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Zauberberggast
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München

Bewertungen

Insgesamt 155 Bewertungen
Bewertung vom 24.05.2020
flüchtig
Achleitner, Hubert

flüchtig


ausgezeichnet

"flüchtig" ist der erste Roman und die erste schriftstellerische Veröffentlichung des österreichischen Musikers, Sängers und Liedermachers Hubert von Goisern, dessen musikalisches Werk ich seit ca. 20 Jahren begeistert verfolge. Da seine Liedtexte klug, wortgewaltig und oft von einer bestechenden Eindringlichkeit sind, war es für ihn ein vollkommen natürlicher Schritt, den künstlerischen Genrewechsel zu vollziehen und sich auch in der Literatur zu versuchen. Dies geschieht jetzt aber unter seinem Geburtsnamen Hubert Achleitner, womit eine Grenze zu seinem musikalischen Ich gesetzt sein dürfte.

Mit 55 Jahren ist Maria auf der Suche nach sich selbst. Ihre eingefahrene, unfruchtbare Ehe mit Herwig ist gescheitert, Sport ist Marias Ersatzbefriedigung Nummer Eins. Ein bestimmtes Ereignis bringt das Fass allerdings zum Überlaufen und Maria zieht sich aus ihrem alten Leben raus, sie entflieht, wird "flüchtig". Sie geht auf eine Reise, die sie in den Süden und irgendwie auch zu sich selbst führt.

Achleitner gelingt es auf gekonnte Art und Weise und ganz ohne erhobenen Zeigefinger, Reflexionen über Gott und die Welt in seine Prosa einzustreuen. Manchmal wirds politisch, manchmal philosophisch. Auch Glaube, Religion und Spiritualität sind wichtige Themen des Buches. In welchen irdischen Dingen manifestiert sich das Glück, kann man es festhalten oder ist es eben, wie Maria und der Titel, flüchtig?

Dass Achleitner im Hauptberuf Musiker ist, merkt man seinem Buch deutlich an. Überall wimmelt es von Melodien, Tonarten, Tonträgern, Klangfarben, Gesang, onomatopoetischen Wendungen, unterschiedlichen Darbietungsformen von Musik, berühmten und unberühmten Musikern, Instrumenten und dergleichen mehr. Seine Figuren machen Musik, hören Musik, sie leben die Musik. Manchmal arbeiten sie sich auch an ihr ab oder kritisieren sie in ihren Spielarten: Genres, Musiker, Musicals, Komponisten. Musik steht auch für das absolute Präsens, die unverbrüchliche Hingabe an den Moment, das Hier und Jetzt.
Auch das Leben von Achleitners Protagonisten läuft ab wie ein Song, bei dem sie gelegentlich aus dem Takt geraten. Sie haben ihren ganz eigenen Rhythmus, Intermezzi, Tempi und ihre Grundmelodie des Herzens ist das Leitmotiv, dem sie folgen.

Erotik ist auch ein zentrales Thema des Buches. Es ist eine Sinnlichkeit, die auch der Musik innewohnt, der sich seine Figuren hingeben. Fast schon ein Liebesreigen, mal hier mal dort, an jedem Ort - nichts ist für die Ewigkeit, flüchtig eben.

Sehr häufig bedient sich der Autor auch der atmosphärischen Beschreibung von Wetterlagen. Dies hat etwas sehr archaisches, das Leben bestimmt von den Gezeiten und von der Witterung, vom Kreislauf der Natur.

Den einzigen klitzekleinen “Kritikpunkt”, den ich an "flüchtig" habe, ist die Tatsache, dass der Autor sich gelegentlich in Nebengeschichten verliert und für die doch relativ moderaten knapp 300 Seiten etwas viele Randfiguren ins Spiel bringt. Zum Beispiel geht es dann plötzlich ganz ausführlich um die Geschichte des Jugendfreundes von Marias griechischem Geliebten oder um die Story des Freundes von Herwigs Vater aus dem Seniorenheim. Richtig gestört haben mich diese digressiven Schlenker zwar nicht, aber es lenkt doch ein wenig von der Haupthandlung ab und verleiht dem Roman etwas "Wimmelbuchhaftes", frei nach dem Motto: Schaut her, diese Person hat auch eine interessante Geschichte und diese auch und erst diese hier! Es passt aber auch irgendwie zu dem Buch und zu den “Bienen-artigen” Romanfiguren, die von einer Blume zur nächsten fliegen, so macht es eben auch der Erzähler.

