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Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 27.01.2021
Der Tod in ihren Händen
Moshfegh, Ottessa

Der Tod in ihren Händen


ausgezeichnet

Die 72-jährige Ich-Erzählerin Vesta ist eine kinderlose Witwe.
Sie lebt seit einem Jahr einsam und zurückgezogen am Rand eines Birkenwaldes in dem kleinen Industrieort Levant in Maine.
Sie hat sich dort eine Hütte am Waldsee gekauft und damit nach langen Jahren des Hausfrauendaseins einen Neustart in der Wildnis gewagt.
Vesta erinnert sich oft an ihren verstorbenen Mann Walter, von dem sie klein gehalten und betrogen wurde und dessen Stimme sie nach wie vor verfolgt.
Eines Tages macht sie mit ihrem Hund Charlie einen Waldspaziergang und findet dabei einen geheimnisvollen Zettel, dessen Botschaft sie zutiefst beunruhigt:
„Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“

Die Notiz lässt sie nicht los, sie muss die ganze Zeit daran denken.
Wer war Magda?
Wer hat sie ermordet?
Wo ist ihre Leiche? HIER, also in der Nähe des Fundortes des Zettels, ist sie nämlich nicht.

Vesta wittert einen Kriminalfall und will das Rätsel um die tote Magda lösen. Ein Plan, der sie aus der eintönigen Routine ihres langweiligen Alltags befreit.
In ihr Leben kommt Schwung und sie verfolgt nun mit Ehrgeiz ein Ziel.
Sie begibt sich in die öffentliche Bibliothek im nahen Bethsmane und fängt an, im Internet zu recherchieren. Bedauerlicherweise findet sie dort weder Hinweise noch Antworten.
... und deshalb lässt sie ihrer Phantasie freien Lauf. Oder ist es eine wahnhafte Entwicklung, die sich von nun an vollzieht?
Sie beginnt, sich alles mögliche vorzustellen, zusammenzureimen und auszumalen.
Sie kreiert eine Lebens- und Familiengeschichte für Magda, aus der sie eine Altenpflegerin macht und sie denkt sich einen Verdächtigen aus.
Sie wird zur Ermittlerin, die immer mehr in ihrer Gedankenwelt versinkt. Die Realität wird überlagert und tritt in den Hintergrund.
Schon bald drängt sich die Frage nach Vestas Geisteszustand auf.
Driftet sie in wahnhafte Vorstellungen ab?
Wird sie psychotisch?
Oder sind es schlicht tüttelige Fantasien, mit der die abgeschieden lebende alte Dame ihrer eintönigen Realität entflieht?

„Der Tod in ihren Händen“ ist absolut kein klassischer Kriminal- oder Detektivroman.
Wir tauchen vielmehr in eine brillant komponierte Geschichte ein, die mit einer guten Portion schwarzem Humor angereichert ist, die psychologisch interessant und stimmig tragische Abgründe sowie Entwicklungen sichtbar macht, die mit dem Leser spielt, ihn verstört und die ihn regelrecht an der Nase herumführt.

Ich empfehle diesen originellen und spannenden Roman der 1981 geborenen US-amerikanischen Autorin Ottessa Moshfegh sehr gerne weiter.

Bewertung vom 25.01.2021
DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021
Edelbauer, Raphaela

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021


sehr gut

Raphaela Edelbauer setzt sich in ihrem zweiten Roman kompetent und differenziert mit einer vielschichtigen und brisanten Thematik auseinander:
Künstliche Intelligenz.

Dave.
Das ist der Name dieser künstlichen Intelligenz, in die der Wissenschaftler und Programmierer Syz und ein gewaltiges und imposantes Forschungslabor ihre ganze Hoffnung setzen.
Dave der Erlöser.
Er soll die Menschheit retten.
Er soll all ihre Fehler ausmerzen.
Er soll sämtliche Probleme lösen.

Die Autorin lässt Welten ohne Umschweife, klar, ungeschönt und direkt aufeinanderprallen.
Auf der einen Seite stellen Technik, Technologie, Informatik, Physik und künstliche Intelligenz mit ihren Fremdwörtern und Fachbegriffen Repräsentanten der Sachlichkeit dar.
Fragen der Moral, Ethik, Philosophie und Psychoanalyse stehen als Repräsentanten der Menschlichkeit explizit oder zwischen den Zeilen auf der anderen Seite.

