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Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 131 Bewertungen
Bewertung vom 18.02.2022
Ey hör mal!
Sharif, Gulraiz

Ey hör mal!


ausgezeichnet

Manchmal überrascht einen das Leben

In „Ey hör mal“ von Gulraiz Sharif geht es erst einmal um die alltägliche Diskriminierung - Mahmoud wünscht sich einen anderen Namen, vielleicht Kurt oder Bjarne, ein biblischer Name wie Jacob oder Gabriel würde es auch tun, aber auch dann könnte er die Hautfarbe nicht einfach ablegen und er unterscheidet sich einfach von den „norwegischen Norwegern“, obwohl er seit seiner Geburt in Norwegen lebt und erfolgreich die Schule besucht. Diese Probleme - kein Job, kein Geld, Langeweile - begleiten ihn in die Sommerferien hinein, die er mit seinem einäugigen Kumpel Arif in der Plattenbausiedlung verbringt, während die echten Norweger in ihre Ferienhäuser zum Entspannen fahren dürfen.
Eine Tragödie bahnt sich an, als der kleine Bruder Ali bekennt, dass er sich als Mädchen fühlt, Schmuck und Glitzer liebt und mit Mama gerne Bollywood-Filme guckt. Verstörend und kaum zu glauben, aber wie sagt man es dem pakistanischen Vater, der dafür überhaupt kein Verständnis aufbringt und mit Schweigen, Abwehr, Überforderung und Liebesentzug reagiert? Die Welt gerät aus ihren Angeln und der Zusammenhalt der Familie wird auf eine harte Probe gestellt.

Trotz des ernsten Themas ist der Roman aber alles andere als problembeladen. Der Erzählstil ist urkomisch, flapsig, teilweise auch sehr umgangssprachlich und etwas derb. Aber trotzdem reizt der ungefilterte Jugendjargon zum Lachen, so viele kuriose Vergleiche, die Mutter als Helikopter oder Ninja-Kämpferin, die mit ihren Schlappen um sich haut, der kleine Bruder, der sich als Gangster mit Ketten und schwarzem Nagellack verkleidet, als der Onkel aus Pakistan zu Besuch kommt. Und dann der fremdartige Onkel, der einen riesigen Kulturschock erlebt - Elektroautos, Mülltrennung und freizügige Norwegerinnen - das Paradies auf Erden und er schmiedet gleich Pläne, wie er vielleicht doch für immer bleiben könnte.
Gulraiz Sharifs rasanter Jugendroman „Ey hör mal“ steckt voller origineller Gedanken und Wahrheiten, erzählt aus der ganz subjektiven Perspektive des jugendlichen Mahmouds, der seinen Gefühlen und Überlegungen freien Lauf lässt, in diesem Sommer erwachsen wird und zum ersten Mal Verantwortung als großer Bruder und Sohn übernehmen muss.
„… es ist wie am Ende von so `nem megakitschigem Film, ich komm mir’n bisschen wie ‘n Held vor - ein echt pakistanischer Held!“

Ein großartiges Buch - zum Lachen und Weinen, voller Wahrheit und Liebe, voller Verständnis und Einfühlungsvermögen in die Seelen von Heranwachsenden.

