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cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 309 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


sehr gut

Die Geschichte einer starken Frau
Lauren Groffs neuer Roman “Matrix“ spielt im 12. Jahrhundert und erzählt die Geschichte von Marie de France. Die 17jährige Marie ist Vollwaise und wird von ihrer Halbschwester Eleonore als Priorin in einem heruntergekommenen, völlig verarmten Kloster in einer englischen Sumpflandschaft eingesetzt. Sie ist so unattraktiv, dass sie am Hof nicht mehr tragbar ist und auch nicht verheiratet werden kann. In dem Kloster leben noch 20 dürre Nonnen, die anderen sind an Seuchen gestorben oder verhungert. In der ersten Zeit will Marie nur unbedingt an den Hof zurück, muss aber einsehen, dass das nicht passieren wird. Dann erwacht ihre Tatkraft, und sie setzt ihren ganzen Mut und ihre Willensstärke ein, um das Kloster und die ihr anvertrauten Schwestern zu retten. Sie treibt bei säumigen Pächtern den fälligen Pachtzins ein, renoviert das Kloster, kümmert sich um Landwirtschaft und Viehzucht und setzt die Amtsträgerinnen so geschickt ein, dass das Kloster zu Ansehen und Reichtum kommt. Das weckt den Neid und die Gier der kirchlichen Vorgesetzten und des Hofs, aber auch der Dörfler. Marie lässt sich einiges zum Schutz ihrer Töchter einfallen und hat ein Netz von Informanten, die sie über geplante Attacken aller Art informieren.
Auch das Leben in der Gemeinschaft ist nicht frei von Problemen. Es gibt verbotene Lust, Schwangerschaft und Geburt, aber vor allem Neid, Missgunst und Intrigen und Kritik an Maries Arroganz und ihrem selbstherrlichen Anspruch, in ihrer Position als selbsternannte Heilige über kirchlichem und weltlichem Recht zu stehen. Sie hat Visionen, in denen ihr die Jungfrau Maria erscheint und ihr neue Wege aufzeigt.
Groffs Roman zeichnet kenntnisreich und sprachlich sehr gelungen das Porträt des klösterlichen Lebens im 12. Jahrhundert und beschreibt zugleich fünf Jahrzehnte im Leben einer intelligenten, starken Frau mit außerordentlichen Führungsqualitäten, die den Roman teilweise wie eine feministische Utopie wirken lassen. “Matrix“ ist Fiktion, denn über die reale Marie de France, eine Dichterin von Lais, ist sehr wenig bekannt, nicht einmal, ob sie tatsächlich in einem Kloster gelebt hat.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl ich sonst selten historische Romane lese. Ich empfehle ihn ohne Einschränkung.

Bewertung vom 02.08.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


sehr gut

Es ist immer eine Frage des Geldes
Elena Medels gefeierter Debütroman “Die Wunder“ erzählt eine Familiengeschichte über einen Zeitraum von knapp 50 Jahren: 1969-2018. Großmutter Maria wird nach einer Beziehung mit einem verheirateten Mann schwanger und muss Cordoba verlassen. Sie lebt danach in Madrid und arbeitet als Kindermädchen und Hausangestellte. Ihre Tochter Carmen wird von ihrer Familie aufgezogen. Maria erfährt nur über ihren jüngeren Bruder Chico Dinge aus dem Leben der Tochter. Maria führt ein Leben im Prekariat in einer winzigen Mietwohnung mit schlecht bezahlten Jobs. Sie hat in Pedro einen Partner, den sie nie heiratet und mit dem sie auch nach 24 Jahren nicht zusammenleben will. Der Leser erfährt, was es bedeutete, in dieser Zeit eine Frau zu sein: in der Öffentlichkeit hat sie nicht das Recht sich zu gesellschaftlichen und politischen Themen zu äußern, obwohl sie belesen ist und sich auszudrücken weiß. Durch häusliche Diskussionen liefert sie ihrem Partner Argumente und Formulierungshilfen. Frauen redeten bei Treffen nur mit Frauen, und zwar über Schwangerschaft und Geburt, Kochrezepte und Schönheitstipps. Obwohl sich nach dem Ende der Diktatur - Franco starb 1975 - und dem Sieg der linken Partei Partido Socialista Obrero Espanol (PSOE) im Jahr 1982 die gesellschaftlichen Verhältnisse in Spanien änderten, wiederholt Enkelin Alicia in gewissem Umfang die Erfahrungen der unbekannten Großmutter. Als ihr geschäftlich zunächst sehr erfolgreicher Vater nach seinem Bankrott Selbstmord begeht, stürzt auch sie gesellschaftlich ab und lebt in ebenso prekären Verhältnissen wie Maria.
Medel erzählt auf zwei Zeitebenen und mit wechselnder Perspektive Marias und Alicias Geschichte. Es geht um das Gewicht der Familie im Leben einer Frau, um die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse und immer wieder um Geld, vor allem den Mangel an Geld. Inwieweit definiert uns das Geld, das wir nicht haben? Welche Verantwortung, Erwartungen, Sehnsüchte und Sorgen machen das Leben einer Frau aus?
Mir hat der nicht gerade mühelos zu lesende Roman trotzdem gefallen, weil es Frauenschicksale vom Ende der Franco-Diktatur bis zu den Krisen unserer Zeit eindrucksvoll präsentiert. Eine empfehlenswerte Lektüre, aber nicht für jeden Leser.