Sie erzählt ausgefeilt und elegant eine packende Geschichte und führt den Leser in eine eindrucksvolle, abenteuerliche, absurde und groteske Welt. Dabei kommt auch der Humor nicht zu kurz.
Während der Prolog hochpoetisch und zeitweise irritierend und verworren anmutet, ändert sich der Stil nach dem Prolog. Es wird nüchterner.

Wenn man zwischendurch verwirrt, verstört oder befremdet ist, dann ist das schlicht eine Übertragung der Komplexität der Thematik auf die eigene Gefühlsebene.

„Dave“ ist ein anspruchsvoller und informativer Pageturner mit Science Fiction- und Thrillerelementen, der zum Mit- und Nachdenken anregt und nachhallt.
Ich empfehle dieses Werk, das trotz komplexer Thematik gut lesbar und auch unterhaltsam ist, gerne weiter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.01.2021
Die Zeit so still
Arnold, Florian L.

Die Zeit so still


ausgezeichnet

Unsere schwierige Gegenwart zur erschreckenden und erschütternden Dystopie ausgedehnt...

Ein tödliches Virus.
Beängstigendes Massensterben.
Absolute Ausgangssperre.
Völlige Ungewissheit.
Lähmende Eintönigkeit.
Zermürbende Warteposition.
Dringend einzuhaltende Regeln.
Verbote, Kontrolle und Strafen.
Stählerne Staatstürschlösser, Überwachungskameras, Infektionswärter, Lauscher, Jäger und Drohnen.

Die in Aluminiumschalen verpackten, rationierten Mahlzeiten werden mit städtischen Fahrzeugen an die Haustür geliefert.

Max, ein melancholischer Mann tigert unruhig und hoffnungslos in seiner stillen Wohnung umher, hängt seinen Gedanken nach, schwelgt in Erinnerungen und wünscht sich die Normalität zurück.

Eines Nachts wird es ihm zu viel. Er nimmt das Risiko einer drastischen Strafe in Kauf und verlässt verbotenerweise die Wohnung. Gedankenverloren streift er durch die menschenleeren und unbeleuchteten Strassen, die von Tieren erobert wurden.

Plötzlich begegnet er einer tödlichen Gefahr: einem Kind.
Das Kind ist verletzt und braucht Hilfe...

Und schließlich landet Max in einer stehenden Straßenbahn, in der ein lesender Schaffner sitzt, der eine zu Herzen gehende Geschichte zu erzählen hat ...

Seitlich vom Text stoßen wir immer wieder auf stichworthafte Randnotizen, die Gedankenfetzen darstellen oder Stand und Nachrichten der alles kontrollierenden Obrigkeit mitteilen.
So entsteht Spannung, die sich zu der schaurigen, düsteren und melancholischen Atmosphäre der stummen Stadt dazugesellt.

Wir alle haben im Moment immer wieder mit beängstigenden und erschreckenden Dystopien in unserem Kopf zu kämpfen.
Der Gedanke liegt nahe, nicht auch noch in Romanen oder Novellen damit konfrontiert zu werden.
Auch ich verspürte zunächst einen gewissen Widerstand, zu dem Werk zu greifen.
Aber ich bin sehr froh darüber, es dennoch getan zu haben, denn ich wurde reich belohnt.

Sich auf diese poetische und originelle Weise mit der Materie auseinanderzusetzen und zum Nachdenken angeregt zu werden, war nicht nur unterhaltsam, sondern in gewisser Weise auch beruhigend, denn trotz allem Schwierigem, Einschränkendem und Beängstigendem ... wir sind noch weit entfernt von dieser Dystopie.

Den Ängsten bzw. beängstigenden Phantasien ins Auge zu blicken, sie durchzubuchstabieren und zu formulieren, macht sie etwas kleiner. Egal ob durch ein Gespräch oder durch Lektüre, eine konstruktive Auseinandersetzung hat das Potential, die Panik zu vermindern.