Bewertung vom 07.02.2022
Damenbart
Pines, Sarah

Damenbart


ausgezeichnet

Der fast schon archaische Drang zu einem besseren, aufregenderen Anderswo

Es geht nicht um das Glück, sondern um die Sehnsucht danach, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, Unerreichbaren. Sarah Pines Figuren sind allesamt Gestrandete, Verlorene, vom Leben Vergessene, Betrogene, Abhängige. Mit schnellen Pinselstrichen entwirft die Autorin eine ganze Welt voller Melancholie, atmosphärisch dicht, geheimnisvoll, skurril, tragisch, komisch und auch voller maroder Poesie.
Der Leser sehnt sich nach einem Fortgang der Erzählungen, möchte diese Momentaufnahmen verlängern, eine mögliche Zukunft erkennen. Aber diese ist nicht Thema, die Figuren verharren in ihrer Trauer und Erstarrung, eine Veränderung und auch Zukunft ist nicht möglich. Immer wieder möchte man einzelne Gestalten schütteln, sie auf den Boden der Realität zurückholen: Warum gestaltet ihr nicht eure Umgebung? Warum diese Passivität? Dieses Leiden und diese Opferrolle? Dieses Verharren im ewig Gestrigen? Wie Wagners Götter, die zu müde und erschöpft sind, um ihr Schicksal selbst zu formen, ertragen z.B. die Göttinnen Hollywoods das Ende ihrer Karriere, das Ende des Schwarz-Weiß-Films, suchen den echten und symbolischen Tod im Sturz vom Götterhimmel.
Die Geschichten sind extrem dicht, ohne zu sehr ins Detail zu gehen wird die jeweilige Atmosphäre in Zürich, Amerika oder Südeuropa sicher gezeichnet - die schöne, zerbrechliche Mutter, der alkoholabhängige Vater, der es zu großem Vermögen gebracht hat, der verwunderte Sohn, die verwelkende Hollywood-Diva, die depressive Ehefrau aus der amerikanischen Vorstadt, der griechische Gigolo, der sich Rettung in Deutschland erhofft, die verlorene Schlossherrin, die zur Mörderin wird - die Einsamkeit zwischen den Personen ist der rote Faden zwischen den unterschiedlichen Settings.
Das ganze Ambiente und die Stimmung sind plastisch vorstellbar und die Sprache passend, ohne große Worte, lakonisch, ganz der amerikanischen Short Story verpflichtet.
"Shania versucht ein letztes Mal, Blickkontakt herzustellen (...) Sie ist verloren. Das Geschöpf einer versinkenden Welt. Die Zukunft gehört ihr nicht und die Stiefel kneifen an den Waden."
Eine äußerst lesenswerte Sammlung von Kurzgeschichten, die einen starken Sog ausüben und in eine Welt voller morbider Schönheit, Melancholie und Trauer entführen.

Bewertung vom 05.02.2022
Henry
Gottschick, Florian

Henry


gut

Eine ungeplante Entführung und ihre Folgen, eine gestohlene Luxuslimousine, ein Abstecher in ein Ferienhaus, eine Psychologin, die sich mit Trance und Hypnose beschäftigt, ein Kommissar, der sich in die Rolle der Oper versetzt. Aber ist bei diesem Kriminalfall überhaupt klar, wer Opfer und wer Täter ist?
Ein schneller und spritziger Roman mit viel Tempo, lustigen, absurden Begebenheiten, spannenden Verfolgungsjagden, romantischen Augenblicken, aber die Figuren bleiben bei dieser skurrilen Geschichte leider eindimensional - Sven ist der charmante, etwas verrückte, naive, aber doch liebevolle Herzbub, den jeder sofort in sein Herz schließt, Nadja seine ihm zugedachte, etwas aufgedonnerte, hübsche, Trash-Queen, Marion die unnahbare, elitäre, erfolgsverwöhnte Mutter, die ihre Rolle nicht akzeptieren kann, Probleme in Beziehungen und besonders zu ihrer Tochter hat, Henry das vorpubertäre, (alt)kluge und gewitzte Mädchen, unsere Heldin, die (zu) vieles durchschaut und Beziehungen eher zu Erwachsenen als zu Gleichaltrigen aufbauen kann.
Wird es da noch Überraschungen geben? Können die Personen sich verändern? Oder bleibt letztendlich alles beim Alten und wird nur ein bisschen besser?
In Florian Gottschicks „Henry“ geht es um Freundschaft, Beziehungen, erste Liebe, Abenteuer und Nachhause-Kommen. Die Figuren sehnen sich nach dem großen Glück und am Ende kommen sie ihm ein Stückweit näher. Und die Moral? Ergreife das Glück beim Schopf, wann immer es sich dir anbietet und verweile im Hier und Jetzt - denn auf die Zukunft kann man nicht bauen!

