisch-Hamburger Debattenroman.

Bewertung vom 25.02.2023
Virtuoso
Moskovich, Yelena

Virtuoso


sehr gut

𝐽𝑢𝑑𝑔𝑒 𝑎 𝑏𝑜𝑜𝑘 𝑏𝑦 𝑖𝑡𝑠 𝑐𝑜𝑣𝑒𝑟
Dieses Cover musste ich nur einmal sehen, und es klemmte sich fest in mein Hirn. Ein pures, schönes Gesicht, in dessen Blick viel liegt, was auch »Virtuoso« ausmacht, Direktheit, Provokation, Begehren, Schmerz, Einsamkeit. Nach der Lektüre bin ich fast sicher, das ist Zorka, für mich ist sie es.

𝐽𝑢𝑑𝑔𝑒 𝑎 𝑏𝑜𝑜𝑘 𝑏𝑦 𝑖𝑡𝑠 𝑐𝑜𝑛𝑡𝑒𝑛𝑡
»Virtuoso« inszeniert sechs Figuren, drei Paare, Outcasts, Mädchen und Frauen, die Frauen begehren. Eine Frau zieht, die andere stürzt sich hinein und bleibt verloren zurück.
In einer krimiartigen Szene steigt »Virtuoso« mit Aimée und Dominique in Portugal ein, springt dann zur unscheinbaren Jana in Paris, gleitet in ihre Plattenbaukindheit in der Tschecheslowakei mit der rebellischen Zorka, die plötzlich verschwindet, findet sich verloren-treibend mit Zorka an einer amerikanischen Highschool wieder und taucht in einen interkontinentalen Sexchat zwischen Amy und Domenika. Dabei springt »Virtuoso« in Zeiten, Orten, Perspektiven und Realitäten.
Im Zentrum bleiben Jana und Zorka, das Kollabieren der sozialistischen Welt und ihre kosmopolitische, an die kapitalistischen Ränder gedrängte Situation.

𝐽𝑢𝑑𝑔𝑒 𝑎 𝑏𝑜𝑜𝑘 𝑏𝑦 𝑖𝑡𝑠 𝑠𝑜𝑢𝑛𝑑
Dämpfende Wolken umgeben Figuren, Netzphantasien und Clubs dröhnen, Kindheitserinnerungen faden aus, angekettete Liebste warten, beatmete Patientinnen und Leichen liegen stumm da. Wenn sich eine surreale, bedrohliche Atmosphäre durch einen Roman zieht, eine sexuell aufgeladene Stimmung, die auch abgründig ist, eine düstere und zugleich vertraute Nostalgie, bei der wir nicht sicher sind, ob sie uns behagt, bemühen wir David Lynch.
Eine »Reminiszenz an David Lynch« wird der Guardian im Klappentext zitiert und ja, ich meine den David-Lynch-Sound zu erkennen. Dabei ist »Virtuoso« queer und international, mit »Ostblock-Linguistik«, wie eine Nebenfigur die Vielsprachigkeit, Vielortigkeit und Erfahrung von Sozialismus und Kapitalismus benennt, die sich durch »Virtuoso« zieht.

Bewertung vom 25.02.2023
Monde vor der Landung
Setz, Clemens J.

Monde vor der Landung


sehr gut

Ganz entgegen dem Trend der Autofiktion und dem gegenwärtigen Gegenwartsbezug der Gegenwartsliteratur, zieht Clemenz J. Setz uns in die eigensinnige Welt des Peter Bender, eines Utopisten und Querdenkers, der vor hundert Jahren in Rheinhessen lebte. »Monde vor der Landung« ist ein akribisch recherchierter Historienroman, eine Biographie in auktorialer Erzählform, die stets einen Spalt offen lässt, was der Bender sich eigentlich selber glaubt, wenn er die Hohlwelt-Theorie predigt, laut derer die Menschen auf der Innenseite der Erde leben und die Planeten in der Erdmitte sind, wenn er darüber sinniert, ob der Mond aus Eis ist und die Wahrhaftigkeit der offenen Liebe predigt.

