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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 139 Bewertungen
Bewertung vom 13.05.2022
An der Grasnarbe
Wittig, Mirjam

An der Grasnarbe


gut

Ein seltsames Buch, das mich zwiegespalten zurücklässt. Den Anfang habe ich sehr intensiv erlebt, die Hauptfigur Noa, eine Außenseiterin, Getriebene und Verstörte, die eine Auszeit in den französischen Alpen sucht, hat mein Mitgefühl und meine Sympathie. Sie ist eine junge Frau, die von Panikattacken getrieben wird und Heilung und Neuanfang auf dem Land sucht. Die gewohnte Großstadt mitsamt den Freunden und der WG wird aufgrund ihrer krankhaften Unruhe und ihrer Ängste verlassen und als Helferin geht sie auf einen einsamen Hof in den Bergen, wo sie mit einer Kleinfamilie zusammenlebt. Die verstörenden inneren Bilder kreisen immer wieder um versteckte Bomben, Explosionen, Selbstmordattentate in U-Bahnen, voller Manie werden Männerkörper nach versteckten Sprengkörpern abgesucht, verlassene Gepäckstücke mit Argwohn betrachtet und der Leser bekommt den Eindruck, dass sie selbst oder Familienangehörige Opfer einer Katastrophe wurden. Mich interessierte besonders der innere Konflikt der Protagonistin, der mit der äußeren Dramatik – die Auflehnung und Zerstörung der Natur - korreliert - eine Entsprechung der Psyche in der Natur, das klingt vorerst sehr reizvoll. Aber dann kann die Autorin den Fluss des ersten Teils nicht aufrechterhalten.
Die Sprache ist weiterhin schön, teilweise poetisch, aber der Inhalt wird langatmig und der Lesegenuss gemindert - kein Mitfiebern, einige wenige Stellen sind noch anregend, aber viel mehr auch nicht. Zu viele Fragen bleiben inhaltlich leider offen und wichtige Themen werden gar nicht mehr erwähnt, das ist für mich das größte Manko.
Der gelungene Beginn zerfasert, die Fäden werden nicht weitergesponnen, interessante Figuren tauchen überhaupt nicht wieder auf, Beziehungen werden nicht geklärt, neue Themen werden angerissen, nichts wird zu Ende geführt. Schade! Das Potenzial des Anfangs wird leider nicht weitergeführt und eigentlich möchte ich gar nicht mehr wissen, ob Noa es schafft, zu ihrer Mitte zurückzufinden, zu gesunden und einen Neuanfang zu meistern.

Bewertung vom 07.05.2022
Kopf über Wasser im Alltagschaos
Davis, KC

Kopf über Wasser im Alltagschaos


sehr gut

Verhaltensveränderung durch eine veränderte Sicht auf die Problemlage, das ist der Ansatz der Autorin und praktizierenden Psychologin K.C. Davis.
Diese Büchlein unterscheidet sich von herkömmlichen Ratgebern in erster Linie darin, dass nicht die Tat selbst, sondern die Bewertung im Vordergrund steht. Ich werde angeregt, meine Bewertungskriterien zu überdenken und während ich die Problemlage analysiere, soll mir bewusst werden, was ich alles positiv und produktiv leiste - und dieser Ansatz macht Sinn, vor allem für Menschen, die das Gefühl haben, gegen ihr Chaos und ihre Unordnung ständig anzukämpfen wie Don Quichotte, also mit viel Wind, aber ohne Erfolg.
Eine erfrischende Lektüre, die Spaß macht, unterhaltsam, leicht und witzig zu lesen ist. Mit Beispielen aus der eigenen Biographie würzt die Autorin ihre Beschreibungen und sicherlich finden sich viele Menschen in der einen oder anderen Situation wieder, können Parallelen ziehen und auf das eigene Verhalten und das individuelle Bedürfnis nach Ordnung und Sauberkeit anwenden. Teilweise etwas wiederholend wird immer wieder betont, dass ich mich von den Vorstellungen und Erwartungen anderer frei machen soll, dass ich mich im Sinne der typischen Achtsamkeit-Bücher um mein eigenes Glück und meine Zufriedenheit kümmern solle. Die psychische Gesundheit und Akzeptanz der eigenen Person stehe immer vor jeglichen Ordnungsprinzipien und Sauberkeitsvorstellungen.
Explizit erwähnt wird, dass der Ratgeber nicht von vorne bis hinten durchgelesen werden müsse, man könne immer wieder überspringen, sich in Stellen vertiefen, neue Ideen und Perspektiven aufgezeigt bekommen und das Wichtige für sich selbst auswählen. Ganz praktische Tipps sowie ein 5-Punkte-Plan runden die Lektüre ab und können hoffentlich jedem Sinn- und Ordnungssucher helfen, sich aus dem eigenen Chaos zu befreien.
Und die gute Botschaft ist: Keep cool and love yourself!

