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Juma

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 10.05.2023
Deitschland (eBook, ePUB)
Blum, Emma

Deitschland (eBook, ePUB)


sehr gut

Fremdes Deitschland im fernen Brasilien

Emma Blum legt ihren Debütroman vor, ein Erstling von gewichtigem Ausmaß, 564 gedruckte Seiten, die dem Leser die Lebensgeschichte von Paul Rosenbaum erzählen. Und die ist ganz und gar nicht alltäglich, denn sie führt in das Innere Brasiliens, wo sich seit dem 19. Jahrhundert deutsche Auswanderer niederließen und ihr kleines „Deitschland“ aufbauten. (Ähnliche deutsche Ansiedlungen gibt es z. B. auch in Argentinien, Verwandte von mir sind dort 1938 als Flüchtlinge angekommen, einige sprachen auch 50 Jahre später noch kein Wort Spanisch, aber die Kindeskinder können nun kein Deutsch mehr.)
Der Roman beginnt mit der Ankunft von Paul in Deutschland, er hat sich um eine Au-Pair-Stelle beworben und wird für ein Jahr in Dortmund, der Geburtsstadt seines Großvaters, auch ein Paul Rosenbaum, den kleinen, verwöhnten und etwas vollgefressenen Felix betreuen. Dass er mit der Ortswahl auch den Zweck der Erforschung der Familiengeheimnisse verbindet, liegt auf der Hand. Mitgenommen nach Deutschland hat er eine alte Keksdose mit Erinnerungsstücken, die ihn auf seiner Suche leiten und begleiten.
Die Menschen in Pauls Heimat sprechen ihr eigenes „Deitsch“, das mit dem Hochdeutschen nur noch entfernt verwandt ist, aber viele von ihnen lernten weder lesen noch schreiben, ganz zu schweigen von Portugiesisch, das zwar Amtssprache ist, aber in den deitschen Dörfern erst benutzt wird, als die Kinder und Kindeskinder in die brasilianischen Schulen gehen. Paul wird erst später bei den Priestern ein richtiges Portugiesisch lernen.
Paul wächst in ärmsten Verhältnissen mit zehn Geschwistern auf, aber er ist von Anfang an ein kleiner Außenseiter, er liebt Bücher, er liest alles, was er bekommen kann. Als sich ihm die Möglichkeit bietet, auf ein Priesterseminar fernab seines Dorfes zu wechseln, wenn er die Schule gut abschließt, lernt er wie der Teufel. Und er erreicht sein erträumtes Ziel. Dass es im katholischen Internat nicht so traumhaft ist wie gedacht, das lernt er schnell. Und ihm fehlt seine unerfüllte Jugendliebe Marlene sehr.
Die Geschichte wechselt in einem stetigen Rhythmus von Rückblicken auf Kindheit und Jugend von Paul zu den Erlebnissen und Erfahrungen, die Paul in Deutschland macht. Verwoben in diese Geschichten ist auch die Historie der deutschen Einwanderer, des Großvaters Paul, der anderen Großeltern, Tanten und Verwandten und der indigenen Ureinwohner, der Guaraní. Dann gibt es da zum Beispiel den 50 Jahre lang verschollenen Großonkel Archibaldo, der plötzlich wieder auftaucht und beeindruckende Sachen über Deutschland und die Welt berichtet. Der junge Paul saugt alles auf, sein Bild von Deutschland ist blühend und schön, dort will er unbedingt hin, er will unbedingt ein richtiger Deutscher werden. Ob ihm das gelingt, das muss jeder Leser selbst herausfinden, ich möchte hier nicht allzu viele Spoiler hinterlassen, das Buch liest sich spannend und muss es bleiben für jeden, der es beginnt.
Paul wird in Dortmund so einige Überraschungen erleben, er wird erfahren, wer sein Großvater wirklich war und warum er 1935 fluchtartig das Land verließ.
Das Ende des Buches mit seinem „Epiprolog“ hat mich etwas ratlos zurückgelassen. Emma Blum wollte damit wahrscheinlich den Kreis schließen. Ich aber hätte mir eher einen Epilog gewünscht, in dem Paul vielleicht zehn Jahre später zu seinen Eltern nach Brasilien geflogen wäre oder ihnen einen Brief geschrieben hätte oder, oder, oder. Der wunderbare Erzählrhythmus ist mir in diesem letzten Teil verloren gegangen.
Da es sich um viele Einzelpersonen (insbesondere in Brasilien) handelt in diesem Roman, wäre ich über eine Namensliste/eine Familienaufstellung/ein Personenregister oder auch über einen kleinen Stammbaum von Pauls Familie nicht böse gewesen.
Fazit: Wow, was für ein Debüt! Spannend, komisch, traurig, informativ und unterhaltsam, das findet man nicht oft alles in einem einzigen Buch. Ein moderner, gut lesbarer Schreibstil, wunderbar eingearbeitet das „Deitsche“, eine Lebens- und Familiengeschichte, die den Leser in eine ungewohnte Richtung weit über den eigenen Tellerrand blicken lässt. Emma Blum schreibt teilweise lange Sätze, das passt gut hinein in die Gedankenwelt von Paul, der so viel denkt, immer hintereinanderweg. Bei vielen der Protagonisten, die ganz wunderbar charakterisiert sind, man hat das Gefühl, man könnte sie alle sehen oder hören, Emma Blum bringt sie einem wirklich nahe. Sei es der wilde Giovani oder die geheimnisvolle Großmutter, die verrückte Cíntia oder der Bruder Bruno, Felix‘ Mutter genauso wie Frieda Gruber, sie alle wachsen dem Leser einfach ans Herz.
Danke, Emma Blum, für dieses bereichernde und herzerwärmende Debüt.