Fast opernhaft-verworren baut Setz Benders Gedankengebäude, die Jonglage mit den Frauen, seine Erfahrungen im Krieg, der Inflation und dann dem Nationalsozialismus zusammen. Flirtet der Roman im ersten Teil mit einem ereignisreichen Schelmenroman, so verpufft die Energie im zweiten. Bender ist in Haft, in "Nervenheilanstalten". Neben seinen alternativen Gedanken hat er epileptische Anfälle, die nur schwer zu verbergen sind. Seine Frau Charlotte lässt ihn Schriftsteller sein, kämpft, lauscht geduldig seinen Gedankengerüsten, unterstützt seine Korrespondenzen bis in die USA und hält die Familie zusammen. Doch sie ist Jüdin, schnell wird aus subtiler Ausgrenzung Verfolgung, Bedrohung und Tod.

Der Roman hält uns Lesende so nahe an der ambivalenten Figur Bender, dass er fast sympathisch wird und das Bedürfnis nach Abgrenzung zu den eigenartigsten Theorien und Ideen schwindet. Finden wir etwas mehr Distanz zum Text, drängen sich Fragen auf. Welche Realitäten und Theorien sind eigentlich wahnhaft und verquer, seine oder die domonanten seiner Zeit? Wie kann eine Gesellschaft und auch wir selbst mit Menschen umgehen, die anders denken, die quere alternative Gedanken verbreiten? Setz' »Monde vor der Landung« landen damit mitten in wichtigen Fragen unserer Gegenwart.

Bewertung vom 02.02.2023
Über die Berechnung des Rauminhalts I
Balle, Solvej

Über die Berechnung des Rauminhalts I


ausgezeichnet

»Über die Berechnung des Rauminhalts I«
ist ein Gedankenexperiment. Du bist Tara. Mit deinem Mann betreibst du einen Handel mit antiquarischen Büchern. Abgesehen von einer eingeschlichen Routine, bist du eine zufriedene Frau in der Mitte deines Lebens. Du fährst auf eine Auktion. Dann kommt der 18.November und deine Welt gerät aus den Fugen.

Für dich ist Groundhog Day. Du erwachst und es ist wieder der 18. November, Tag für Tag. Das bedeutet nicht, dass immer alles gleich verläuft. Im Gegenteil, du greifst nach allen Variationen, Stimmungen, Orten und Begegnungen. Du berechnet den Inhalt dieses begrenzten Raums, du erforscht, was dauerhaft verändert bleibt und was wieder zurück wandert zum Nullpunkt des 18. Novembers.
Dein Geliebter glaubt dir, ihr seid euch nahe, doch so sehr ihr es versucht, in der Nacht wandert seine Wahrnehmung und Erinnerung wieder auf Null. Du beginnst die Tage zu dokumentieren, irgendwann sind es zu viele, um sie deinem Liebsten zu berichten. Freude und Verbundenheit weichen zurück. Du bist gereizt, dann entdeckst du den Kosmos. Du spürst eine neue Kraft. Du gehst zurück zu deinem Ursprung des 18. Novembers und lauerst auf Hinweise für Variationen und Risse, bereit in den 19. November zu springen.

»Über die Berechnung des Rauminhalts I«, das sind Taras Tagebuch-Aufzeichnungen, die sie mit fortschreitend nummerierten Hashtags versieht. 170 komprimierte Seiten halten uns im Kosmos Tara's. Es ist kaum möglich, sich ihren Wahrnehmungen, ihrer Logik und ihren klugen Gedanken zu entziehen. Doch brauchen wir Abstand, der uns öffnet für weitere Blicke auf die vielen Schichten dieses Romans. Ist es übersinnlich, ist es Science Fiction oder das Wahngerüst einer Frau, deren Welt aus den Fugen ist? Ist das wesentlich für den Genuss und die evozierten Gedanken dieses Romans, der die Unerklärlichkeiten unserer Existenz in den Blick nimmt? Wahrscheinlich nicht sehr, aber die nächsten 6 Teile der »Berechnung des Rauminhalts« werden suchen und uns weitere Ebenen erspielen. Mich hat Balle für sich eingenommen, ich bin inspiriert.