Bewertung vom 17.07.2022
Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. / Emer Murphy Bd.1
Getz, Kristine

Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. / Emer Murphy Bd.1


gut

Jeder gegen jeden
In Oslo verschwindet eines Tages die kleine Poppy, die niedliche zweijährige Tochter der Bloggerin Lotte und ihres Mannes Jens Wiig. Poppys tägliche Präsenz in den sozialen Medien und die Werbung für bestimmte Artikel sichern dem Ehepaar bei 440.000 Followern auf Instagram üppige Einnahmen, zerstören aber jegliche Privatsphäre. Wenn die Eltern also Poppys Bild vor dem Haus der Großeltern posten und bekannt geben, dass sich das Kind in Abwesenheit der Eltern dort aufhält, erfahren das Tausende. Gerade ist ein ganz ähnlicher Fall mit der Rückkehr des Kindes noch einmal gut ausgegangen. Jetzt tappt die Polizei jedoch zunächst völlig im Dunkeln. Die nach einem Zusammenbruch noch krankgeschriebene Ermittlerin Emer Murphy erfährt von dem neuen Fall und beginnt sofort mit der Arbeit. Mit ihren besonderen intuitiven Fähigkeiten hat sie schon so manchen Fall gelöst. Sie will Poppy unbedingt zurückholen, zumal sie selbst durch den Verlust eines Kindes traumatisiert ist.
Erzählt wird die komplizierte Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Neben den beiden Handlungssträngen um das verschwundene Kind und die Ermittlerin Murphy kommen wichtige Themen ausführlich zu Sprache: Pädophilie und die Gefährdung von Kindern durch Exposition im Netz, aber auch eine schwierige Familiensituation, in der jeder etwas zu verbergen hat und rücksichtslos seine eigenen Interessen verfolgt. So weiß Ehemann Jens nichts über die Vergangenheit seiner Frau, die als kindlich aussehendes Cam-Girl Charlie von ihrer Schwester Alex im Netz vermarktet wurde und für viel Geld die speziellen Wünsche von Perversen aller Art erfüllte. Ich finde den Roman zwar überwiegend spannend, aber insgesamt ein wenig wirr, zu konstruiert und von daher wenig plausibel. Dieser Auftakt einer Serie um Emer Murphy hat mich eher enttäuscht.