Bewertung vom 04.05.2023
Traubentod / Elwenfels Bd.5
Habekost, Britta;Habekost, Christian

Traubentod / Elwenfels Bd.5


sehr gut

Die Magie von Elwenfels kriegt auch Mörder klein

Zuerst fiel es mir erstaunlich leicht, in die Geschichte einzutauchen, obwohl das Pfälzische mir als gebürtiger Berlinerin total fremd ist. Es ließ sich alles gut an, begann, wie es sich für einen Krimi gehört, mit einem Mord, einem untergetauchten Ex-Polizisten, ein paar bitterbösen Kriminellen und ein bisschen Liebe, Wein und Tratsch im Dorf.
Dann taucht im abgeschiedenen Elwenfels eine Filmcrew auf, es beginnt ein regelrechter Wettbewerb der Elwenfelser Ureinwohner um die besten Rollen. Das ganz große Kino wird aufgerollt, Freilichtatmosphäre auf dem Marktplatz, „Der Pate“ wird mit Speis‘ und Trank und jeder Menge Sprüche in Mundart garniert.
Aber der Name des Dorfes ließ es mich schon richtig vermuten, hier sind nicht nur pure Krimischreiber und Pfälzer „Dialektiker“ am Werk, nein, hier wird auch die Fantasygemeinde herzlich angesprochen. Der Fantasykrimi nimmt seinen Lauf, mal gemächlich, mal mit Tempo, es fließt jede Menge Zauberwein und man wundert sich, was die Pfalz so alles zu bieten hat.
Es gibt auf jeden Fall eine Menge Charakterstärken im Dorf, ob es nun Willi und Otto sind, die beiden wohlgenährten Beinahehelden, oder der wunderhübsch errötende Dorfpfarrer Karl, seine heimliche Liebste oder das Kuschelduo Carlos und seine Charlotte, jeder hat seine herrlichen Attitüden und Allüren. Vom Filmteam ganz zu schweigen, ein Regisseur, der ständig Contenance bewahren will, ein abgehobener Hauptdarsteller, der kaum klein beigibt, nachdem er sich eine Schelle gefangen hat, und den der Zauberwein dann endlich etwas willenlos macht. Ein Dutzend Ungenannte verzeihen mir!
Die vielen Anspielungen auf Filmepisoden sind amüsant zu lesen, waren mir schließlich dann doch etwas viel. Aber zusätzlich zur Cineastik lernt man auch noch ein bisschen etwas dazu aus der Pfälzer Geschichte, das war ein gutes Pendant zu den Filmzitaten.
Über den kriminellen Verlauf spoilere ich hier nicht, jeder Leser soll seinen Spaß und seine Spannung behalten.
Fazit: Wer es gern satirisch, ironisch, deftig und lustig hat, das Pfälzische gut versteht, ein Prise Fantasy nicht verachtet und auch den Schreibstil mag, der ist in Elwenfels genau richtig.
Gerne vier Sterne. Reimt sich!