Bewertung vom 28.01.2023
Rot (Hunger)
Varatharajah, Senthuran

Rot (Hunger)


ausgezeichnet

ROT (HUNGER) ist eine ästhetische Perfektion, ein lyrischer Roman, der jedes Wort wiegt, den Abstand und die Nähe misst, sich hingibt, sich öffnet und immer wieder ausbricht oder ins Fehlen greift, in die Vernichtbarkeit blickt, Sprache und Schweigen zugleich aufsucht.

Aus dem Johannes-Evangelium wird erinnert »𝑤𝑒𝑟 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐹𝑙𝑒𝑖𝑠𝑐ℎ 𝑖𝑠𝑠𝑡 𝑢𝑛𝑑 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐵𝑙𝑢𝑡 𝑡𝑟𝑖𝑛𝑘𝑡, 𝑑𝑒𝑟 ℎ𝑎𝑡 𝑒 / 𝑤𝑖𝑔𝑒𝑠 𝐿𝑒𝑏𝑒𝑛... 𝑊𝑒𝑟 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐹𝑙𝑒𝑖𝑠𝑐ℎ 𝑖𝑠𝑠𝑡 𝑢𝑛𝑑 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐵𝑙𝑢𝑡 𝑡𝑟𝑖𝑛𝑘𝑡, 𝑏𝑙𝑒𝑖𝑏𝑡 𝑖𝑛 𝑚𝑖𝑟. 𝑈𝑛𝑑 𝑖𝑐ℎ 𝑖𝑛 𝑖ℎ𝑚«. Diese Worte, die wir auch unreligiös lesen können, verkörpern sich bei Armin Meiwes und Bernd Jürgen Armando Brandes, bei A und B, die sich verabredeten, damit der eine den Anderen verspeist. Der Autor und seine Figur, die wie er heißt und viele Erfahrungen mit ihm teilt, besingen überdies die Liebe, den Abstand, die Haltlosigkeit. Die Senthuran-Varatharajah-Figur recherchiert für ihren Roman, sucht mit Hingabe nach Worten, Silben, Gedanken, Erinnerungen, Assoziationen und nähert sich dem Gegenstand des Kannibalismus mit offenem Herzen. Die Zusammenkunft und Verspeisung von A und B zieht er präzise nach, in den Linien fast zärtlich, vorsichtig, dabei kippend in eine ruhige Gewalt und Vernichtung. Für die Figur vermengen sich die eigenen Wünsche nach einer einverleibenden Liebe mit dem Kannibalismus-Thema. Sie verkörpern sich in Begehren, Begriffen, Redewendungen und Assoziationen.

ROT (HUNGER) ist radikal, schwer, intim und vielschichtig. Es liegt mir fern, alle Bedeutungsebenen und Verbindungen aufzuspüren, denn auch die Rezeption verläuft für mich lyrisch, sinnlich, im Genuss und in der Hingabe für das Geschriebene selbst. Jede Seite kann ich aufschlagen und es finden mich bedeutsame Sätze, die ins metaphysische reichen. Ich verneige mich vor dem Autor, er hat großes geschaffen, das mit zu dem Besten gehört, was ich 2022 gelesen habe.

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Bewertung vom 28.01.2023
Unberechenbar
Spiotta, Dana

Unberechenbar


sehr gut

Sam ist 53 Jahre alt, ihr Leben verläuft in geregelten Weißen akademisch geprägten Vorstadtbahnen. Sie hat einen freundlichen Mann, eine heranwachsende Tochter, einen netten Nebenjob und ein Haus sowieso. Doch schaut sie distanziert-abgeneigt auf sich und die Frauen um sie herum. Sie langweilen sie, die postsexuellen Weißen Frauen in Hillary-Clinton-Hosenanzügen, die Sauvignon Blanc schlürfen, die Personal Trainer engagieren und Schönheitsoperationen in Betracht ziehen. Die einzige Aufregung ist die verhaltene Beunruhigung, dass Trump an die Macht kommt, und nicht Hillary, eine Frau, wie sie. In Sam brodelt es nicht nur körperlich, sie ist unruhig, schlaflos, ihr ist heiß und kalt. Mitten in der Kriminalitätsgeprägten Innenstadt kauft sie ein zerfallenes Haus und in einer Kettenreaktion verlässt sie Mann und Tochter.