Ich empfehle dieses schmale, erschütternde, bewegende und tief berührende Bändchen, das von Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Offenheit, Vertrauen und Courage im sich immer mehr zuspitzenden Grauen erzählt, sehr gerne weiter.
Am Anfang gab es nur Leere, Verzweiflung und Distanz... am Ende kamen Nähe, Ruhe, Licht und das Gefühl von Freiheit dazu...

Ich bin beeindruckt.

Bewertung vom 24.01.2021
Das Verschwinden der Erde
Phillips, Julia

Das Verschwinden der Erde


ausgezeichnet

Die Autorin entführt uns mit ihrem Debütroman auf die vorwiegend von Russen, aber auch von Ureinwohnern bewohnte russische Halbinsel Kamtschatka.

Wir lernen zwei Bevölkerungsgruppen kennen, die nicht immer wohlgesonnen nebeneinander her leben, sich nicht selten argwöhnisch gegenüber stehen und vor Konflikten und Vorurteilen nicht gefeit sind.

Julia Phillips erzählt, ausgehend vom Verschwinden zweier Schwestern in dieser dünn besiedelten Region, wortgewaltig einige spannende Geschichten, die mal mehr, mal weniger mit dieser Ausgangsgeschichte zu tun haben und in denen es um starke Frauen geht, die sich in der patriarchalen Gesellschaft Kamtschatkas behaupten und ihren Platz finden wollen.
Wir lesen aber auch von den Schwierigkeiten der benachteiligten Ureinwohner, von den Gefahren, denen Homosexuelle ausgesetzt sind, von emotionaler Zerrissenheit und von innerer Isolation.

Die Autorin legt verschiedene Puzzleteile auf den Tisch und lässt nach und nach ein überwiegend düsteres Bild daraus entstehen, in dem man aber auch Hoffnungsschimmer und Lichtblicke erkennen kann.
Die Geschichte der beiden Mädchen bildet dabei den Rahmen, kann aber auch als Zentrum gesehen werden, um das sich alles andere rankt.
Kunstvoll und raffiniert verwebt Julia Phillips die Einzelstücke nach und nach zu einem Ganzen.

An einem sonnigen Augustnachmittag verschwinden Sofija und Aljona spurlos, nachdem sie zu einem Fremden ins Auto gestiegen sind.
Dieses Ereignis bewegt und bestürzt die Bevölkerung und weckt Erinnerungen an ein Mädchen, das vor fast drei Jahren ebenfalls verschollen ist.
Die Ermittlungen der Polizei erscheinen nachlässig und fast schon gleichgültig.

Bereits im Prolog beweist die amerikanische Schriftstellerin, die ein Jahr lang auf dieser Halbinsel gelebt hat, ihr Feingefühl für zarteste Schwingungen und Spannungen in diesem fremden und noch jungen Staat.

Sie seziert die postsowjetische Gesellschaft am Beispiel dieser arktischen Region, die fernab der Metropole Moskau liegt und erzählt ungeschönt, klar und ohne Umschweife von den Lebensumständen ihrer Figuren und von den Besonderheiten und Strukturen dieser Kultur.

Sie zeichnet ihre Charaktere vielschichtig, so dass sie authentisch wirken und man sich ihnen nahe fühlt.

Auch die beeindruckende Landschaft mit ihrer überwältigenden Natur in der Weite der Tundra beschreibt sie anschaulich, so dass sie vor dem geistigen Auge zum Leben erweckt wird.

Ich empfehle diesen wunderbaren, herausragenden und außergewöhnlichen Debütroman der 1988 geborenen Julia Phillips sehr gerne.
Er stand auf der Shortlist des National Book Award 2019 und hat mich berührt und tief beeindruckt.

Er ist übrigens meines Erachtens bei weitem kein Thriller, eine Vermutung, die durch den Klappentext bzw. durch ein Zitat auf der Rückseite des Buches geschürt werden könnte, sondern viel eher eine fesselnde, unterhaltsame, informative und damit bereichernde Gesellschaftsstudie mit Thrillerelementen, die auf den letzten Seiten für erhebliche Spannung und Überraschung sorgen.