Bewertung vom 29.04.2023
Nachts ist man am besten wach
Sanders, Kristina

Nachts ist man am besten wach


sehr gut

Die abwechslungsreiche Geschichte über die Emanzipation von vier Frauen, die auf die eine oder andere Weise in ihrer Gegenwart gefangen sind, hat mir gut gefallen. Vier Frauen treffen sich beim "Club der Schlaflosen", den Hauptperson Sophia initiiert hat, auf Twitter, bald schon auf Zoom und dann im richtigen Leben. Wie es der Zufall will, sind die vier Hamburgerinnen und mehr oder weniger in der Sackgasse ihrer Noch-Beziehungen. Sophia ist zwar mit einem großen Haus gesegnet, aber der Mann ist auf und davon, hat eine 20 Jahre Jüngere und wird gerade Vater. Der Streit um Scheidung, Haus und so weiter ist heftig. Sophia nimmt kurzentschlossen die sich gerade trennende Katharina plus Baby bei sich auf, hinzu kommen im großen Haus dann auch noch Neffe Kilian (gerade frisch geoutet) mit schüchternem Freund. Die anderen beiden Schlaflosen sind Margarete, ewige Mutter erwachsener Söhne und Ehemann, der ein bisschen Eigenleben und Freiraum fehlt, sowie die Kunstgaleristin Klara, der die letzte Beziehung und Trennung immer noch in den Knochen steckt.

Was die vier Frauen erleben, ist abwechslungsreich und teilweise amüsant, macht aber auch nachdenklich. Die Charaktere - auch der weiteren Protagonisten - werden klar gezeichnet, ein jeder lässt sich gut einordnen. Und man muss ja nicht jeden mögen. An Ereignissen aller Art mangelt es im Buch wirklich nicht, es geht immer flott weiter.

Was mich etwas störte, ist der Hang zur grünen Belehrung, das brauche ich nicht in einem Unterhaltungsroman, da berieselt mich schon der ÖRR ausreichend. Umwelt, Klima, Veganismus, LTGB etc., alles musste mit rein ins Buch. Beruhigend fand ich dann doch, dass auch die größten Klimaverteidiger doch noch mit dem Auto fahren.

Fazit: gute Unterhaltung mit kleinen Abstrichen.

Bewertung vom 19.04.2023
Polnischer Abgang
Hoffmann, Mariusz

Polnischer Abgang


ausgezeichnet

Neuanfang im Gelobten Land Deutschland

Den Einstieg ins Buch habe ich mit Leichtigkeit genommen, eine Schreib- und Gedankenwelt, wie man sie von einem 14jährigen aber nicht immer vermutet. Jarek lernte ich schnell kennen, die polnische Familie aus Salesche in Oberschlesien einschließlich der Oma Agnieszka und ein paar Randfiguren inklusive.

Der Ort Salesche (polnisch Zalesie Śląskie) ist ein zweisprachiger Ort, südlich der Autobahn von Breslau nach Kattowitz, rund 40 Kilometer vor Gleiwitz gelegen. Jarek wächst dort in einer für Polen sehr unruhigen Zeit heran, aber in einer sehr ruhigen, abgeschiedenen Gegend. Der Rückblick auf die Erlebnisse des Vaters mit der ZOMO (das war eine kasernierte militärische Sondereinheit, die 1989 aufgelöst wurde) ist drastisch, sie sind ganz offensichtlich ein Grund für den Auswanderungswunsch der Familie. Vielleicht hatte auch Oma Agnieszka einen Anteil an der „Sonderbehandlung“ ihres Sohnes, ein Geheimnis bis fast zum Ende des Buches. Das Verschwinden von Oma Agnieszka löste jedenfalls 1982 einige Verwirrung aus, die Vermutungen gingen von Mord bis Entführung, es stellte sich aber heraus, dass sie still und heimlich ihre Ausreise betrieben hatte. Offenbar war der Opa nicht der liebevollste aller Ehemänner.

Getarnt mit Touristenvisa machen sich Vater, Mutter und Jarek im Sommer 1990 im Auto des Schleppers Hübner jedenfalls auf den Weg ins „Gelobte Land“. Alles ist verschenkt und verkauft, sie haben nur noch das, was in das Auto passt.

Später an der Grenze: das volle Programm, endloser Stau. Dann: alles auspacken! Wie im richtigen Leben, würde ich sagen, wenn ich an die DDR-Grenzer denke.

Von der ersten, sehr ernüchternden Station im Auffanglager Hamm kommt Familie Sobota in die "Zwischenwelt" von Unna-Massen. Ein Aussiedlerlager mit all den Erbärmlichkeiten, die das Zusammenleben auf engstem Raum, mit wildfremden Menschen und jeder Menge Alkohol- und Zigarettendunst so mit sich bringt. Nicht gerade Jareks Traum vom gelobten Land.