Es ist doch erstaunlich, dass Frauenfiguren ab 50 als sexuelle und lebenshungrige Wesen selten untragisch geschildert werden. Deshalb feier ich jeden Roman, der diese Lücke schließt. Wer bis jetzt noch nicht an »Vladimir« von Julia May Jonas dachte, möge dies nun tun. Denn auch »Unberechenbar« ist ein amerikanischer Unterhaltungsroman, der viele gesellschaftlich wichtige Themen anreißt, der aus der Perspektive einer alternden Weißen Frau geschrieben ist, die sich einerseits befreit, andererseits in den Stereotypen stecken zu bleiben droht und deren Ernsthaftigkeit durch eine ordentliche Prise Humor gebrochen wird. Liebe Vladimir-Begeisterte, ihr werdet auch »Unberechenbar« mögen.

Bewertung vom 28.01.2023
Der junge Mann
Ernaux, Annie

Der junge Mann


ausgezeichnet

Er ist Mitte 20, Student, wohnt bescheiden und hat sich sie in den Kopf gesetzt. Sie ist Mitte 50, an einem anderen Punkt und lässt sich fallen in diese Leidenschaft.
Im gewohnten Ernaux-Stil erkundet die Autorin diese Episode ihres Lebens, legt mehr ihre als seine Motive, Reaktionen und Emotionen frei. Ernaux vermittelt Neugier an dem Altersunterschied, erfreut sich an einer überwundenen Scham. Sie zeigt Lust, Konventionen zu brechen, sich immerzu zu entwickeln, diesen Bruch literarisch zu verarbeiten und in ihr Gesamtwerk einzufügen, denn »Der Junge Mann« erzählt auch die Geburt von »Das Ereignis«.

Mit »Der Junge Mann« bricht Ernaux nicht nur mit thematischen Konventionen, sondern auch formal mit einer Konvention, die uns Leser:innen wichtig ist. Ein Roman sollte schon 300 bis 400 Seiten lang sein, weniger als 200 bitte nicht. Hat er aber weniger Seiten, winden wir uns, ihn Roman zu nennen. Und unter 100 Seiten, da hadern wir, so wenig Seiten, was ist das und ja, das ist teuer pro Seite sozusagen. Gerade jetzt, wo die Preise steigen und die Buchpreise zu steigen drohen, wirkt »Der Junge Mann« wie eine Provokation, denn er ist nur 41 Seiten lang, effektiv nur 32, groß geschrieben auch noch.

Natürlich irritierte auch mich die Kürze, in gut einer halben Stunde bin ich durch diese leidenschaftliche und zugleich lakonische Miniatur gestürmt, denn Tempo hat sie auch noch. Doch »Der Junge Mann« lohnt sich sehr, sowie der Inhalt als auch die radikal kurze Form haben meine Erinnerungen wie Haltungen provoziert und in einem neuen Licht gezeigt.
Ernaux erzählt mit »Der junge Mann« eine Geschichte, die mit jedem Wort mehr zu einer anderen würde. Der Nachhall würde sich mindern, ich wäre wahrscheinlich weniger inspiriert, je mehr Ernaux den Text in die Länge gezogen hätte. Vielleicht hinterfrage ich nun den Drang, Kunst an ihrer Seitenzahl messen zu wollen.

Bewertung vom 20.01.2023
Wo die Liebe schläft
Greenlaw, Lavinia

Wo die Liebe schläft


ausgezeichnet

»Wir machen einen Fehler oder biegen falsch ab, und wenn wir klug sind, bauen wir darauf, bis ein Weg entsteht. Als würde man eine Landkarte aus Abgründen und Sackgassen bauen.«

Mit »Wo die Liebe schläft« hat Greenlaw einen psychologisch klugen, nachdenklichen und poetischen Roman über die Liebe geschrieben, dessen Figuren in der Mitte ihres vollen Lebens stehen. Erzählt wird aus einem vorbewussten Raum, der alle Möglichkeiten der Figuren definiert. Sie können sich in diesem Raum bewegen, seinen Fährten folgen, oder sie abwehren, sich ablenken lassen, sich in ihre bewussten Gedanken, Sehnsüchte und Pläne flüchten.