Alles in allem aber will ich sagen, dass Achleitner ein wundervolles Romandebut hingelegt hat, das nicht nur den Fans von Hubert von Goisern gefallen dürfte. Es ist rhythmisch, erotisch, nachhallend und warmherzig, kurz: sehr empfehlenswert! Und dafür, dass es ein Debutroman ist, ziehe ich voller Respekt meinen Hut vor diesem vielseitigen Künstler!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.05.2020
Miezbert
Stütze, Annett;Vorbach, Britta

Miezbert


ausgezeichnet

Wir haben das Buch zwar erst wenige Tage, aber der Ausruf "Du bist ein richtiger Miezbert", ist in unserer Familie bereits zum geflügelten Wort angesichts des Vorhandenseins von Grummeligkeit bei Appetit geworden.

Worum geht es also in diesem besonders farbenfrohen Kinderbuch? Der kleine, eigentlich fröhliche Kater Miezbert, wird von seinem Freund, dem Vogel Piep, zum Spielen abgeholt - leider ohne vorher gefrühstückt zu haben. Doch während sie nach und nach die Tiere des Waldes besuchen, bekommt Miezbert immer schlechtere Laune und unerklärliche körperliche Symptome - er wird zum “Miesbert”. Plötzlich ist gar nichts mehr toll und er erlangt die Erkenntnis, dass er einfach Hunger hat. Leider werden alle Essensangebote der freundlichen Waldbewohner ausgeschlagen - nur sein eigener Kühlschrank und der darin befindliche Fisch können ihn noch retten. Plötzlich ist Miezbert wieder ein überaus glücklicher und ausgeglichener Kater, der in Zukunft immer eine Notfall-Ration Fisch auf seine Ausflüge mitnehmen wird.

Und was ist die Moral von der Geschicht’? Verlass das Haus ohne Essen nicht. Oder so. Jedenfalls hat dieser kleine blaue Kater ein hohes Identifikationspotenzial, vor allem für die Zielgruppe Drei plus. Sind wir nicht alle ein bisschen Miezbert, wenn wir Hunger haben?

Was meiner vierjährigen Tochter, neben dem witzigen Text natürlich, richtig gut gefallen hat, sind die Illustrationen und die Knallfarben, die in diesem Buch Verwendung fanden. Bunte Signalfarben sind bei Kindern ja stets beliebt und besonders der Protagonist des Buches, Miezbert, ist in einem auffälligen Knallblau gehalten.

Lobend möchte ich abschließend auch noch die Herstellung des Buches erwähnen. Es wurde nachhaltig und ohne Lösungsmittel produziert und ist damit besonders kinderfreundlich. Es lohnt sich damit auf jeden Fall ein Blick auf die Verlagsseite des Schweizer Baeschlin-Verlags, der noch andere tolle Kinderbücher im Programm hat.

Bewertung vom 17.05.2020
Da sind wir
Swift, Graham

Da sind wir


sehr gut

Graham Swifts kurzer Roman "Da sind wir" ist geballtes Erzählen, Narration im Zeitraffer gewissermaßen. Es ist eine Geschichte über das Leben dreier Menschen aus dem britischen Showbusiness des 20. Jahrhunderts - Kollegen, Freunde, Geliebte.
Im Mittelpunkt steht Ronnie Deane, der Zauberer. Er wird 1931 in bescheidenen Verhältnissen in London geboren und erlebt als Kind die Kriegsjahre in Großbritannien. Seine Mutter bringt ihn während der Zeit der Bombenangriffe bei einem vermögenden Paar in Oxfordshire unter, das sich als Mitbegründer der Organisation "Oxfam" sozial engagiert. Sein Pflegevater Eric Lawrence bringt ihm das Zaubern bei und Ronnie macht es zu einer Karriere. Während seiner Armeezeit lernt er den Show-Produzenten, Schauspieler und Entertainer Jack Robbins kennen, in dessen Shows er auftritt. Seine Assitentin Evie White wird auch zu seiner Lebenspartnerin abseits der Bühne. Während eines Sommeraufenthaltens 1959 in Brighton, bei dem Evie und Ronnie als Pablo & Eve bei Jacks Bühnenshow auftreten, ändert sich das Leben der drei Showmenschen für immer.
Die Lebensgeschichten der drei Hauptfiguren werden sehr schnell erzählt (teilweise im Modus: Dann passierte das und dann das…), scheinbar ohne Tiefe, zweidimensional. Erst als wir mit Evies Perspektive konfrontiert werden, bekommt das Ganze ein reflexives Gerüst, die Narben und Verletzungen der Figuren sowie ihr Lebensdrama werden sichtbar.
Wir haben einen allwissenden Erzähler, der zwischen verschiedenen Perspektiven, Zeiten und Ereignissen hin- und her springt. Manchmal geht der Perspektivwechsel sehr schnell und man muss aufpassen, dass man den Zeitsprung von 50 Jahren überhaupt mitbekommt.
Graham Swift ist ein Erzähler der alten Schule - er beschränkt sich auf das Wesentliche, festgehalten in einer reinen, gekünstelten Prosa, die in Wechselwirkung mit dem schillernden Show-Beruf der Protagonisten steht. Swift schält die Geschichte gewissermaßen und zurück bleibt das zerstückelte Fruchtfleisch, in das der Leser getrost hineinbeißen kann, wie in reifes Obst.
Eigentlich ist das Buch von seiner Form her eine klassische Novelle. Das Leit- bzw. Falkenmotiv ist hier der bunte Papagei, der auch bei der "unerhörten Begebenheit", die gegen Ende erzählt wird, eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Erzählen auf die klassische Art also.
Experimentell ist das nicht und will es auch nicht sein. Es ist solide, eine interessante Geschichte, denn der Leser bekommt einen Einblick in einen Bereich des Showbusiness, der noch vor allen anderen auf Effekthascherei, Täuschung, Illusionen und Tricks basiert.
Eine schön erzählte Geschichte einer Dreiecksbeziehung, bei der ein Beteiligter am Ende den Kürzeren zieht, aber kein Meisterwerk.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.05.2020
Die Geheimnisse meiner Mutter
Burton, Jessie