Bewertung vom 15.04.2022
Es ist schon fast halb zwölf
Becker, Zdenka

Es ist schon fast halb zwölf


sehr gut

Geschichte wird lebendig, denn dieser Roman Zdenka Beckers beruht auf einem unglaublichen Fund: 500 originale Briefe aus der Zeit des zweiten Weltkriegs sind das Fundament dieses Werks. Sie werden mit einer fiktiven Erzählung verwoben und so entsteht ein großes Gemälde über die Sorgen, Probleme, Hoffnungen ganz gewöhnlicher Menschen und das Leben allgemein, zur Zeit des ersten Weltkrieges und heute. Außerdem wird noch sehr geschickt eine Art Kriminalfall eingefügt, ein geliebter Mensch wird unter ungeklärten Umständen vermisst und man möchte dieses mysteriöse Verschwinden klären. Liebe, Sehnsucht, Heimatsuche und -verlust, Familie und Zusammenhalt sind die Themen vor dem Panorama des Krieges. Ein weiterer großer Aspekt ist die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Konfrontation, aber auch das Verdrängen, das Vergessen und die Demenz.
Die unterschiedlichen Stimmen, Hauptfiguren, Nebenfiguren, kommen zu Wort und nebenbei erfahren wir von den großen Geschehnissen der Weltgeschichte, inmitten von Sorgen über Wäschewaschen, Feuerholz und Kohlen die Berichte von der Ostfront, die Rede Goebbels, der Tod des besten Freundes.
Die Sprache hat ihren eigenen Duktus, oft einfach, klar und bodenständig, passend zu den Figuren, die im Roman auftreten, dann aber wieder ganz poetisch, eindrücklich und von ruhiger Schönheit.
Gerade vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine lesen sich viele Stellen besonders bedrückend und Bilder entstehen im Kopf. Ein Roman, der gerade jetzt wieder aktuell ist und zeigt, wie zeitlos die Thematik des Kriegs und des Leids ist, ein Roman, der bewegt und durch seine liebevolle und detaillierte Gestaltung der Protagonisten die Geschehnisse mit Leben erfüllt.

Bewertung vom 10.04.2022
Die Wahrheit und andere Erinnerungen
Neeme, Imbi

Die Wahrheit und andere Erinnerungen


gut

Eine Familiengeschichte, die von Alkohol, Defiziten, Geheimnissen, Eifersucht, Schuld und Streit handelt: Die Schwester Nicole und Samantha können nicht voneinander lassen, streiten sich aber immer nur, sie tun sich nicht gut. Die alkoholkranke Mutter schwebt wie ein Schatten über allem und immer wieder geht es zum Ausgangspunkt zurück, zum Autounfall unter Alkoholeinfluss. Immer wieder werden alte Kränkungen auf dem Tablett serviert. Warum sind alle bloß so destruktiv und gönnen sich nichts? Die Eltern, die Schwestern, die neuen Partner, das Kind. Vernunft, Offenheit und Großzügigkeit den Menschen und ihren Fehlern gegenüber finden sich in diesen Beziehungen kaum, jeder versucht dem anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, Verantwortung abzugeben, die Probleme und Verletzungen mit sich selbst auszuhandeln und nicht darüber zu reden. Kommunikation findet fast ausschließlich in einem gestörten Rahmen statt.
Besonders die Entscheidungen und das Verhalten der beiden Schwestern kann ich nicht nachvollziehen. So viele Ängste, Lügen, Missgunst und Bevormundungen können keine positiven Beziehungen entstehen lassen, das ist zu offensichtlich.