Es ist ein gelungenes Porträt einer männerdominierten Gesellschaft nach dem Zusammenbruch und während ihres Wiederaufbaus.
Der Zusammenbruch ist noch nicht verdaut und die Wiederherstellung bzw. Neuformation vollzieht sich mühsam und schleppend.

Bewertung vom 23.01.2021
Fast hell
Osang, Alexander

Fast hell


ausgezeichnet

Eine Reise nach St. Petersburg und zu sich selbst...

Der Ich-Erzähler Alexander Osang, ein weit und viel gereister Journalist und Uwe, ein schillernder Mann von Welt, begegnen sich Anfang des 21. Jahrhunderts erstmals auf einer Party in New York. Es folgen weitere Treffen.
Die beiden in den 1960-er Jahren geborenen Männer stammen aus Ostberlin, Uwe lebt inzwischen in New York.
2019 soll Alexander Osang für den Spiegel über Ostdeutschland schreiben. Uwe kommt ihm in den Sinn und nach einer gemeinsamen Reise im Sommer 2019 und nachdem Uwe zugestimmt hat, schreibt und veröffentlicht er dessen Geschichte, die sich mit seiner verzahnt.
Auf der gemeinsamen Schiffsreise von Helsinki nach St. Petersburg und während der folgenden drei Tage in St. Petersburg verweben sich Uwes Erfahrungen und Alexanders Reflexionen und Erinnerungen zu einem lebendigen und interessanten zeitgeschichtlichen Portrait, in dem es um das Aufwachsen in Ostdeutschland, um die Zeit während und nach der Wende und um die noch lang fortbestehende gedankliche Teilung Deutschlands in Ost und West geht.
Es geht aber noch um viel mehr in dem feinfühlig, poetisch und auch humorvoll geschriebenen Werk.
Wir lesen von Selbstzweifeln und Selbstfindung, von Neubeginn, und Wendepunkten, blicken von Berlin nach New York und Tel Aviv und streifen immer wieder und intensiv, aber unaufdringlich die Frage der verzerrten und trügerischen Erinnerungen und inwieweit wir uns unsere Biographie zusammenreimen und Lücken mit Phantasie füllen.

Während der Lektüre dieses leicht melancholischen und zeitweise nostalgischen Werkes hatte ich das Gefühl, als stiller Beobachter den Gesprächen zu lauschen. Ich fühlte mich mittendrin und nahe dran.
Es machte Spaß, die unterschiedlichen Lebenswege und Lebensgeschichten sowie Uwes Mutter, die die beiden Männer begleitet und ihre ganz eigene Sicht der Dinge beisteuert, kennenzulernen.

Ich empfehle diesen tiefgründige, differenzierte, interessante und sehr persönliche Werk sehr gerne weiter.
Er ist aufschlussreich, hat mich berührt und beeindruckt, regt zum Mit- und Nachdenken an und hallt nach.

Bewertung vom 21.01.2021
Aber es wird regnen
Lispector, Clarice

Aber es wird regnen


ausgezeichnet

Dieser zweite und zugleich letzte Band von Clarice Lispectors gesammelten Erzählungen enthält 44 meist sehr kurze Geschichten.

Die Autorin entführt uns z. B. ins weltberühmte Fußballstadion Maracanã in Rio de Janeiro, wo sich eine Frau in den unterirdischen Gängen verläuft.
Eine andere junge Frau entdeckt nach vielen Demütigungen das erfüllende Glück des Lesens.
In einer weiteren Geschichte, die in einem Zugabteil spielt, meint eine reservierte und unnahbare Frau, dass zwei Männer einen Mord planen.
Ein Hausmädchen kann mit neuer Energie und Lebenskraft in ihren Alltag zurückkehren, nachdem sie sich ihrer Traurigkeit gestellt hat.
Eine wohlhabende Bankiers-Gattin verlässt gerade einen Schönheitssalon, als ein Bettler sie um etwas Geld bittet, was sie zutiefst durcheinander bringt.
Und wir lesen vom Karneval mit Rosenkostüm.

Das war jetzt nur eine Art Brainstorming nach der Lektüre, um einen Eindruck von der Vielfalt der Erzählungen zu geben.