Die Geheimnisse meiner Mutter


sehr gut

Dass ich diesen Roman so gut finden würde, wie ich ihn letztendlich dann doch fand, hätte ich vorher nicht erwartet. Die Story klang für mich elitär, anstrengend, leicht esoterisch: Eine junge Frau sucht ihre Mutter, die sie als Baby weggegeben hat, und findet dadurch sich selbst.

Erfreulicherweise ist die Geschichte aber überhaupt nicht dröge oder mit erhobenem Zeigefinger verfasst. Natürlich, es geht um weibliche Selbstbestimmung, um die Suche nach Identität - keine neues Motiv in der Belletristik. Wieder eine Protagonistin (Rose) in der "Rushhour des Lebens" (sie ist 34), die sich entscheiden muss: ist er (Joe) der Richtige, will sie mit ihm sesshaft werden, eine Familie gründen? Oder ist die Suche nach ihrer Mutter (Elise) und damit nach ihren Wurzeln der jungen Frau wichtiger?

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. In der Vergangenheitshandlung lernen wir die Perspektive der Mutter kennen. Die Jahre 1980-83, in denen Elise die 16 Jahre ältere Schriftstellerin Constance (Connie) kennen und lieben lernt und mit ihr für einige Zeit nach Los Angeles geht, wo eines von Constances Büchern für Hollywood verfilmt wird. Im London der Jahre 2017/2018 ist die junge Rose auf der Suche nach Spuren ihrer Mutter. Ihr Vater gibt ihr den Hinweis, dass Elise mit einer Schriftstellerin namens Constance zusammen war. Die Geschehnisse nehmen ihren Lauf.

Beide Geschichte sind etwa gleichwertig erzählt - keiner wird gegenüber der anderen den Vorzug gegeben. Der Unterschied ist aber, dass Rose aus der Ich-Pespektive erzählt, während in der Vergangenheit eine personale Erzählinstanz im Spiel ist.

Obwohl die Probleme der beiden Protagonistinnen gewissermaßen zeitlos sind, ist der Gegenwartstext am Puls der Zeit. Die aktuellen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung - z.B. durch Social Media oder Foodtrucks, werden angesprochen.

Trotz der eher ernsten Grundthematik Identitätssuche und schweren Plot-Elementen wie Gewalt, Krankheit, Verlust, etc., liest sich das Buch erstaunlich leicht. Dazu trägt unter anderem der immer wieder aufblitzende Humor in der Erzählstimme bei. Ob der Vergleich der Familie von Roses Freund mit einem hoch emotionalen Theaterstück von Tennessee Williams oder Roses Flunkereien zu ihrer wahren Identität, ihr Schlagabtausch mit Connie bzw. ihre Betrachtungen ganz allgemein, etc., man merkt dass das traditionell britische Erzählen hier im Hintergrund lauert. Ich bin immer entzückt, wenn ich in scheinbar rein ernsten Büchern mit einer gewissen Nonchalance oder sogar mit Witz überrascht werde.

Jessie Burton erzählt sehr bildgewaltig, mit vielen Metaphern und Vergleichen, die zur Plastizität des Romans beitragen. Viele Sentenzen, die sie in ihre Prosa einstreut, habe ich mir aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit angestrichen und, um sie nicht zu vergessen.