Mitbewohnerin Elwira hat es Jarek angetan, es beobachtet ihr Tun und Lassen und ihr Liebesleben mit wachsendem Interesse. Die Eltern hingegen sind ausgiebig mit der deutschen Bürokratie beschäftigt. Und dann lernt Jarek die flotte Biene Monika kennen, aus einer der „besseren“ Aussiedlerfamilien, wie es scheint. Jarek und Monika freunden sich an und haben auf einem Ausflug zum See mit ihrem angelfreudigen Bruder Gregor eine unmenschliche Begegnung der dritten Art, der See ist danach tabu.

Jarek lernt recht schnell auch die Ablehnung der Bürger (jung wie alt) gegenüber den Aussiedlern kennen, kein angenehmes Gefühl, aber er wird sich durchbeißen, Deutsch lernen und sich später aus der Ärmlichkeit befreien. Denn auch nachdem die ersehnten Papiere mit allen Stempeln und Genehmigungen fürs Bleiben da sind, reißen die Probleme nicht ab.

Auch dass Jareks Vater um sein verlorenes „z“ trauert, er heißt nun nur noch Ambrosius, mag einem Polen verständlich sein, für Deutsche sind das „böhmische Dörfer“.

Von Unna-Massen geht es nach Werne, aber noch längst nicht in eine richtige eigene Wohnung, sondern in ein Notquartier, das notdürftig ausgestattet wird mit Sperrmüllmöbeln und ersten selbst gekauften Einrichtungsgegenständen. Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftstoiletten, ein Quartier, das Jarek nur ungern preisgibt oder seinen Freunden zeigen würde. Dort erlebt die Familie ihr erstes Weihnachtsfest. Und wieder ist es das Thema „Oma Agnieszka“, das beinahe die kleine Feier sprengt.

Ich will auf keinen Fall die Pointe der Geschichte verraten, nur eines: Mariusz Hoffmann hat einen bewegenden Roman geschrieben, - sagt man Jugendroman oder Coming-Of-Age-Geschichte? – egal, er hat mir gut gefallen. Eine frische, sehr glaubhafte Sprache, und die Gedanken von Jarek sind jederzeit nachvollziehbar. Er muss sich durchbeißen, es wird ihm nichts geschenkt in diesem Roman, außer Lebenserfahrung und eine wertvolle Freundschaft! Sein Verhältnis zu den Eltern ist glaubhaft, trotz der Unstimmigkeiten um Oma Agnieszka bleiben Liebe und Fürsorge zwischen Eltern und Sohn bestimmend.

Das Buch in der Hand: Besonders gut gefällt mir der Umschlag, wer schon einmal über Polen geflogen ist, kennt den „gestreiften“ Anblick der Felder. Sonnengelb das Hardcover, es hat nicht ganz die Farbe der Titelzeile, aber fast. Innen ist das Buch sehr großzügig, schönes Papier (angenehmes Cremeweiß), eine Schrift, die sich sehr gut lesen lässt. Ich betone das, weil leider nicht alle Bücher so wunderbar gestaltet sind.

Für mich eine sehr bereichernde Lektüre, die ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 02.04.2023
Warum uns Israel fasziniert
Lina Strohmeyer, Anna Müller

Warum uns Israel fasziniert


sehr gut

Israel fasziniert mit voller Kraft

Für mich eine ungewohnte Sichtweise auf Israel: die von 15 religiösen deutschen Christen. Ich habe diese Geschichten mit Interesse und manchmal auch mit Kopfschütteln gelesen, nicht jeder Aussage könnte ich zustimmen, aber eines ist mir klargeworden: mein bisheriger Blick auf Israel war bei Weitem nicht so weit wie die Erkenntnisse, die ich aus diesem Buch erlangt habe.

Wer mit dem Erbe der Holocaustopfer in der eigenen Familie großgeworden ist und den Fokus bei Israel eher auf Yad Vashem legte als auf das Leben und Denken der Menschen dort, wird erstaunt sein über die vielfältigen Fragen und Probleme, mit denen man in Israel konfrontiert wird. Mir war es bisher noch nicht möglich, Israel zu besuchen, aber dieses Buch machte mir tatsächlich klar, es wird Zeit! Ich gehe auf die 70 zu und will es nun doch endlich schaffen.