Clarice Lispector beobachtet messerscharf und erzählt das Beobachtete in einer schlichten, zarten, fast liebevollen, poetischen und gleichzeitig eindringlichen Sprache.
Mit anschaulichen Bildern, bildhaften Vergleichen und umwerfenden Metaphern erweckt sie das Erzählte zum Leben.

Die Mehrheit der Geschichten zogen mich in ihren Bann, manche „musste“ ich sogar zweimal lesen. Besonders mochte ich ihre philosophische Dimension und es gefiel mir, dass das Leben nicht beschönigt oder verklärt dargestellt, sondern in seiner ganzen Komplexität gezeigt wird.

Dass die Figuren in all ihrer Vielschichtigkeit und mit Ecken und Kanten gezeichnet werden, macht sie greifbar und authentisch.
Clarice Lispector seziert ihre Charaktere regelrecht.
Es macht großen Spaß, sie kennenzulernen und ein Weilchen zu begleiten.

„Aber es wird regnen“ ist ein anspruchsvolles, aber trotzdem flüssig und leicht zu lesendes Werk, das wunderbar unterhält, tief berührt und mit teils bizarren Wendungen und schrägen Pointen überrascht.
Es hat etwas Geheimnisvolles und Traumhaftes, ist berührend, mal traurig, mal beunruhigend, mal verblüffend, mal komisch, mal sonderbar, mal eigenwillig, regt zum Mit- und Nachdenken an und erweitert den Horizont.

Clarice Lispector war eine bedeutende brasilianische Autorin, die im Dezember 2020 einhundert Jahre alt geworden wäre.
1977 verstarb die Schriftstellerin mit jüdisch-ukrainischen Wurzeln einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag Jahren an Krebs.

Mit ihren beiden außergewöhnlichen Geschichtensammlungen „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ und „Aber es wird regnen“, die jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erschienen sind, hat sie ein wunderbares, besonderes und unterhaltsames Werk geschaffen, mit dem sie uns Lesern ein außergewöhnliches Lesevergnügen bereitet.
Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 18.01.2021
Ein Lied für die Vermissten
Jarawan, Pierre

Ein Lied für die Vermissten


ausgezeichnet

Auf der Suche nach Antworten...

Der Autor entführt uns bild- und sprachgewaltig in den Nahen Osten nach Beirut und macht uns mit sämtlichen Facetten, Farben, Gerüchen, Geräuschen und Stimmungen dieser Stadt bekannt.

2011 ist der Arabische Frühling natürlich auch in Beirut in vollem Gange.
Trotz brennender Häuser und Leichenfunden schreibt Amin seine Erinnerungen und Gefühle nieder.

Als er noch ein Baby und schon ein Waise war, flüchtete seine Großmutter, einst eine gefeierte Malerin, mit ihm vor dem Bürgerkrieg aus dem Libanon nach Deutschland.
1994 kehrte er nach mehr als zehn Jahren als Jugendlicher mit ihr zurück.

Der Krieg war vorbei, aber Menschen und Stadt litten noch gravierend unter den Nachwehen.
Damals waren seine Eltern bereits seit 12 Jahren tot.

Amin erinnert sich an seine damalige Freundschaft mit dem unergründlichen gleichaltrigen Jafar, an den Raupenzüchter Abbas und auch an seine Desillusionierung.
Niemals würde er in diesem Land tiefgründige Klarheit, Gewissheit und Sicherheit erfahren.
Wir lesen von vermeintlich schützendem Schweigen, von Geheimnissen, die gelüftet werden sollten und von Menschen, die plötzlich verschwunden und vermisst sind.
Es ist, als würde man mit Amir Freundschaft schließen und ihn über viele Jahre hinweg begleiten.

Der 1985 geborene Pierre Jarawan ist ein begnadeter Erzähler, der mich mit seiner poetischen Sprache regelrecht verzauberte und fesselte und der mich mit Leichtigkeit mitten ins Geschehen hineinzog.
Begeisterung, Energie und Intensität strömen aus der Geschichte, die rasch voranschreitet, unter die Haut geht und mich schnell in ihrer Bann zog.