Zum Schluss hin aber verliert die Geschichte leider etwas von ihrer Strahlkraft, die vor allem in der Dynamik zwischen Connie und Rose aufscheint. Die Erzählung zerfranst gewissermaßen, die Figuren verlieren an Kontur, einige ihrer Entscheidungen und Handlungen sind nicht mehr wirklich nachvollziehbar. So hat mich das Ende dann auch etwas traurig und unbefriedigt zurückgelassen. Deshalb nur 4 von 5 Sternen.

Bewertung vom 30.04.2020
Was wir sind
Hope, Anna

Was wir sind


ausgezeichnet

Wenn man nach dem Lesen eines jeden Kapitels das Buch kurz zuschlägt um innezuhalten und um "wow, das ist so gut" zu denken, dann hat das Buch in meinen Augen seine 5 Sterne verdient.

Was soll ich sagen? Dieser Roman bildet die Lebenswirklichkeit der Generation von modernen Frauen, die in den mittleren 1970er Jahren geboren wurden, 1:1 ab, legt den Finger in die Wunde ihrer Befindlichkeiten. Drei Frauen aus England, die sich kennen, Freundinnen waren bzw. irgendwie immer noch sind, werden unter dem Brennglas der auktorialen Erzählinstanz auf ihre gegenwärtigen Unzulänglichkeiten hin untersucht. Ihre momentane Existenz wird mit ihrer vergangenen verglichen (es gibt zahlreiche kursivierte Rückblenden). Die Wünsche, Träume und Vorstellungen, die sie abgelegt haben, treten wie ein offener Bruch aus dem Körper ihres Ichs hervor. Alle drei Frauen sind zum Zeitpunkt der Haupthandlung im Jahr 2010 Mitte 30, also in der “Rushhour des Lebens”, in der eigentlich alles unter Dach und Fach gebracht werden will: Kinder, Karriere, Haus und Garten, gemachte Erfahrungen - alles soll und muss perfekt sein, wenn es nach den gesellschaftlichen Vorstellungen geht. Aber dass diese nicht immer mit der Realität einhergehen und das Leben oft diametral entgegengesetzte Verläufe zu unseren Erwartungen (das Buch heißt im Original "Expectation"), nimmt, zeigt Anna Hope anhand ihrer drei Protagonistinnen auf.

Cate ist die Intellektuelle, die ihren Oxford-Cum-Laude-Abschluss an der Tür ihres Reihenhauses in der Vorstadt von Canterbury abgelegt hat. Sie ist frischgebackene Mutter eines kleinen Jungen und hadert mit den sich überschlagenden Ereignissen ihres momentanen Lebens: neuer Partner, Heirat, Kind, Haus, Umzug aus der Metropole ins Suburbane - alles in weniger als 2 Jahren. Und da ist dann auch noch eine Person aus ihrer Vergangenheit, eine verflossene Liebe, der sie nachtrauert.

Hannah ist die Karrierefrau, bei der eigentlich alles perfekt läuft. Ein sehr gut bezahlter Job in London, schöne Wohnung, ein langjähriger Partner und seit kurzem Ehemann. Trotz dem scheinbar perfekten Äußeren ihres Lebens droht sie aber an ihrem unerfüllten Kinderwunsch zu verbrechen.

Lissa ist die unkonventionelle Schauspielerin, die im Callcenter und als Aktmodell arbeiten muss, weil es mit der großen Karriere nicht geklappt hat. Ein gesetztes und spießiges Leben mit Haus und Kindern ist für Lissa nicht vorstellbar, aber dennoch sucht sie nach Konstanten.

Alle Figuren sind und wirken so echt, ihre Probleme sind exakt die, die Frauen in ihren mittleren Dreißigern eben haben - ich weiß wovon ich rede, gehöre ich doch selbst dieser Spezies an.

Danke Anna Hope für dieses wundervolle Portrait einer Generation, das zum Nachdenken über das eigene Leben und zum Innehalten anregt. Dass die Autorin übrigens auch noch mein Lieblingsstück von Tschechow, Onkel Wanja, in die Erzählung mit einbaut, hat mich vollends für das Buch eingenommen: 5 Sterne!

Bewertung vom 26.04.2020
Die Tote in der Sommerfrische / Viktoria Berg Bd.1
Dix, Elsa

Die Tote in der Sommerfrische / Viktoria Berg Bd.1


sehr gut

Leichter historischer Krimi mit schönem Setting

Historische Cosy-Krimis sind mit meine bevorzugten Lektüren, denn ich liebe die Kombination aus historischem Setting, Leichtigkeit und Spannung - am liebsten unterlegt mit einer Prise Humor. "Die Tote in der Sommerfrische. Ein Seebad-Krimi" von Elsa Dix fiel damit genau in mein Beuteschema und ich wurde nicht enttäuscht.