Das Buch beginnt mich leider schon bald etwas zu langweilen, obwohl so vieles passiert. Auf der Suche nach der Wahrheit werden zu viele Fehler gemacht, zu tief ins Glas geschaut und das mit zu vielen Wiederholungen.
Ich ertrage das kaum und es kommt mir so unnatürlich vor. Warum machen die Personen keinen Schnitt, wenn sie sich nicht ausstehen können? Warum darf Tochter Rosemary nicht ein Partygirl sein? Warum darf sie keine Anteile von ihrer Großmutter Tina haben? Warum - lauter ungeklärte Fragen, bis sich zum Schluss der Schleier etwas lichtet - aber finden die Figuren zueinander? Haben sie noch eine gemeinsame Chance nach dieser Vergangenheit?
Ich werde leider nicht richtig warm mit dem Roman und den Protagonisten, obwohl mir beide zu Beginn so gut gefallen haben. Schade, es wird viel verschenkt bei einem so wichtigen Thema wie Alkoholismus in einer Familie und einer so interessanten Problemstellung. Die Story selbst ist faszinierend, aber die Umsetzung ist mir zu trivial, effektheischend, sprachlich ambivalent, teilweise poetische und klug, teilweise aber auch zu vulgär und nichtssagend, lange Dialoge, die nicht enden wollen und nicht zum Punkt kommen. Dann verliert die Geschichte an Spannung, wird langatmig und dreht sich im Kreis. Schade - denn teilweise schreibt die junge Autorin Imbi Neeme wunderbare Sätze, die berühren und zum Nachdenken anregen: „Am Ende wäre niemand mehr übrig, der sie tragen könnte, nicht mal ein Stück des Wegs.“

Bewertung vom 09.04.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Dschinns - ein großartiger Roman von Fatma Aydemir! Von Beginn an war ich sogleich in Bann geschlagen, ein Schicksalsschlag gleich auf den ersten Seiten: Das Familienoberhaupt Hüseyin stirbt. Jetzt, wo es endlich so weit ist und er sich seinen Traum erfüllen kann, muss er die Welt verlassen, und wird von seinem Dschinn verabschiedet. Eigentlich möchte er endlich das Glück in seinen Händen halten, Zeit mit der Familie verbringen, die Entbehrungen der vergangenen Jahrzehnte wieder gutmachen, und dann überrascht ihn der plötzliche Tod - dramatisch und eindrücklich beschrieben.
Nach diesem Beginn kommen nach und nach die anderen Familienmitglieder zu Wort und ihre Perspektive der Geschehnisse, jeder mit einem unterschiedlichen sprachlichen Duktus, der das Lesen und die Erfahrung der Subjektivität besonders reizvoll machen. Und wir als Leser erleben die Inkongruenz der Wahrnehmung - jeder lebt in seiner Welt, nimmt alles mit anderen Augen wahr, bewertet, deutet, interpretiert und fühlt anders. Welten und Gegensätze prallen aufeinander, Ost und West, das kleine kurdische Bergdorf, die trubelige bunte Stadt Istanbul, das kalte Deutschland und jeder findet sich in diesen Umgebungen unterschiedlich gut zurecht - die Mutter, die kaum Deutsch versteht und sich nicht heimisch fühlt, der aufmüpfige, leicht kriminelle Sohn mit den Machoallüren, die feministische Studentin, die Freiheit und Liberalität lebt und trotzdem nicht glücklich ist, die Analphabetin, die aus dem Nichts und aller Widerstände zum Trotz als Geschäftsfrau erfolgreich ist und ihre beiden Kinder alleine großzieht, der kleine Bruder, der gegen Vorurteile ankämpfen und sich selbst finden muss. Sie alle sind auf dem Weg und es verbindet sie das große Schweigen, das nicht überwunden werden kann, das sie einander entfremdet, obwohl doch alle auf der Suche nach Liebe, Akzeptanz und Heimat sind.
Ein wunderbarer Roman - unterhaltsam, tiefgründig, witzig und berührend, traurig und hoffnungsvoll und voller Poesie - ein Buch, das man gar nicht mehr zur Seite legen möchte, das mir die Augen geöffnet und mein Verständnis erweitert hat, was es bedeutet, fremd in der alten und neuen Heimat zu sein, sich als ein Außenseiter zu fühlen, auf der Suche und mit viel Sehnsucht im Herzen, mit Wünschen nach einer besseren Zukunft, besonders für die eigenen Kinder. Sind die Entbehrungen und Opfer, die erbracht werden, es wert? Was zählt ein Leben? Was zählt Familie? Wie können Hass und Selbstzerstörung überwunden werden?
Eine ganz klare Leseempfehlung für Herz und Verstand!