Dass Pierre Jarawan fast bis zur Hälfte des Romans nicht streng chronologisch und stringent erzählt, sondern häufig nur Puzzleteile auf den Tisch wirft und sich in Andeutungen verliert, um aus allem zuletzt ein buntes, aufwühlendes, vielschichtiges und tiefgründiges Gemälde entstehen zu lassen, ist ein Kunstgriff, der die Spannung unglaublich steigert.

Feinfühlig und sinnlich lässt er uns in eine fremde Welt eintauchen, in der wir bemerkenswerte Charaktere kennenlernen, eine fremde Stadt erkunden und ihre Atmosphäre spüren.

Der Autor verknüpft dabei das Märchenhafte mit dem Realen und das Kleine mit dem Großen.
Wir erfahren biographische Geschichten und streifen die Welt- bzw. die libanesische Zeitgeschichte.

„Ein Lied für die Vermissten“ ist so vieles: ein politischer Roman, ein Liebes- und Freundschaftsroman, eine Familiengeschichte und eine Coming-of-Age-Geschichte.
Es ist auch keine leichte Kost, die sich so nebenbei konsumieren lässt.
Es ist inhaltlich und emotional komplex und anspruchsvoll.
Es berührt, verstört und regt zum Mit- und Nachdenken an.

Aber vor allem ist das Buch für mich eine bewegende literarische Perle, die nachhallt, die mich bereicherte und die mir äußerst vergnügliche Lesestunden bescherte.

Bewertung vom 17.01.2021
Der Mann im roten Rock
Barnes, Julian

Der Mann im roten Rock


ausgezeichnet

Eine Zeitreise durch die Belle Epoque.

Es ist äußerst interessant und höchst unterhaltsam, Dr. Samuel Jean Pozzi, den Mann im roten Rock, kennenzulernen und zu begleiten.
Er wurde 1846 geboren, hat sich aus bescheidenen und einfachen Verhältnissen hochgearbeitet und ist als renommierter und wohlhabender Arzt und Wegbereiter auf dem Gebiet der Frauenheilkunde in der elitären, feingeistigen und hochgebildeten Pariser High Society gelandet.
1918 verstarb er unter tragischen und erschütternden Umständen.

Der beeindruckende Pozzi war ein exzentrischer, belesenerer, kultivierter und intelligenter Freigeist sowie ein fortschrittlicher, weitsichtiger und vorausblickender Denker, der in Frankreich auf dem Gebiet der Medizin durch die Einführung von Hygienevorschriften vor Operationen ganz erheblich zur Senkung der Sterblichkeit und damit zum wissenschaftlichen Fortschritt beitrug.

Dass der elegante und schöne Chirurg, der sein Handwerk meisterlich beherrschte, ein Bücher sammelnder männlicher Nymphomane war, erfährt man en passant.
Ebenso, dass er sich nicht besonders streng an die Grenzen der Arzt-Patientinnen-Beziehung hielt.

Julian Barnes hat, so kommt es mir vor, präzise recherchiert und erzählt kenntnisreich und kompetent aus dem Leben Pozzis, der gern und häufig reiste, um seinen Horizont zu erweitern und dadurch auch bedeutsame Beziehungen zwischen England und dem Kontinent knüpfte, was eine unwissentliche Gegenbewegung und konträre Haltung zum kürzlich vollzogenen Brexit darstellte.

Aber nicht nur das!
Julian Barnes vermittelt ein wunderbares Bild der damaligen Zeit und macht uns mit weiteren wichtigen Persönlichkeiten, z. B. Marcel Proust, Guy de Maupassant, Oscar Wilde und Èmile Zola, sowie mit Kunst und Kultur des Fin de Siècle und der Belle Epoque bekannt.
Er appelliert mit seinem leicht und flüssig lesbaren Text an Welt- bzw. zumindest „Europaoffenheit“ und Toleranz, wodurch der Text, „getarnt“ als historischer Roman, ein hochaktuelles Thema aufgreift und m. E. durchaus als unaufdringliches Statement gegen den Brexit interpretiert werden könnte.