Der historische Kriminalroman spielt ganz im Norden des damaligen (Jahr der Handlung: 1912) deutschen Kaiserreichs, nämlich auf der Insel Norderney. Nur die gehobenen Gesellschaftsschichten des Adels und des Großbürgertums konnten sich damals die sogenannte "Sommerfrische" leisten, also den Aufenthalt auf dem Land während der heißen Sommermonate. Natürlich war das Reiseziel davon abhängig, wo genau man urban residierte, also ob man von der Stadt aus in Richtung Berge, Meer oder Heide, etc., aufbrach.

Im Personalkarussel des Krimis finden sich also Vertreter der damaligen gehobenen Schichten wieder, die auf Norderney ihren Sommer verbrachten. Aber diese mussten auch bedient und bewirtet werden, weshalb auch Personen aus der Arbeiterschicht eine Rolle spielen. Es ist also ein historischer Gesellschaftskrimi könnte man sagen, da die damalige Gesellschaft in ihrer Breite abgebildet wird.

Die Protagonistin des Romans ist Viktoria Berg, unverheiratete Tochter eines Oberstaatsanwalts. Die selbstbewusste junge Frau möchte als Lehrerin an einer Reformschule unterrichten, der Wunsch ihres Vaters dagegen ist, dass sie sich einen standesgemäßen Mann sucht. Im Moment herrscht eine Pattsituation, aber Viktoria ist gewillt, ihren unabhängigen Weg weiter zu verfolgen. Wäre da nicht der junge Journalist Christian Hinrichs, der aufgrund eines Rechercheaufenthalts für eine Frauenzeitschrift auf der Insel und in Viktorias Hotel weilt. Die beiden sind sich auf Anhieb sympathisch. Gemeinsam ermitteln sie im Mordfall an einer jungen Frau, die mit Viktoria eine gemeinsame Vergangenheit teilt.

Ein historischer Cosy Krimi, der im deutschen Kaiserreich spielt, ist mal eine schöne Abwechslung in diesem Genre. Leider war ich noch nie auf Norderney, aber ich habe durch die Lektüre durchaus Lust auf einen Urlaub dort bekommen. Man spürt die Begeisterung der Autorin für diese Insel überall zwischen den Zeilen.

Die historischen Verhältnisse werden lebendig geschildert und man merkt, dass die Autorin gründlich recherchiert hat, um dem Roman einen authentischen Anstrich zu verleihen. Es werden immer wieder Gepflogenheiten oder Dinge eingestreut, die um 1912 üblich waren, wie z.B. eine Aussteuertruhe oder bestimmte Modelle von historischen Fotoapparaten.

Die Kriminalhandlung an sich ist wie üblich bei einem Cosy-Krimi nicht übermäßig, aber durchaus leicht spannend. Man kann durch viele Verdächtige und Indizien als Leser “mitermitteln”. Dafür ist die Auflösung des Ganzen dann wirklich sehr überraschend.

Alles in allem ein wunderbar kurzweiliger Krimi, der sich wie eine frische Brise anfühlt und leicht lesen lässt. Übrigens wird es der erste Band einer Reihe, der zweite Teil ist schon in Arbeit.

Bewertung vom 22.04.2020
Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich Von einer Begegnung, die alles veränderte
Randau, Tessa

Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich Von einer Begegnung, die alles veränderte


gut

In der Regel mache ich um gehypte Selbsthilfe-Ratgeber bzw. Ich-habe-den-Sinn-des-Lebens-gefunden-Bücher à la "The Secret", “Eat Pray Love” oder "Das Café am Rande der Welt" einen großen Bogen. Warum ich jetzt allerdings doch zu Tessa Randaus schmalem Band gegriffen habe, der genau in dieses Schema zu fallen scheint, ist mir selbst ein Rätsel. Vielleicht ist das Buch ja auch meine "alte Frau auf der Parkbank", die mir tatsächlich den Sinn des Lebens vor Augen führt?

Worum geht es in dem Büchlein, das sich in der Buchhandlung unter der Kategorie “Sachbuch” findet und das gerade mal 128 Seiten hat?