Bewertung vom 30.01.2022
Überwintern. Wenn das Leben innehält
May, Katherine

Überwintern. Wenn das Leben innehält


gut

„Überwintern“ von Katherine May ist weniger ein Roman als eine Art Tagebuch, eine Bilanz, die die Ich-Erzählerin zieht, eine Verarbeitung ihrer eigenen Erfahrungen, Autobiographie während einer Ausnahmesituation. Es geht um eine tiefe Krise, die detailliert beschrieben wird, die lange andauert, die aber auch überstanden werden kann.
Winter - die Zeit der Ruhe, des Stillstands, der Veränderung, die Welt funktioniert mit eingeschränkten Lebensfunktionen, Winterschlaf, der Lebenszirkel nimmt sich eine Auszeit, Isolation, Kälte und Schnee.
Diese heruntergefahrene Energie in der Natur als Bild, als Parallele, wie unsere Psyche mit so einer Situation umgehen könnte, eine Akzeptanz der Dunkelheit und Kälte: Wir sollten auch eine solche Zeit der Erstarrung in uns selbst zulassen und durchstehen, ein Prozess, der durchlebt werden muss, der nicht beschleunigt werden kann und den wir annehmen müssen, um ihn zu überleben. Depressionen, Überarbeitung, Break Down, Trauer, Verwundbarkeit, Krankheit, Isolation und Burnout können Auslöser für ein „Wintering“ in der eigenen Psyche sein. Die Autorin zeigt den Weg aus dieser Krise, der für sie vor allem durch Akzeptanz, Zugeständnis und Loslassen entstehen kann.
Katherine May beschreibt die Winterbilder der Natur und ihrer inneren Verfassung poetisch und mit eindrücklicher Sprache. Diese ständige Umkreisung der eigenen Befindlichkeit ist für mich allerdings eher ermüdend. Am Anfang fand ich die vielen Anspielungen und Wortschöpfungen zum Thema "Winter" noch reizvoll und berührend, aber es wird auf Dauer etwas zu umfangreich und ausufernd. Sicherlich ein wichtiges Thema und eine bewegende, persönliche Darstellung einer Krise, für mich insgesamt allerdings zu langatmig und handlungsarm.
Die Autorin will anhand ihrer eigenen Erfahrung LeserInnen helfen und Anregungen geben, um ähnliche Krisen zu überstehen und Hoffnung auf einen Neuanfang vermitteln. Vielleicht ist die Literarisierung eines Ausschnitts ihrer Biographie auch ein Gesundungsprozess und der Versuch der Aufarbeitung und Bearbeitung. Der sehr persönliche Ansatz und die offene Darstellung psychischer Probleme und schwierigerer Momente der eigenen Biographie sind äußerst positiv hervorzuheben und können Betroffenen weiterhelfen und Mut vermitteln.
Sprecherin
Die Sprecherin Jennipher Antoni liest sehr authentisch, als ob sie ihre eigene Geschichte erzählte. Das ist äußerst gelungen, es geht gar nicht in erster Linie um das Erzählen, sondern stärker um das Sich-Erinnern, ein Monolog, der eigentlich gar keine Zuhörer braucht, da sie ihre Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle und Entwicklungen schildert. Eine Stimme, der ich gut folgen kann und die ganz unaufgeregt und ehrlich über ihre innersten Gedanken und Emotionen sprechen kann. Sehr gelungen!