Der 1946 geborene Julian Barnes ist ein scharfsinniger Schriftsteller, der mit „Der Mann im roten Rock“ ein anschauliches und lebendiges Zeitportrait sowie einen anspruchs- und gehaltvollen, anregenden, interessanten und auch amüsanten und subtil ironischen Text über das Leben und die Kunst sowie Macht und Auswirkung von Klatsch und Tratsch geschrieben hat.

Ich empfehle dieses faszinierende, aufschlussreiche und raffiniert, aber manchmal eher collageartig als stringent komponierte Werk, das viel mehr als eine Biographie ist, sehr gerne weiter!

Bewertung vom 13.01.2021
Heißes Blut
Kim, Un-Su

Heißes Blut


ausgezeichnet

Der Roman ist der zweite Band der vom Autor so genannten „Abscheu-Trilogie“ und entführt uns nach Südkorea.
Wir landen dort im Gangstermilieu der frühen 1990-er Jahre und bekommen neben einem spannenden Plot einen Mix aus Melancholie und abgründigem, sarkastischem Humor geboten.

Wir lernen den 40-jährigen Gangster Huisu kennen, der offiziell ein dubioses Strandhotel leitet.
Dubios deshalb, weil es das Hauptquartier der wahren Herrscher des von Verbrecherbanden und Familienclans kontrollierten Hafenstadtviertels Guam darstellt.
Die wahren Herrscher, das sind Vater Son und seine Kumpanen.

Der ehemalige Boxer Huisu steckt in einer Art Sinnkrise. Er war einige Male im Gefängnis, ist hoch verschuldet und alleinstehend.
Er ist ein einsamer Mann, der zu viel trinkt und dessen Lebensführung nicht die gesündeste ist.
Schon seit 20 Jahren ist er, getarnt als Hotelmanager, die rechte Hand von Vater Son und zuständig für‘s sogenannte Konfliktmanagement.
Er muss für wenig Geld die Drecksarbeit erledigen. Egal ob es um Schmuggel, Bestechung, Erpressung oder Mord geht, Huisu ist dafür zuständig.

Vater Son ist lange Zeit mehr als nur der Dienstherr für Huisu. Er ist in gewisser Weise eine Art Vaterersatz für den vaterlos aufgewachsenen Kriminellen.

Aber Unmut und Lustlosigkeit wachsen. Er möchte sich nicht weiterhin für Vater Son aufreiben, der ihn und seine Arbeit nicht angemessen wertschätzt und würdigt.
Deshalb beschließt er eines Tages, einem anderen Herrn zu dienen bzw. sich mit ihm gemeinsam auf eigene Füße zu stellen und ins Glücksspiel-Geschäft einzusteigen.
Ob das eine gute Entscheidung war, ist fraglich, denn Rivalitäten, Neid und Missgunst entstehen und Rachegefühle führen zu Machtkämpfen, die letztlich eskalieren.

Um-Su Kim hat einen außergewöhnlichen, aufwühlenden und spannenden literarischen Thriller geschrieben, der nicht nur tempo- und actionreich voranschreitet, sondern auch eine psychologische und tiefgründige Dimension beinhaltet, was mir besonders gut gefiel.

„Heißes Blut“ gestattet Einblicke in die fremde südkoreanische Kultur und machohafte Unterwelt und bietet detaillierte Alltagsbeschreibungen.
Man erfährt einige zeitgeschichtliche Details, lernt Huisu gut kennen und kommt seinem Innenleben bemerkenswert nahe. Obwohl er ein brutaler Killer ist, hofft man, dass er die Bandenkriege überlebt.

Auch für Vater Son und manch andere Drahtzieher bekommt man ein recht gutes Gespür, aber die meisten anderen Figuren werden nicht überaus vielschichtig gezeichnet, was aber m. E. nicht stört, weil sich ja letztlich alles um Huisu dreht.

„Heißes Blut“ ist in gewisser Weise harte Kost, weil man mit erbärmlichen Lebensbedingungen, derbem Umgang und grauenhaften Gewaltszenen konfrontiert wird. Er ist nichts für schwache Nerven oder zart besaitete Gemüter.

Interessant und erwähnenswert ist, dass in dem Ganzen nur eine einzige Frau eine Rolle spielt: Huisus Freundin aus Kindertagen, die inzwischen eine Bar führt und in die er verliebt ist.