Bewertung vom 17.07.2022
An den Ufern von Stellata
Raimondi, Daniela

An den Ufern von Stellata


sehr gut

Die Geschichte der Casadios
In ihrem Debütroman „An den Ufern von Stellata“ erzählt Daniela Raimondi die sieben Generationen umfassende Geschichte der Familie Casadio – von 1800 bis 2013. Es beginnt mit Giacomo Casadio, der sich in ein Mitglied des fahrenden Volkes verliebt. Die Gruppe musste wegen starker Regenfälle in der Nähe des Ortes Stellata in der Lombardei überwintern und bleibt für immer. Giacomo und Viollca werden ein Paar. Durch diese Verbindung gibt es über Generationen den hellhäutigen Zweig der Familie und den dunkelhäutigen mit braunen Augen und dichter schwarzer Mähne. Viollca bringt ein übersinnliches Element in die Geschichte, nicht nur durch die merkwürdigen Federn in ihren Haaren, sondern auch durch ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken. Auch in den folgenden Generationen gibt es immer wieder einzelne Mitglieder der Familie, die über solche Fähigkeiten verfügen.
Erzählt wird die Familiensaga unter Einbeziehung der Zeitgeschichte: 1. und 2. Weltkrieg, der Kampf der Partisanen, die Roten Brigaden usw. So ist der Roman zugleich Familiengeschichte und Geschichtsbuch. Der Roman liest sich gut, obwohl die Personenvielfalt ein wenig für Verwirrung sorgt. Es empfiehlt sich, einen Stammbaum anzulegen, um nicht den Überblick zu verlieren. Trotz einiger Längen im letzten Drittel hat mir das Buch gut gefallen, und ich empfehle es gern.

Bewertung vom 17.07.2022
Das Glück auf der letzten Seite
Bonidan, Cathy

Das Glück auf der letzten Seite


sehr gut

Ein Roman verändert Leben
Eine junge Frau namens Anne-Lise will ein paar Urlaubstage in der Bretagne verbringen und reserviert das Zimmer 128 im Hotel Beau Rivage. Dort findet sie zu ihrem großen Erstaunen ein altes Manuskript. Sie liest den Roman und ist sehr davon angetan. Dann schickt sie das Manuskript an die beigefügte Andresse. Wie sich herausstellt, hat Sylvestre, der Autor, seinen Text seit über 30 Jahren nicht mehr gesehen und weiß auch nicht, wer den Schluss verfasst hat. Beide beginnen mit den Nachforschungen, um herauszufinden, durch welche Hände der Roman gegangen ist und wie das alles zusammenhängt.
Bonidan wählt die ungewöhnliche Form des Briefromans. Wir lesen die Korrespondenz von einer wachsenden Zahl von Personen, die sich schreiben, zum Teil begegnen. Auf diese Weise werden immer mehr Indizien zusammengetragen, die den Leser die Geschichte zurückverfolgen lassen. Das Manuskript selbst bekommen wir nicht zu sehen. Dafür werden wir Zeugen von erstaunlichen Veränderungen: Menschen verlassen ihre selbstgewählte Isolation und nehmen wieder am Leben Teil, andere verlieben sich und fangen eine Beziehung an. Allerhand Geheimnisse aus der Vergangenheit kommen ans Licht. Am Ende ist das Leben aller Beteiligten ein anderes.
Ich habe den Roman gern gelesen, obwohl ich die wachsende Personenzahl teilweise etwas verwirrend fand und man anders als bei einer stringenten Handlung leichter den Überblick verliert, welche vielfältigen Verbindungen es zwischen einzelnen Figuren gibt. Mir gefällt der Roman, wobei mich die Autorin nicht erst davon überzeugen musste, dass Bücher Leben verändern. Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 16.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


sehr gut

Gesellschaft in der Krise
Dass Paris nicht nur ein fotogenes Traumziel für Touristen aus aller Welt, sondern durchaus auch Schauplatz von blutigen Konflikten und Terrorakten ist, wissen wir spätesten seit Charlie Hebdo und Bataclan. Benjamin Grossmann stammt aus dem armen Pariser Osten, hat es aber beruflich geschafft. Er ist Chef des amerikanischen Streaming-Anbieters BeCurrent und geht demnächst nach Dublin. Eines Tages wird ihm in einem Lokal sein Handy gestohlen. Er denkt, es war ein junger Mann, der ihn angerempelt hat. Er verfolgt ihn und schlägt ihn brutal. Einen Tag später wird dieser junge Mann am Canal St. Martin tot aufgefunden. Eine türkischstämmige Polizistin findet den Jungen und versetzt ihm einen Tritt in die Seite, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Schülerin Camille alias @corky filmt die Szene und schneidet aus den Bildern ihre bisher eindrucksvollste Sequenz über Polizeigewalt, die sofort viral geht, allerdings nichts mit dem Vorfall zu tun hat, wie er sich wirklich abgespielt hat. Unsicherheit und Angst, Hass und Gewalt nehmen zu, und es kommt zu einer unaufhaltsamen Eskalation mit vielen Toten und hohen Sachschäden. Das Leben aller Menschen, die zu den genannten Ereignissen in irgendeiner Beziehung stehen, verändert sich für immer. Vor allem Benjamin Grossmann muss sich von nun an fragen, ob er am Tod des Jungen eine Mitschuld trägt, oder ob es sich tatsächlich um eine weitere blutige Auseinandersetzung von verfeindeten Gangs verschiedener Cités handelt.