Einen Beitrag, der mir sehr gefallen hat, nehme ich hier als Beispiel: Doron Schneider schreibt "über ein Volk, das eigentlich nicht existieren sollte". Zitat: "Der moderne Israeli schaut nicht gerne nach hinten auf die tragische Vergangenheit, denn dafür haben wir Gedenktage..." Trotzdem findet man in jedem der 15 Beiträge immer wieder Anknüpfungspunkte an diese Vergangenheit mit dem Namen Holocaust. Ich denke, Israel hat ein gutes Gleichgewicht gefunden zwischen dem Gestern und dem Heute. Meine Hoffnung ist, dass ich ein Quentchen der Chuzpe ererbt habe, von der Doron Schneider berichtet.

Bewertung vom 19.03.2023
Tod in Siebenbürgen / Paul Schwartzmüller ermittelt Bd.1
Werrelmann, Lioba

Tod in Siebenbürgen / Paul Schwartzmüller ermittelt Bd.1


gut

Ich habe mir den Krimi "Tod in Siebenbürgen" als Geschenk gewünscht, weil mir die Annotation und auch die Leseprobe wirklich gut gefallen haben. Noch nie habe ich über Siebenbürgen oder Rumänien ein Buch gelesen und auch die Schriftstellerin Lioba Werrelmann kannte ich bisher nicht.
Man lernt also Paul Schwartzmüller kennen, knapp 50 Jahre alt und freier Journalist, der mit 14 Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland kam. Sein Vater hatte ihn in einer Nacht- und Nebelaktion außer Landes gebracht, danach waren alle Brücken in die Vergangenheit und alle Verbindungen, auch zur geliebten Tante Zinzi, abgerissen. Auch nach dem Ende der Ceaușescu-Ära änderte sich daran nichts. Bis zum Beginn des Romans in der heutigen Zeit weiß Paul auch nicht, dass seine Tante noch lebte. Nun hat sie ihm ihr Haus vererbt und er muss notgedrungen nach Rumänien reisen, um die Formalitäten zu klären. So weit so gut und recht glaubhaft beschrieben.
Dann aber gerät Paul in ein wirklich mysteriöses, an Merkwürdigkeiten kaum zu überbietendes Dorf. Er quartiert sich in "seinem Haus" bei einer eher abschreckend wirkenden Frau Namens Maia ein und erlebt recht Abartiges. Gleich am Beginn trifft er seinen Schulfreund wieder, der als Führer auf der Burg Bran die Leute erschreckt. Als am nächsten Tag ein Mann Namens Günther tot aufgefunden wird, mit dem blutverschmierten Freund Sorin daneben, ist für die Polizei die Sache klar. Sorin landet in Untersuchungshaft und hofft, dass sein alter Freund Paul ihn rettet. Paul aber findet eher Beweise gegen als für seinen Freund und beginnt sich im Dorf bekannt zu machen und umzusehen. Natürlich muss auch dieser Krimi wieder für einen Umweltskandal herhalten, man findet ja heute kaum noch Autoren, die nicht das eine oder andere grüne Thema in die Story einfließen lassen. Nicht ganz mein Interesse. Besonders, wenn es so ekelerregend geschildet wird, wie in diesem Buch. Und die Zigeuner sind es dann auch, die am meisten darunter zu leiden haben.
Paul gerät in recht missliebige Situationen, mal hat er eine tote Fledermaus im Leihwagen, mal liegt eine gepfählte Schaufensterpuppe zur Abschreckung vor seinem Bett, er bekommt auch vergiftete Suppe spendiert, der wirkliche Mörder und Verbrecher hat es ganz offenbar auf ihn abgesehen. Paul aber tappt bis fast zum Ende im Dunklen, hat Schuldgefühle und ständig "eine kalte Hand im Nacken". Ein Zigeunermädchen namens Pušimori entpuppt sich im Laufe der Handlung als äußerst geschickte Hackerin und gibt Paul den einen oder anderen Tipp für seine "Ermittlungen".
Über den Ausgang der Geschichte gebe ich natürlich nichts preis, wen die Story interessiert, der soll auch bis zum Schluss die Spannung behalten.
Mir hat der Stil nicht besonders gut gefallen, immer wieder die Wiederholung von Standardsätzen, die Paul durch den Kopf huschen, die Handlung eher verwirrend, die Protagonisten gewöhnungsbedürftig. Dass Paul durch einen Schnellschuss mit einem Artikel über den Umweltskandal beinahe seine weitere Karriere aufs Spiel setzt, finde ich etwas unglaubwürdig, kein normaler investigativer Journalist wäre bei klarem Verstand so leichtsinnig. Und mit einem Handy einen ellenlangen Artikel in ein Redaktionsnetzwerk zu fummeln, nun ja, wer es glaubt. Das der kluge Deutsche für seine Unternehmungen einen halb toten Kleinwagen mietet, ist auch eher ein Running Gag fürs Buch. Etwas besser sollte man schon recherchieren, was einem für Straßenverhältnisse bevorstehen.
Sollte Paul Schwartzmüller weiter ermitteln, muss er das leider ohne mich tun.