Die Ich-Erzählerin ist berufstätige Mutter zweier kleiner Kinder und befindet sich damit mittendrin im Hamsterrad der Rushhour des Lebens. Sie berichtet uns LeserInnen in einem lockeren, unaufgeregten Ton - also so, wie man es einer guten Freundin erzählen würde - vom Dilemma ihres Lebens und der sonderbaren Begegnung mit einer alten Frau auf einer Parkbank im Wald, die sie da wieder herausgeführt hat. Und zwar mit den "vier Fragen des Lebens", die sich jeder stellen sollte, um seinen persönlichen Pfad zum Glück zu finden. Klingt esoterisch? Ist es nur ein bisschen, die Fragen zumindest sind total nachvollziehbar und fallen eher unter die Kategorie "gesunder Menschenverstand". Leider kommt uns der ja manchmal bei Zeiten abhanden, von daher kann dieses Buch tatsächlich für manche eine Art Wegweiser sein. Dennoch: Weisheiten wie auf den inneren Kompass zu hören, sind beileibe nicht neu.
Ohne die vier Fragen jetzt hier zu verraten, läuft die Moral des Buches im Endeffekt darauf hinaus, sein Leben auszumisten - sei es von materiellem oder emotionalem Ballast. Nachhaltiger sollte man es gestalten, reduzierter und trotzdem erfüllter, also so in etwa.

Auch wenn mich das Buch jetzt nicht zum Selbsthilfe-Ratgeber-Fan bekehrt hat, ist es wirklich ganz nett. Die farbigen Illustrationen, die sich auf manchen Seiten finden, sind tatsächlich bezaubernd. Ich denke das Buch eignet sich gerade in Corona-Lockdown-Zeiten wunderbar, um jemand anderem mal was Gutes zu tun (also als Geschenk). Oder natürlich wenn man sich selbst mal wieder auf das Wesentliche zurückbesinnen möchte frei nach dem Motto: Ein Buch kann ein Geschenk sein - auch und gerade an sich selbst.

Bewertung vom 20.04.2020
Die Herren der Zeit / Inspector Ayala ermittelt Bd.3
Garcia Saenz, Eva;García Sáenz, Eva

Die Herren der Zeit / Inspector Ayala ermittelt Bd.3


sehr gut

“Die Herren der Zeit” ist der letzte Teil der Thriller-Trilogie um den Kriminalprofiler Unai López de Ayala (genannt Kranken) aus dem Baskenland. Ich habe die ersten beiden Bände nicht gelesen, konnte aber aufgrund der Rückblenden-Informationen, die die Autorin einstreut, gut ins Geschehen finden. Um die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur Kraken und die komplexen Zusammenhänge der Geschichte besser zu verstehen, ist es aber sicher hilfreich, wenn man mit dem ersten Band beginnt.

Die baskischen Orts- und Personennamen waren für mich, die ich bislang wenig mit der Sprache und Kultur Navarras in Berührung gekommen bin, gewöhnungsbedürftig. Teilweise war es schwer zu erfassen, ob ein Vorname männlich oder weiblich ist. Die Verwandtschaftsverhältnisse, die in beiden Handlungssträngen vorkommen, sind aufgrund der vielen Namensähnlichkeiten sehr schwer zu durchschauen. Eine Familie, in der jedes männliche Mitglied über mehrere Generationen den gleichen Vornamen trägt, puh! Dazu kommt noch die spezielle Wesensart des Hauptverdächtigen. Das hilfreiche und sehr ausführliche Personenregister sowie das Glossar, das die wichtigsten Begriffe erklärt, habe ich durch die Lektüre des Ebooks leider erst am Ende gesehen.

Das Interessante an "Die Herren der Zeit" ist die Tatsache, dass es zwei Bücher in einem sind: zum einen ein Thriller in der Gegenwart des Septembers 2019, zum anderen ein historischer Roman, der im 12. Jahrhundert spielt. Die beiden Handlungsstränge sollen sich gegenseitig spiegeln. Während aber in der Gegenwart recht schnell einige Morde passieren, nimmt die Vergangenheitshandlung einen eher gemächlichen Verlauf. Erst ab der Hälfte des Buches etwa überholt die Vergangenheit die Gegenwart was die kriminellen Vorkommnisse angeht. Um es dann noch etwas komplizierter zu machen, kommt nach etwa zwei Dritteln des Romans eine dritte Zeitebene, gegen Ende noch eine vierte hinzu.

Normalerweise lese ich Krimis/Thriller recht schnell, weil man ja natürlich wissen möchte, wer der Mörder/Täter ist. Für diesen Thriller habe ich verhältnismäßig lange gebraucht. Durch die Rückblenden in die Jahre 1190 ff. wird außerdem beständig auf die Bremse getreten, die Gegenwartshandlung wird angehalten, wenn sie gerade Fahrt aufgenommen hat. Ich verstehe schon den Sinn dahinter, allerdings habe ich innerlich manchmal schon gestöhnt, wenn wieder mal ein Cliffhanger in 2019 von einem Handlungsstrang aus dem Mittelalter abgelöst wurde. Dennoch ist das komplexe Konstrukt, das die Autorin mit diesem letzten Teil der Kraken-Trilogie erschaffen hat, aller Ehren wert. Allein die Recherchearbeit im Vorfeld hat, wie sie im Nachwort sagt, sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Die Auflösung des Ganzen ist dann auch recht überraschend gewesen, wie ich finde. Man fiebert mit der Hauptfigur Kraken mit und bekommt einen hoch komplexen, extrem verschachtelten Krimi mit dynastischen Verwicklungen serviert, der mir aber auch einiges an Durchhaltevermögen abverlangt hat.