Bewertung vom 09.03.2022
Am Rand, mit den Füßen im Nichts
Winterstein, Co

Am Rand, mit den Füßen im Nichts


sehr gut

Eine Sammlung von Kurzgeschichten, die berühren, zum Nachdenken anregen und vor allem auch bestens unterhalten
Co Winterstein ist mit ihrer Sammlung von unterschiedlichen Kurzgeschichten etwas Besonderes gelungen - jede Geschichte hat neue Facetten, einen interessanten Plot, spannende Charaktere und eine intensive emotionale Grundstimmung der Hauptfiguren. Es geht um die elementaren Themen, die jeden von uns beschäftigen: Liebe, Tod, Verlust, Trauer, Hoffnung und Ängste vor dem Versagen. Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller stehen im Zentrum, Menschen, die sich regelmäßig mit Kunst beschäftigen, das Thema der Literatur und der Kunst findet immer wieder Eingang. Einige der Figuren sind exzentrisch, wir wundern uns über sie, haben Mitleid, freuen uns mit ihnen, andere sind weniger skurril, wir können uns in sie hineinversetzen, ihre Ängste und Hoffnungen verstehen. Die Menschen im Roman sind so greifbar, sie werden plastisch dargestellt und ihre Emotionen sind nachvollziehbar. Die Sprache unterstützt den Fluss, einfühlsam, angenehm zu lesen, teilweise poetisch und sehr stimmig.
Und last but not least: Die Geschichten sind unglaublich unterhaltsam, im Sinne des anglophilen Erzählens schafft es die Autorin, den Leser mit auf die Reise zu nehmen, man möchte erfahren, wie es weitergeht, wie sich die Protagonisten entscheiden, warum sie so handeln, wie sie es tun und was die Zukunft bringen mag.

Bewertung vom 08.03.2022
Dazwischen: Wir
Rabinowich, Julya

Dazwischen: Wir


sehr gut

„Wer Wurzeln hat, kann schön langsam auch fliegen üben.“
Irgendwo in Deutschland, von irgendwoher, aus einem Land, in dem Krieg und Zerstörung, Gefahr und Bedrohung herrschen. Eine Flüchtlingsfamilie hat ein neues Zuhause gefunden, hat sich eingelebt, macht das Beste aus ihrer Situation und hat sich unterschiedlich gut eingelebt in das geordnete, regelbehaftete Deutschland. Mutter, zwei Kinder, Tante, der Vater musste die Familie aus nicht genannten Gründen verlassen. Eine Vorzeige-Asylantin ist Madina, die Tochter, die auf dem besten Wege ist, Abitur zu machen, die Schule erfolgreich abzuschließen, die perfekte Integration. Mutter und Tante haben größere Probleme, sind der Sprache nicht mächtig, schotten sich ab und werden von Albträumen und Panikattacken geplagt.
Aber ganz so erfreulich, wie es auf den ersten Blick wirkt, ist diese Erfolgsgeschichte dann doch nicht und Madina erfährt Rassismus und Ausgrenzung. Schafft sie es, für sich und ihre Familie zu kämpfen? Erwachsen zu werden, zu reifen, Entwicklungen zu durchlaufen, die einem Teenager entsprechen? Sind die Freunde bereit und stark genug, ihr zur Seite zu stehen? Der aufrüttelnde Roman „Dazwischen: Wir“ von Julya Rabinowich präsentiert eine starke, sympathische Heldin, die auf der Suche nach dem richtigen Weg ist, die Gegenwart meistern und ihre Zukunft formen muss.

Traumsequenzen durchziehen den Roman: Szenen wie aus einem Horrorfilm, die Madinas Gefühle und Ängste erklären. Sie sind ein Schlüssel zu ihrem Inneren und helfen ihr, mit der Gegenwart und der Vergangenheit besser zurecht zu kommen. Dem Leser erleichtern sie den Zugang zur Hauptfigur, er lernt sie auf einer neuen Ebene kennen und verstehen.
Auch vom Schriftstellerischen ist dieser Roman sehr gelungen. Es ist großartig, wenn Jugendliche neben einer intensiven und aufregenden Handlung auch noch eine weitere literarische Ebene präsentiert bekommen. So erlebt man ganz nebenbei verschiedene Erzählweisen, entdeckt Metaphern und Bilder, die zur Interpretation einladen, bekommt einen Einstieg in Literatur, die mehr bietet als "bloße" Unterhaltung.
Eine klare Leseempfehlung besonders für junge Menschen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2022
Der Fluch des Hechts
Karila, Juhani