Die gebürtige Iranerin Djavadi lebt selbst seit Jahrzehnten im Pariser Osten und kennt die Probleme sehr genau. Anhand ihrer fiktiven Geschichte übt sie scharfe Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich so lange nicht ändern werden, wie die Mächtigen nicht sehen, dass solche Ereignisse kein lokales Problem sind, sondern eine Folge der Art und Weise, wie die Franzosen mit Immigration, Integration und den Flüchtlingsströmen umgehen. Wenn Menschen anderer Rassen und einer ursprünglich anderen Nationalität auch in der zweiten und dritten Generation nicht integriert sind, wenn junge Menschen keine Lebensperspektive haben und Drogen und Kriminalität ihr Leben bestimmen, läuft etwas grundlegend falsch.

Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl er sich wegen der Personenvielfalt, den vielen verschiedenen Geschichten und Schauplätzen nicht mühelos liest und durchaus einige Längen hat. Ich halte ihn für ein gelungenes, sehr wichtiges Gesellschaftsporträt.

Bewertung vom 05.06.2022
City on Fire Bd.1
Winslow, Don

City on Fire Bd.1


sehr gut

Bandenkrieg an der amerikanischen Ostküste
In Don Winslows neuem Roman, dem Auftakt einer geplanten Trilogie, geht es um die rivalisierenden irischen und italienischen Syndikate, die mit Schutzgelderpressung, Schmuggel, Raub und Mord von sich reden machen. Die Iren werden angeführt von John Murphy und seinem Sohn Pat, nachdem sich der alte, alkoholabhängige Marty Ryan aus dem Geschäft zurückgezogen hat. Sein Sohn Danny ist mit Terry, John Murphys Tochter, verheiratet und mit seinem Sohn Pat seit der Kindheit eng befreundet. Er arbeitet im Hafen, ist an kleineren Überfällen beteiligt und treibt Geld von säumigen Schuldnern ein. In der Clan-Hierarchie steigt er zunächst nicht auf, weil sein Schwiegervater keinen Ryan als Rivalen haben will. Bei einer Party am Strand zeigt sein Schwager Liam Murphy ein zu großes Interesse an der Freundin von Paulie Moretti, dem Bruder von Peter Moretti, dem Clanchef der italienischen Mafia und löst damit einen Bandenkrieg mit vielen Opfern aus. Danny Ryan, inzwischen Vater eines kleinen Sohns, will bei einem letzten Coup mitmachen und dann aussteigen. Er merkt nicht, dass man ihm eine Falle gestellt hat, um ihn auszuschalten und gerät in große Gefahr.
Don Winslow ist an der Ostküste aufgewachsen und zeichnet ein realistisches Porträt dieses brutalen Bandenkriegs in den 80er Jahren mit allem, was dazugehört: korrupte Polizisten und Angehörige der Justiz, die zahlungswillige Clanmitglieder schützen und an den Verbrechen verdienen. Danny Ryan, der noch keinen Mord begangen hat, ist hier noch der sympathischste Protagonist. Als Leser wünscht man ihm, dass er überlebt und dem Milieu entkommt. Winslows Thriller liest sich authentisch und spannend und weckt das Interesse an den Fortsetzungen. Ich kenne einige Romane von Don Winslow und empfehle diesen neuen Thriller gern.