Ich empfehle diese düstere, realistische, eindringlich erzählte sowie gelungene Mischung aus Drama und Thriller um den frustrierten Gangster Huisu sehr gerne weiter.

„Heißes Blut“ ist ein durchaus unterhaltsamer, wenn auch zeitweise etwas überspitzter Schmöker.

Ach ja! Feinschmecker kommen hier auch auf ihre Kosten, denn in den beschriebenen Gangsterkreisen scheint gutes Essen, Schlemmen und Genuss eine recht große Rolle zu spielen ;-)

Bewertung vom 12.01.2021
Hope Hill Drive
Disher, Garry

Hope Hill Drive


ausgezeichnet

Der Roman entführt uns in die menschenarme Einöde, ins vertrocknete und verbrannte Outback Südaustraliens, genauer: in die fiktive australische Kleinstadt Tiverton.

Es ist Dezember. Gnadenlose Hitze, Dürre und staubige Trockenheit erschweren den Alltag in dieser endlosen Weite.
Constable Paul Hirschhausen, genannt Hirsch, ist der Leiter der örtlichen Polizeistation. Er ist ehrlich, gelassen und mild, nimmt sich Zeit und hat ein offenes Ohr für die Belange der Dörfler, die ihm vertrauen. Aber seine Tätigkeit ist nicht nur auf dieses Provinznest begrenzt. Er ist zuständig für Straftaten und die Nöte der Leute in einem Umkreis von vierhundert Kilometern, was für unsere Verhältnisse kaum vorstellbar ist.
Seine ermittlerische Arbeit ist dabei nicht besonders spektakulär. Bagatelldiebstähle, Hundeentführung, Brandstiftung, häusliche Gewalt und Trunkenheit am Steuer sind sein tägliches Brot, bis eines Tages die Bewohner durch ein übles Geschehnis aufgerüttelt werden: die Ponys von Nan Washburns werden angegriffen und bestialisch abgeschlachtet.
Einige liegen in ihrem Blut.
Barbarische Tierquälerei!
Ein entsetzliches Massaker!
Was und wer steckt dahinter?
Aber als wäre es nicht schon genug Aufregung, taucht auch noch eine weibliche Leiche in einem abgeschiedenen Farmhaus auf.
Der Constable hat plötzlich alle Hände voll zu tun. Die eingeflogene Hauptstadtpolizei hilft mehr schlecht als recht und ist ihm nicht gerade wohl gesonnen.
Es geht nicht nur darum, die Verantwortlichen zu finden. Er muss die erschütterten Dorfbewohner beruhigen, die sensationswitternden Journalisten in Schach halten und mit den Kollegen aus der Metropole zurechtkommen, was er mit Witz und Cleverness hinbekommt.

Der 1949 geborene Garry Disher hat mit „Hope Hill Drive“ einen brillanten und außergewöhnlichen Kriminalroman mit überraschenden Wendungen und einem spannenden und erlösenden Showdown geschrieben.

Der Autor ist ein genauer Beobachter und erzählt erst ruhig, dann temporeich, sowie durchgehend detailliert und präzise. Die Ermittlungstätigkeit der Polizei wird realitätsnah und die Umgebung wird äußerst anschaulich geschildert.
Die Charaktere werden in all ihrer Vielschichtigkeit und mit all ihren Stärken und Schwächen gezeichnet. Sie haben Konturen.
Disher transportiert keine Bewertungen, weder subtil noch aufdringlich, sondern überlässt diese seinen Lesern, was ich als sehr angenehm empfand.

Es gefiel mir ganz besonders, dass man nicht nur einen spannenden Krimi zu lesen bekommt, sondern, v. a. in der ersten, gemächlicheren, aber nicht weniger eindrücklichen Hälfte des Romans, auch Land und Leute, deren Lebensbedingungen und die sozialen Verhältnisse dieses Landstriches kennenlernt.

Ich empfehle diesen anspruchsvollen, schlüssigen, stimmigen und spannenden Polizeikrimi sehr gerne weiter.
„Hope Hill Drive“ ist ein eindringlicher Pageturner.