Bewertung vom 17.04.2020
Offene See
Myers, Benjamin

Offene See


ausgezeichnet

Eskapismus und Sehnsuchtsorte aller Art, haben in der Literaturgeschichte eine große Tradition. Das Meer ist als Sehnsuchtsort prädestiniert, symbolisiert es doch mit seiner scheinbar unendlichen Weite und Tiefe das Mythische und Unerklärliche. Der menschliche Verstand sieht nur bis zum Horizont, die Phantasie kann darüber hinausschauen. Auch das Motiv des Wanderns ist ein altes in der Literatur - man denke nur an die Romantik, an Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" und andere Klassiker.

"Offene See" ist das Buch der Wanderschaft eines jungen Mannes im England der 1940er Nachkriegsjahre. Eigentlich nimmt nicht die Wanderschaft, sondern sein Aufenthalt an der Küste des Landes bei einer älteren Dame die meiste Erzählzeit ein. Es ist im Grunde ein klassischer Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, wenn man eine solche generische Einordnung denn vornehmen möchte.

Der Ich-Erzähler, der in der Rahmenhandlung die Erlebnisse seiner Jugend niederschreibt, heißt Robert Appleyard. Als Sohn eines Bergarbeiters ist auch sein zukünftiges Leben als solcher quasi prädestiniert. Aber Robert bricht mit 16 Jahren auf, um sich treiben zu lassen. Er will das Meer sehen, die Küste, die er von seinem Heimatort im Landesinneren aus nur erahnen kann. Als er in einem kleinen, südlich gelegenen Küstenstädtchen ankommt, führt ihn sein Weg aber nicht bis ans Meer, sondern zu der quasi alterslosen Dulcie Piper. Diese wirkt, als hätte sie ihn schon erwartet und nimmt ihn wie selbstverständlich bei sich auf. Aus einem Tag werden Wochen und Monate des Aufenthalts, in denen Robert Dulcie, und vor allem auch sich selbst, immer besser kennenlernen wird.

Das Buch hat etwas dezidiert Mythologisches, Märchenhaftes an sich. Wie Circe Odysseus, doch ohne jegliche Erotik oder Zwang zwischen den Parteien, nimmt Dulcie Robert bei sich auf, der eigentlich ganz andere Pläne hatte. Er wollte nicht irgendwo länger verweilen, schon gar nicht bei einer älteren Frau, die nah am Meer wohnt und dafür doch so gar nichts übrig zu haben scheint. Doch nun kam es anders und selbst ein kurzer "Ausbruchsversuch" bringt ihn wieder wie magnetisch - oder wie die Flut nach der Ebbe - in Dulcies kleine Welt zurück. Robert darf erst weiterziehen, wenn er selbst dazu bereit ist, also genug gelernt, sich gebildet hat.

Dulcies unkonventionelle Art, ihr einnehmendes Wesen und ihre Schlagfertigkeit machen sie sofort sympathisch. Kontrastiert mit der stillen, stoischen Art Roberts, der vor allem durch seine handwerkliche Arbeit und Körperlichkeit besticht, bilden die beiden ein seltsames Paar. Als Robert Dulcies verlassenes Gartenhäuschen auf Vordermann bringt, kommen nach und nach die Geister ihrer Vergangenheit zum Vorschein...

"Offene See" ist eine Feier des Gegenwärtigen, ist doch die Gegenwart "die einzige Zeit, die uns wirklich gehört", wie Blaise Pascal sagte.
Dulcie ist die personifizierte Zeitlosigkeit und eine Verfechterin dieser Theorie. Sie ist ein Mensch, der im Augenblick lebt und den man nicht in eine Schublade stecken kann. Intellektuell, nonchalent, sophisticated, aber auch derb, explizit und plakativ in der Ausdrucksweise.

Die Besonderheit des Buches ist seine Sprache, die vor Metaphorik und lyrischen Sprachbildern nur so strotzt! In der Erzählstimme findet sich kaum ein Satz ohne Allegorie, kaum ein Wort, das nicht in einem bildlichen Zusammenhang mit anderen steht. Es wundert nicht, denn Benjamin Myers ist auch Lyriker. Seine starke weibliche Hauptfigur des Romans ist ebenfalls eine Advokatin der Poesie, eine Verfechterin des Lyrischen.