Bewertung vom 22.05.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


sehr gut

Eine Generation erlebt das Trauma der Troubles
Anna Burns im Original fast 20 Jahre vor dem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman “Milchmann“ veröffentlichter neuer Roman “Amelia“ (“No Bones“) erzählt die Geschichte eines Mädchens namens Amelia Boyd Lovett, die im Arbeiterviertel Ardoyne im Norden von Belfast aufwächst. In Ardoyne sind die Einwohner katholisch und haben eine irisch-nationalistische Gesinnung. Auf der anderen Seite der Crumlin Road beginnt das protestantische Shankill - Viertel. Amelia ist acht Jahre alt, als 1969 die bürgerkriegsähnlichen, Troubles genannten Unruhen beginnen, die erst in den 90er Jahren mit dem Karfreitagsabkommen beendet werden. Die Autorin, die einen ähnlichen Hintergrund hat wie ihre Protagonistin, beschreibt eine Kindheit, die geprägt ist von Hass und Gewalt und weit entfernt von jeglicher Normalität. Auch eine Großfamilie wie die Lovetts bietet da keine Sicherheit, wenn schon die Heranwachsenden zu Trinkern werden und sich in gewaltbereiten Gangs organisieren, die den verhassten Gegnern gern mal die Kniescheiben zerschießen. Schon Kinder bewaffnen sich und basteln Bomben. In jeder Familie gibt es Vermisste, Verletzte und Opfer von Morden, und wer überlebt, ist dennoch fürs Leben gezeichnet. Viele werden Alkoholiker und entwickeln psychische Störungen, die oft im Selbstmord enden. Amelia leidet Jahre unter Anorexie, Depressionen und Alkoholabhängigkeit und landet zeitweise in der Psychiatrie. Erzählt wird die Geschichte nicht als zusammenhängender Plot, sondern in vielen Episoden, der Chronologie folgend bis zu den Anfängen des Friedensprozesses 1994.
Ich habe den Roman mit großem Interesse gelesen, und genau wie bei “Milchmann“ bin ich überzeugt, dass man das Buch ohne Vorkenntnisse nicht versteht. Wer hasst und bekämpft wen und warum? Wofür stehen die ganzen Kürzel – RUC, INLA, IRA etc. -, und was hat es mit den zahlreichen paramilitärischen Organisationen auf sich? Das Buch ist in jeder Hinsicht keine leichte Kost. Angesichts von so viel Gewalt verliert ein ganzes Land seine Unschuld, und der Leser kann sich der deprimierenden Grundstimmung nicht entziehen. Nicht einfach zu lesen, aber dennoch empfehlenswert.

Bewertung vom 16.05.2022
Eine Frage der Chemie
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie


ausgezeichnet

Chemie ist Veränderung
Bonnie Garmus´ Debütroman „Eine Frage der Chemie“ zeichnet das Porträt einer jungen Amerikanerin in den 50er und 60er Jahren. Elizabeth Zott ist eine überdurchschnittlich intelligente und begabte Chemikerin. Sie will in ihrem Beruf ihren Weg gehen und nicht Hausfrau und Mutter sein, doch die Hürden scheinen unüberwindlich. Erst fliegt sie aus dem Promotionsprogramm an der UCLA, weil ihr Doktorvater nach ihrer Vergewaltigung verhindern will, dass sie ihm schadet. An einem Forschungsinstitut in Hastings arbeitet sie danach für einen geringen Lohn als Laborassistentin. Nur der geniale Chemiker Calvin Evans sieht ihr Potential. Sie verlieben sich, aber Elizabeth Zott will sie selbst bleiben, will keine Hochzeit und auch keine Kinder, um nicht fortan Mrs. Calvin Evans zu sein. Aber dann stirbt die Liebe ihres Lebens, und Elizabeth ist schwanger. Ihr wird gekündigt, weil eine Angestellte mit einem unehelichen Kind untragbar ist. Elizabeth bekommt einen Job bei einem Fernsehsender, wo sie die Kochsendung „Essen um sechs“ moderieren soll. Auch hier gibt es von Anfang an Konflikte, weil Elizabeth sich weigert, für sie inakzeptable Anweisungen zu befolgen... Auch der Chef des Senders wird sexuell übergriffig, aber Elizabeth weiß sich zu wehren. Ihre unkonventionelle Sendung ist beliebt, obwohl sie viel Chemiewissen enthält – nicht nur wegen der Gerichte, die sie kreiert, sondern auch, weil sie den Frauen Mut macht, niemals ihre Träume aufzugeben und Veränderungen in ihrem Leben in Angriff zu nehmen.
Garmus´ Roman ist lesenswert, weil er an vielen Beispielen zeigt, wie umfassend die Benachteiligung von Frauen war und wie wichtig die Gleichstellung der Geschlechter gesamtgesellschaftlich ist. Emanzipation wird als Thema nicht dogmatisch vermittelt, sondern eingebettet in eine berührende Geschichte mit viel Humor und Sprachwitz. Die Charaktere sind sorgfältig gezeichnet, nicht zuletzt auch die Figur des klugen, empathischen Hundes Halbsieben, der Elizabeth beschützt und ihr bei der Arbeit und der Betreuung der kleinen Tochter Madeline hilft. Erschreckend ist, was ihr alles widerfährt. Da sind nicht nur die Verleumdungen und sexuellen Übergriffe, sondern auch der schamlose Diebstahl von geistigem Eigentum. Ihr Chef am Forschungsinstitut veröffentlicht ihre Forschungsergebnisse unter seinem Namen, spricht ihr jedoch gegenüber Reportern jegliche Befähigung zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit ab, genauso wie der Vergewaltiger von der UCLA. Beide stellen sie ziemlich unverblümt als Schlampe dar.
Mir hat der berührende und auch sprachlich gelungene Roman sehr gefallen, und ich empfehle ihn ohne Einschränkung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.05.2022
Das Leben eines Anderen
Hirano, Keiichir_