Bewertung vom 29.01.2022
Weil wir träumten
Michaelis, Antonia

Weil wir träumten


ausgezeichnet

„Guten Morgen, Welt. Ich bin Emma, die letzte Nacht einen Jungen geküsst hat, der etwas bedeutet. Ich bin Emma, die von innen leuchtet. Ich bin Emma, die die Sterne nie mehr auf die gleiche Seite ansehen wird. Emma, die auf dem Wasser gehen kann.“
Ein berührender Jugendroman, der vor allem von der ungleichen Freundschaft zweier junger Mädchen, Emma, einer herzkranken Deutschen, und der 16-jährigen Madagassin Fy, Mutter einer kleinen Tochter und Angestellte im Ferienparadies, handelt.
Die überbehütete Emma, die bis dato vor dem Leben von ihrer überängstlichen Mutter beschützt worden ist, macht in diesem Urlaub im Paradies einen riesigen Wandel durch, sie entwickelt sich, reift, gelangt zum erfüllten Leben und ihr Dasein ergibt plötzlich einen Sinn. Wir begegnen einer wirklichen Heldin, die ihre eigenen Bedürfnisse unter die Bedürfnisse anderer stellt, die ihrer Freundin Fy und deren bedürftiger Familie helfen will und ihre eigene Gesundheit in diesem Moment vernachlässigt. Emmas Leben bekommt durch diese Freundschaft einen tieferen Sinn, sie spürt, dass sie lebt, Verantwortung übernimmt, ohne Rücksicht auf sich selbst handelt - auch wenn ihre geliebte Urgroßmutter Elise und ihre Familie sich große Sorgen machen und um ihr Leben fürchten müssen.
Große Herausforderungen und unüberwindbar scheinende Hürden stellen sich den beiden Mädchen in den Weg - Brutalität, Grausamkeit, Menschenverachtung und -handel, Gewinnsucht, Armut, Kriminalität und Korruption werden offensichtlich und das als Paradies wahrgenommene Land enthüllt sein zweites, verborgenes Gesicht.
Werden die beiden Mädchen diese Schwierigkeiten meistern? Kann die ungleiche Freundschaft diesen Herausforderungen standhalten?
Ein einfühlsamer, spannender coming-of-age Roman, den man nur schwer aus der Hand legen kann und dessen Heldinnen einem schnell ans Herz wachsen!
Emma: „Die Wahrheit ist, es geht mir nicht gut, aber ich bin glücklich.“

Bewertung vom 24.01.2022
Herzkraft
Hagena, Katharina

Herzkraft


sehr gut

Geschichten, Gedichte, Sagen, Märchen, Erzählungen aus der eigenen Biographie - eine bunte Mischung aus unterschiedlichen Textsorten reiht sich unter dem Thema der menschlichen Stimme aneinander. Ein Genuss, ein Buch, in dem man blättern und an verschiedenen Stellen verweilen möchte, ein Patchwork, das zum Betrachten und Nachdenken einlädt.
Der Schreibstil und die Erzählungen gefallen mir sehr gut und ich finde die Gedichte voller Poesie und sehr inspirierend - uns begegnet bekannte Lyrik , Klassiker der Literatur-Geschichte, aber auch unbekannte Texte - eine gelungene Sammlung von Poesie mit dem Oberthema des Gesangs.
Hagena erzählt von ganz persönlichen Begegnungen, von den Liedern ihrer Mutter, von der schönen Lilofee, die der Wassermann freiht, von Udine und Ophelia, von Yehudi Menuhin und vom Großvater, der als Missionar afrikanische Songtexte übersetzte und Melodien aufschrieb, von Liedern in Mundart und von Operngesängen. Persönlich, offen, vielseitig und voller Gefühl, so dürfen wir an ihrem Leben teilhaben, Parallelen oder Unterschiede zu eigenen Erfahrungen erkennen und uns überlegen, was denn musikalisch auf unserer Beerdigung erklingen sollte. Dies ist eine Lektüre, die sich mit der Kraft und Schönheit des Singens, mit der Freude und Erfüllung durch die Musik auseinandersetzt.
Ein wunderschön gestaltetes Buch, das das Herz jeden Sängers, jeder Sängerin und Musikliebhabers erfreuen kann!