"Offene See" ist einfach grandios, elegant und sprachlich einzigartig. Ich denke, wenn man in späteren Zeiten die Literaturklassiker der 2020er Jahre auflisten wird, wird man über diesen Roman nicht hinwegsehen können.

Bewertung vom 14.04.2020
Wir holen alles nach
Borger, Martina

Wir holen alles nach


ausgezeichnet

Zwischen Hamsterrad und “letzten Malen”

Selten hat ein Titel besser zu seinem Roman gepasst, finde ich. "Wir holen alles nach" - eine oftmals leere Versprechung. Kann man im Leben überhaupt Dinge "nachholen"? Schwierig.

Die beiden Protagonistinnen des Romans, aus deren Sichtweise abwechselnd erzählt wird, stehen jeweils an anderen Stationen bzw. Wendepunkten ihres Lebens.

Sina ist die, die ihren achtjährigen Sohn Elvis ständig mit einem "Wir holen alles nach" vertröstet. Sie ist Mitte 30, in der Rushhour des Lebens sozusagen, und versucht Vollzeitjob (in einer Werbeagentur), Kind (sie ist alleinerziehend, der Vater lebt in einer anderen Stadt, zum Glück ist er gut situiert und zahlt seinen Beitrag) und neue Beziehung (mit Torsten, einem trockenen Alkoholiker) unter einen Hut zu bringen. Ein schwieriger Chef, die horrenden Lebenshaltungskosten in München und die vermeintlich perfekten Mütter der anderen Kinder machen ihr zusätzlich zu schaffen. Dazu kommt noch der Druck, dass Elvis es wenn möglich aufs Gymnasium schaffen sollte - doch der tut sich schwer in der Schule. Hier kommt Ellen ins Spiel.

Ellen hat das, was Sina gerade durchmacht, längst hinter sich gelassen. Die beiden Söhne sind erwachsen und schon lange aus dem Haus. Ihr Mann Jock ist mit Mitte 40 verstorben - das ist mittlerweile 25 Jahre her. Sie hatte neben ihrem Hausfrauendasein noch einen Teilzeitjob in einer Buchhandlung, inzwischen ist sie seit kurzem in Rente. Mit Ende 60 wird ihr bewusst, wie viel sie bereits zum “letzten Mal” getan hat und wie viel sie nie mehr tun wird. Eine Stelle, an der ich innerlich schlucken musste.
Ellen muss ihre kärgliche Rente mit einem Job als Zeitungsausträgerin und Nachhilfestunden aufbessern, damit sie sich ihre Wohnung in München und Reisen zu ihrer Freundin und zu ihren Söhnen, leisten kann. Sina wird auf Ellen aufmerksam und ihr Sohn Elvis wird deren Nachhilfeschüler. Daraus entwickelt sich eine generationenübergreifende Freundschaft, bei der auch Ellens Hund eine große Rolle spielt. Doch dann verändert sich Elvis plötzlich über Nacht…

Im Roman werden gesellschaftlich brisante und relevante Themen angesprochen, die sehr realitätsnah in den Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren gespiegelt werden. Zum einen die anspruchsvolle Situation von Alleinerziehenden, die zwischen dem Druck von außen und innen zermürbt werden. Man selbst muss Karriere machen und Geld verdienen, das Kind muss untergebracht werden, sollte beliebt sein und natürlich aufs Gymnasium, so dass ihm alle Chancen offen stehen. Dass zwischen Büro, Schule, Nachhilfe und Hort nur wenig Familienzeit bleibt, ist traurig, aber leider für viele Menschen die harte Realität. Daneben natürlich die Sache mit der Altersarmut, die bei Ellen in einer abgemilderten Form zum tragen kommt. Sie nagt nicht am Hungertuch, aber sie muss für einen gewissen aber doch eher bescheidenen Lebensstandard nochmal ran - wo andere längst mit der Arbeitswelt abgeschlossen haben.

Obwohl es es sich um eine eigentlich ganz alltägliche Geschichte handelt, die sich so in vielen deutschen Städten - vor allem aber tatsächlich in München - abspielen könnte, hat mich dieser Roman unheimlich berührt. Die zarte, menschliche Beziehung zwischen Elvis und Ellen, der stille Kampf Sinas um ein halbwegs normales, gutes Leben. Die Reflexionen Ellens über ihr Leben und über ihre Vergangenheit. Das hat alles eine ganz besondere Tiefe.

Martina Borger erzählt eine intensive, schnörkellose Alltagsgeschichte, die auf eine ganz besondere Weise berührt und unter die Haut geht. Absolut lesenswert!