Der Fluch des Hechts


ausgezeichnet

Was für ein erster Tag! Zurück in der Heimat Lappland, umgeben von Mücken, Sumpf und Eigenbrötlern, versucht Elina, Heldin und Hauptfigur, ihre schwere und elementare Aufgabe zu erfüllen. Sie muss eigentlich nur den Hecht fangen und ist sich sicher, dass alles ganz einfach vonstatten geht und sie das Ende der Welt bald wieder verlassen kann.
Dieses Mal ist ihr allerding der Erfolg nicht vergönnt, dabei hängen ihr eigenes Leben und Überleben und auch das von Jousia, ihrem einstigen Geliebten, davon ab und sie kann nicht locker lassen.
Eine skurrile Welt, morbide und blutdurstig, empfängt den Leser und Elina. Was für wilde Geschichten und Gestalten bevölkern diese gottverlassene Gegend - das Reale und das Irreale sind kaum noch zu trennen, vermischen sich zu einer Welt der Mystischen, die Natur ist belebt, Naturgeister schwirren umher, die Geschichten sind so plastisch und wirken wie ein Teil einer unheilverkündenden Vergangenheit.
Die Natur wird grandios moribund dargestellt, die Szenen, in denen die Insekten wie eine Horde aus Hieronymus Boschs Bildern vom jüngsten Tag als Foltergesellen auftreten. Blut fließt, es riecht, tönt, schmatzt, starrt - alle Sinne sind bereit, um das Schauerliche zu sehen.... und wir können gespannt darauf sein, was Elina und uns als nächstes widerfährt.

Und der zweite Tag endet mit den schrecklichen Horrorgestalten, Zauberwesen, Toten, die in der Kraftnacht auftauchen und das Dorf unsicher machen…
Ist all das aber bloß ein betrunkener Albtraum, Wahn oder doch mehr?
Die tatkräftige Polizistin Janatuinen ist sich nicht sicher, aber sehr matter of fact begegnet sie den wirren Menschen, den Peejonis, den Hexen und Magiern, dem Aberglauben und den Vorstellungen vom tödlichen Fluch und wie man ihn eventuell aufheben könne. Und dann tauchen noch ein angeblicher Mörder und seine Leiche auf…
Können die nächsten Tage das Rätsel lösen und den Fluch aufheben?

Elina und auch die Polizistin mit dem unaussprechbaren Namen sind meine Heldinnen, mitsamt den Märchenfiguren, Eule und Asko natürlich auch. Jeder trägt zum Gelingen bei, das Abenteuer wird gemeinsam überstanden, die Gefahr vorerst gebannt.
Der Roman „Der Fluch des Hechts“ von Juhani Karila ist großartig - voller Leben, Verrücktheiten, tiefer Gefühle, Ängste und Überraschungen - ein wahrhaftig ungeahntes Lesevergnügen, ein Schauermärchen und Spektakel für Erwachsene, für alle, die Spaß an fantastischen Irrlichtern, überbordenden Erzähleinfällen und einem großen Schuss magischen Realismus‘ haben. Ich bin begeistert von diesem verrückten, fantasievollen, dunkel-düster-urkomischen Roman! Habe schon lange nichts Vergleichbares gelesen.

Bewertung vom 18.02.2022
Ey hör mal!
Sharif, Gulraiz

Ey hör mal!


ausgezeichnet

Manchmal überrascht einen das Leben

In „Ey hör mal“ von Gulraiz Sharif geht es erst einmal um die alltägliche Diskriminierung - Mahmoud wünscht sich einen anderen Namen, vielleicht Kurt oder Bjarne, ein biblischer Name wie Jacob oder Gabriel würde es auch tun, aber auch dann könnte er die Hautfarbe nicht einfach ablegen und er unterscheidet sich einfach von den „norwegischen Norwegern“, obwohl er seit seiner Geburt in Norwegen lebt und erfolgreich die Schule besucht. Diese Probleme - kein Job, kein Geld, Langeweile - begleiten ihn in die Sommerferien hinein, die er mit seinem einäugigen Kumpel Arif in der Plattenbausiedlung verbringt, während die echten Norweger in ihre Ferienhäuser zum Entspannen fahren dürfen.
Eine Tragödie bahnt sich an, als der kleine Bruder Ali bekennt, dass er sich als Mädchen fühlt, Schmuck und Glitzer liebt und mit Mama gerne Bollywood-Filme guckt. Verstörend und kaum zu glauben, aber wie sagt man es dem pakistanischen Vater, der dafür überhaupt kein Verständnis aufbringt und mit Schweigen, Abwehr, Überforderung und Liebesentzug reagiert? Die Welt gerät aus ihren Angeln und der Zusammenhalt der Familie wird auf eine harte Probe gestellt.