Bewertung vom 22.01.2022
ewig her und gar nicht wahr
Frenk, Marina

ewig her und gar nicht wahr


ausgezeichnet

Sehr einfühlsam erzählt die Autorin Marina Frenk die Geschichte Kiras, die autobiographische Züge aufweist: Wir springen in ihrem Leben hin und her, es geht von ihrer Kindheit in Moldawien bis zur Flucht / Auswanderung nach Deutschland und es gibt den Sprung zu ihrer Rolle als Mutter und Geliebter, Freundin, Tochter, Enkelin. Momentaufnahmen aus ihrem Leben, Introspektion, Überlegungen zum Sinn des Lebens, ihrem Dasein als Künstlerin, ihrem Sohn, ihrem Verhältnis zu ihrem Freund.
Diese verschiedenen Zeitfenster plus die Vergangenheit der Eltern und Großeltern sind großartig und spannend, so vieles, das sich wiederholt, ein roter Faden, der die Biographien verbindet. Abschied, Angst, Aufbruch, Neubeginn, Erfahrungen, die sich durch die unterschiedlichen Generationen ziehen, eine Familie, deren Heimatlosigkeit und Suche nach Zugehörigkeit qualvoll ist, hochaktuell und berührend.
Die Erzählstimme der Autorin wird zu Kira, sie verschmelzen, authentisch, direkt, nachvollziehbar, traurig, verletzlich, verzagt, hoffnungsvoll. Sie zieht uns in den Bann und ich habe das Gefühl, diese interessante, zerrissene und aufrichtige Frau immer besser kennen- und verstehen zu lernen. Die Sprache ist poetisch, ihre Einsamkeit, Selbstdurchforstung und Introspektion bewegend und ihre Suche nach sich selbst, nach Liebe, Glück und dem richtigen Leben ergreifend.
Eine klare Lese- und auch Hörempfehlung!

Bewertung vom 09.01.2022
Ein fliegender Vogel blickt nie zurück
Ryu, Shiva

Ein fliegender Vogel blickt nie zurück


sehr gut

Ein Quelle der Inspiration, Meditation und Wegfindung
Shiva Ryu ist ein großartiger Geschichtenerzähler! Angeregt durch eigene Erlebnisse, Begegnungen, Erfahrungen nimmt er in seinem Buch "Ein fliegender Vogel schaut nie zurück" den Leser mit auf eine literarische Reise, schafft es, zu verzaubern, zu unterhalten, zum Nachdenken anzuregen und eventuell auch Positionen zu überdenken und neue Wege aufzuzeigen. Perspektiven werden infrage gestellt, Standpunkte neu bewertet, Alternativen aufgezeigt und bekanntes Terrain verlassen. Basis ist die Wertschätzung allem gegenüber, dem Leben, der Schöpfung und auch sich selbst.
Das Buch ist voller Poesie und Weitblick, der Einband geschmackvoll und hochwertig gestaltet und die schlicht-geheimnisvollen schwarz-weiß Bilder können die Fantasie anregen. Eine Chronologie ist nicht Bedingung, eher bieten die Texte und Bilder Zeit für Muße, zum Blättern, zum Verweilen an unterschiedlichen Stellen, die den Leser fesseln und faszinieren. Kein Psycho-Ratgeber, der schnell sondieren und helfen möchte, sondern ein Wegweiser, der Fragen aufwerfen, der die Sinnsuche initiieren, der mich auf meinem Weg zu mir selbst begleiten kann.