Iris, eine Museumskonservatorin und der Historiker Raif spüren in einer flüchtigen Begegnung, wie ihre Körper und ihr Vorbewusstes ja zueinander sagen. Die Choreographie dieses zarten Romans lässt Iris und Raif abbiegen, sich begegnen, aber nicht direkt zugreifen. Raif ist zu beschäftigt mit seiner Befangenheit und Trauer. Seine Mutter braucht Hilfe und er versucht die Frau, die ihn ausgesucht hat, zurück zu lieben. Auch Iris kämpft mit alten Dämonen, mit Migräne, mit Panikanfällen und einer geendeten Liebe zu ihrem MS-Kranken Mann, Vater ihrer zwei Kinder, der sie betrog, den sie ausschloss, sie weiß nicht, was als erstes kam.

Ich flog durch die Seiten dieses leisen poetisch-eindringlichen Romans und dachte, es geht also doch, von Liebe in der Lebensmitte zu erzählen, ohne die Sorge um oder Fixierung auf ein "Verwelken" von Frauen oder die ganze Klaviatur der damit assoziierten Stereotype abzuspuhlen.
Sound und Stimmung ließen mich an Kundera denken, ähnlich soghaft, süßlich melancholisch las es sich. Der Blick auf die Figuren war vergleichbar direkt und schonungslos, doch Greenlaws Figuren sind mit einer nachsichtigen Liebe geformt, sie ließ immer einen Möglichkeitsraum offen, in dem sie friedlicher werden, Hoffnung haben, Glück und Erfüllung spüren können. Auch wenn die Frage offen bleiben muss, was das ist, innige Liebe und ob es möglich ist, sie festzuhalten.

Bewertung vom 09.01.2023
Blutbuch
de l'Horizon, Kim

Blutbuch


sehr gut

"Écriture fluide"

»Ich habe diesen Text schon zigmal angefangen, ich habe Plots konstruiert, bis mir übel wurde. Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.«

De L'Horizon kennt die Traditionen, die Techniken, wichtige Vorbilder des eigenen Schreibens gut, doch passt es nicht, will so nicht, sperrt sich. "Écriture fluide" hat De L'Horizon das Schreiben genannt, das sucht und eigene Formen im Gehen kreiert. »Blutbuch« läuft in viele Richtungen, verleibt sich die Themen einer Familiengeschichte, der Liebe, der Distanz, von Körperlichkeit, Sexualität und Gewalt, scheinbar gefestigten und fluiden Geschlechterbildern und nationaler Mythen, Botanik, der Klassengrenzen, der Überwindung dieser und weiterer Themen ein. Die Erzählstimme geht diese und weitere Pfade ab, benutzt dafür unterschiedliches literarisches Schuhwerk, nimmt Anlehnung an Deleuze, Wolf, Haraway, Ernaux, Eribon, Luis, um einige herauszugreifen, überschreitet Formen der Prosa, Lyrik, Autofiktion, Essay, Kulturgeschichte und der Sprache selbst.

Auf manchen Wegen wollte ich verweilen, bei anderen dachte ich, oh Seiten möget ihr euch wieder anderem Zuwenden, doch bewundere ich die Ausbalanciertheit der Erzählstimme, die alle Wege und Mittel zusammenhält, sie immer wieder hinterfragt, reflektiert und für ein harmonisches Ganzes sorgt.
@timothypaulmuc hat mir auf die Sprünge geholfen, was mich nachdenken ließ.
»Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin sechsundzwanzig«, so jung. Ich hoffe, dass der ganze Fame nicht platzt und auch nicht stört bei einer weiteren Entwicklung und Reifung. Ich möchte mehr lesen von Kim De L'Horizon und ich vermute, dass meine Textbegeisterung bei einer älteren Version von De L'Horizon ansteigen wird.