Das Leben eines Anderen


sehr gut

Wer war ich, wer bin ich, und wer werde ich sein, wenn ich sterbe?
Eine junge Frau namens Rie verliert ihren Ehemann nach nicht einmal vier glücklichen Ehejahren durch einen Arbeitsunfall. Obwohl ihr Mann vor vielen Jahren den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte, trifft sie ein Jahr später ihren Schwager, der ihr sagt, dass der Mann auf den Fotos nicht sein Bruder Daisuke Taniguchi ist. Sie wendet sich an den Anwalt Akira Kido, der sie acht Jahre zuvor bei der Scheidung von ihrem ersten Mann vertreten hatte. Jetzt möchte sie herausfinden, wer ihr Mann und Vater ihrer Tochter wirklich war. Die Nachforschungen dauern über ein Jahr. Kido ermittelt in zwei Richtungen: er sucht nach der wahren Identität des Verstorbenen und versucht, den echten Daisuke zu finden. Dabei stößt er auf einen Kriminellen, der vor seiner Inhaftierung mit Identitäten und Fälschungen der amtlichen Personenregister handelte. Viele seiner Kunden haben dabei ihre Identität mehrfach getauscht, was die Ermittlungen weiter erschwert. Kido kniet sich so in den Fall, dass nicht nur seine Ehe in eine schwere Krise gerät, sondern er auch die eigene Identität zunehmend hinterfragt. Die Vorstellung, ein anderer zu werden, ein neues, anderes Leben zu beginnen, erscheint ihm immer attraktiver, zumal er eine ganz besondere Vorgeschichte hat: Er ist ein Japaner mit koreanischen Wurzeln, ein Zainichi in der dritten Generation. Obwohl er selbst zumindest als Erwachsener nicht Opfer von Diskriminierung und Fremdenhass geworden ist, sieht er den wachsenden Extremismus in der japanischen Gesellschaft mit großer Sorge. Eines Tages stellt er sich probeweise dem Schriftsteller in einer Bar unter falschem Namen vor, was den Autor dazu veranlasst, ihn zu seinem Protagonisten in einem neuen Roman zu machen. Dies erfährt der Leser in einem Prolog.
Der vorliegende Roman ist kein Pageturner, aber interessant genug, um sich selbst diese Fragen zu stellen: Was macht unsere Identität aus? Wie lebt es sich mit einer Lüge? Würde ein anderer mit meiner Identität ein besseres Leben führen? Könnte ich mit einer neuen Identität meinem Schicksal entgehen? Mir hat der Roman gefallen, weil er viele Facetten der japanischen Gesellschaft zeigt: das komplizierte System der Familienregister, Massaker an der koreanischen Minderheit und ihre andauernde Diskriminierung, die tiefgreifenden Folgen von Erdbeben und Tsunamis usw. Lediglich die sprachliche Qualität der deutschen Übersetzung hat mich mehrfach gestört.