Bewertung vom 04.01.2022
Die Flüchtigen
Damasio, Alain

Die Flüchtigen


sehr gut

Ein Koloss von einem Roman, ein richtiges Schwergewicht von über 800 Seiten, das vielseitig und vielschichtig eine Unmenge an Themen vereint - Dystopie, Liebe, Abenteuer, Krimi, Gesellschaftsroman und -kritik. Als Leser wird man gefordert und belohnt, lässt man sich denn mit Zeit und Aufmerksamkeit auf diesen Akt des Lesens ein, ungewöhnlich, teilweise grotesk und brutal, aber auch poetisch und zart, originell und ungewöhnlich, immer wieder mit neuen Herausforderungen, Wortschöpfungen, Wortspielen, Einführung neuer Akzente und Satzzeichen.
Frankreich 2040: Eine Welt der Überwachung, der Kontrolle und Digitalisierung, die an die Matrix-Verfilmungen oder Orwells 1984 erinnert. Der Mensch ist nicht frei, sondern wird vom Staat und dem Großunternehmen ORANGE kontrolliert. Im Mittelpunkt steht eine zerstörte Familie, ein Ehepaar, dessen vierjährige Tochter vor einiger Zeit auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Dieses Verschwinden wird zum Politikum, als es mit der Existenz von einer neuen Spezies, den Flüchtigen, in Zusammenhang gebracht wird. Und jetzt beginnt das Abenteuer - lebt Tishka noch? Glauben die Eltern an ihr Überleben? Wer oder was sind die Flüchtigen? Eine Task-Force versucht mit aller Macht mehr über die Flüchtigen herauszufinden, das Geheimnis zu lösen und das Mädchen zu finden. Von einer eher privaten Angelegenheit aus entsteht eine ganze Welle, die die Politiker und das bestehende System in Frage stellt und Kampf und Revolution nach sich zieht. Die Welt und herrschende Ordnung sind in Gefahr - können die Rebellen sich retten und ihre Ideale von Freiheit, Selbstbestimmtheit und einer neu definierten Menschlichkeit umsetzen?
Die Leseempfehlung ist für Leser, die sich gerne herausfordern und einlassen auf das Abenteuer des Lesens, denn hier verlangt der Akt des Lesens größte Aufmerksamkeit und Konzentration und eine Vorliebe für Gedankenexperimente und Sprachspiele sind hilfreich. Noam Chomsky und John Searle hätten vermutlich ihre wahre Freude daran!

Bewertung vom 03.01.2022
Auto
Walker, Christina

Auto


sehr gut

Stillstand, Ruhe, Zurückgezogenheit - es passiert kaum etwas, warten, auf was? Was soll sich ändern? Ist es ein Burnout? Ein Rückzug von der Welt? Ein langsamer Tod?
In unserer bewegten Welt ist diese Lebensweise des Herrn Busch - ein Rückzug in sein stehendes Auto im Hof eines Mehrfamilienhauses - doch sehr ungewöhnlich. Erstaunlich, dass unser Protagonist nicht mehr Abwehr oder gar Übergriffe von Anwohnern oder seiner Familie zu spüren bekommt. Seine Gattin Susanne und auch sein Sohn Matti haben sich eingerichtet, auch wenn sie immer wieder versuchen, ihn aus seinem freiwilligen Exil heraus zu lotsen und in sein / ihr altes Leben wieder einzubeziehen.
Was ist der Sinn des Daseins? Was ist das Ziel? Diese Fragen stellen sich dem Leser automatisch, wenn er das Verhalten des skurrilen Aussteigers Busch betrachtet. Und auch, wenn man diesen Wunsch nach Einsamkeit, Kontaklosigkeit und Regelhaftigkeit nicht teilt, ist es doch beeindruckend zu sehen, mit welcher Energie und Entschlossenheit er seinen neuen Weg durchsetzt. Wird die Familie wieder zueinander finden und werden sie die Barrieren überwinden? Wird Busch die Eigenschaften des von ihm so hochgeschätzten Ameisenvolkes übernehmen können?
Ein kleines, ruhiges Buch, in dem auf der Handlungsebene nicht viel passiert, das aber trotzdem immer wieder zum Nachdenken und Überdenken der eigenen Position anregt. Eine sprachlich sehr ansprechende Erzählung voller poetischer Bilder und origineller und witziger Ideen und außerdem eine Leseempfehlung jenseits von Action und Schnelllebigkeit.

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