Trotz des ernsten Themas ist der Roman aber alles andere als problembeladen. Der Erzählstil ist urkomisch, flapsig, teilweise auch sehr umgangssprachlich und etwas derb. Aber trotzdem reizt der ungefilterte Jugendjargon zum Lachen, so viele kuriose Vergleiche, die Mutter als Helikopter oder Ninja-Kämpferin, die mit ihren Schlappen um sich haut, der kleine Bruder, der sich als Gangster mit Ketten und schwarzem Nagellack verkleidet, als der Onkel aus Pakistan zu Besuch kommt. Und dann der fremdartige Onkel, der einen riesigen Kulturschock erlebt - Elektroautos, Mülltrennung und freizügige Norwegerinnen - das Paradies auf Erden und er schmiedet gleich Pläne, wie er vielleicht doch für immer bleiben könnte.
Gulraiz Sharifs rasanter Jugendroman „Ey hör mal“ steckt voller origineller Gedanken und Wahrheiten, erzählt aus der ganz subjektiven Perspektive des jugendlichen Mahmouds, der seinen Gefühlen und Überlegungen freien Lauf lässt, in diesem Sommer erwachsen wird und zum ersten Mal Verantwortung als großer Bruder und Sohn übernehmen muss.
„… es ist wie am Ende von so `nem megakitschigem Film, ich komm mir’n bisschen wie ‘n Held vor - ein echt pakistanischer Held!“

Ein großartiges Buch - zum Lachen und Weinen, voller Wahrheit und Liebe, voller Verständnis und Einfühlungsvermögen in die Seelen von Heranwachsenden.

Bewertung vom 07.02.2022
Damenbart
Pines, Sarah

Damenbart


ausgezeichnet

Der fast schon archaische Drang zu einem besseren, aufregenderen Anderswo

Es geht nicht um das Glück, sondern um die Sehnsucht danach, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, Unerreichbaren. Sarah Pines Figuren sind allesamt Gestrandete, Verlorene, vom Leben Vergessene, Betrogene, Abhängige. Mit schnellen Pinselstrichen entwirft die Autorin eine ganze Welt voller Melancholie, atmosphärisch dicht, geheimnisvoll, skurril, tragisch, komisch und auch voller maroder Poesie.
Der Leser sehnt sich nach einem Fortgang der Erzählungen, möchte diese Momentaufnahmen verlängern, eine mögliche Zukunft erkennen. Aber diese ist nicht Thema, die Figuren verharren in ihrer Trauer und Erstarrung, eine Veränderung und auch Zukunft ist nicht möglich. Immer wieder möchte man einzelne Gestalten schütteln, sie auf den Boden der Realität zurückholen: Warum gestaltet ihr nicht eure Umgebung? Warum diese Passivität? Dieses Leiden und diese Opferrolle? Dieses Verharren im ewig Gestrigen? Wie Wagners Götter, die zu müde und erschöpft sind, um ihr Schicksal selbst zu formen, ertragen z.B. die Göttinnen Hollywoods das Ende ihrer Karriere, das Ende des Schwarz-Weiß-Films, suchen den echten und symbolischen Tod im Sturz vom Götterhimmel.
Die Geschichten sind extrem dicht, ohne zu sehr ins Detail zu gehen wird die jeweilige Atmosphäre in Zürich, Amerika oder Südeuropa sicher gezeichnet - die schöne, zerbrechliche Mutter, der alkoholabhängige Vater, der es zu großem Vermögen gebracht hat, der verwunderte Sohn, die verwelkende Hollywood-Diva, die depressive Ehefrau aus der amerikanischen Vorstadt, der griechische Gigolo, der sich Rettung in Deutschland erhofft, die verlorene Schlossherrin, die zur Mörderin wird - die Einsamkeit zwischen den Personen ist der rote Faden zwischen den unterschiedlichen Settings.
Das ganze Ambiente und die Stimmung sind plastisch vorstellbar und die Sprache passend, ohne große Worte, lakonisch, ganz der amerikanischen Short Story verpflichtet.
"Shania versucht ein letztes Mal, Blickkontakt herzustellen (...) Sie ist verloren. Das Geschöpf einer versinkenden Welt. Die Zukunft gehört ihr nicht und die Stiefel kneifen an den Waden."
Eine äußerst lesenswerte Sammlung von Kurzgeschichten, die einen starken Sog ausüben und in eine Welt voller morbider Schönheit, Melancholie und Trauer entführen.