Bewertung vom 12.02.2023
Als Großmutter im Regen tanzte
Teige, Trude

Als Großmutter im Regen tanzte


ausgezeichnet

Schweigen ist so schmerzhaft wie die Wahrheit
Eine junge Frau mit dem hoffnungsvollen und fröhlichen Namen Juni flieht auf eine Insel. Sie hat das Haus ihrer Großeltern, die schon länger tot sind, von ihrer Mutter Lilla geerbt. Juni ist schwanger von ihrem Mann Jahn, der cholerisch und gewalttätig ihr Leben zur Hölle machte, das Kind möchte sie nicht behalten. Juni ist von Selbstzweifeln und Selbstmitleid geplagt, sie versteckt sich nicht nur vor Jahn, sondern auch vor sich selbst. Nun will sie auf der Insel zur Ruhe kommen. Der alte Nachbar Alfred ist ihr eine moralische Stütze, denn er kannte noch ihre Großeltern Tekla und Konrad, natürlich auch Lilla.
Juni beginnt das Haus aufzuräumen und findet verschiedene Dinge, die die Vergangenheit plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ein Foto ihrer Großmutter, an die Juni sich liebevoll erinnert, zeigt Tekla mit dem deutschen Soldaten Otto. Tekla war eine Tyskertøs, ein verachtetes Deutschenmädchen. In zwei unterschiedlichen Zeit- und Erzählebenen erfährt der Leser ihre Geschichte und begleitet Juni auf ihrer Reise in die Vergangenheit.
Doch zuerst hat Jahn ihre Spur gefunden und als sie ihm weder gehorchen noch nach Hause folgen will, schlägt er sie zusammen. Der alte Alfred und ein plötzlich auftauchender Mann namens Georg Alsaker helfen ihr und Jahn wird von der Polizei abgeholt. Nur langsam erholt sich Juni von dem Schock, der neue Nachbar Georg erweist sich als ein einfühlsamer und kluger Freund. Juni erzählt ihm von der Geschichte Teklas und ihrem Verdacht, dass Großvater Konrad wohl nicht der Vater ihrer Mutter Lilla sein würde. Gemeinsam machen sie sich anhand einiger Dokumente auf die Spurensuche. Diese führt sie später auf einer gemeinsamen Reise nach Demmin, woher Otto, der deutsche Soldat auf dem gefundenen Foto, ursprünglich stammte. Parallel zur Spurensuche entwickelt die Autorin auf der zweiten Zeitebene die tragische Lebensgeschichte von Tekla, die mit der Ausreise aus Norwegen und der Heirat eines Deutschen gleichzeitig ihre norwegische Staatsbürgerschaft verliert.
Demmin, 1945 geschah dort Unbeschreibliches, Hunderte Frauen mit ihren Kindern, aber auch Männer, nahmen sich binnen weniger Tage das Leben. Der Einmarsch der Roten Armee, die Vergewaltigungen und Plünderungen durch entmenschlichte Rotarmisten, das Niederbrennen der Stadt, das konnten viele nicht ertragen oder sie hatten Angst, dass es auch ihnen noch geschehen würde. Demmin ist ein humanitäres Unglück, das lange verschwiegen wurde, in der ehemaligen DDR waren Erzählungen dieser Art über die "Freunde" generell unerwünscht und wurden als westliche, feindliche Propaganda abgetan und verfolgt. Selbst mehr als 30 Jahre nach der Wende ist das Wissen über die Geschehnisse immer noch kein Allgemeingut, nur wer sich tatsächlich interessiert, wird in Büchern und Zeitschriften, teils auch im Fernsehen, fündig. Für Juni ist es ein wahrer Schock.
So wird sich herausstellen, dass Otto von Russen erschossen wurde und Lilla bei einer Massenvergewaltigung durch diese Russen entstanden ist. Tekla wird trotz allem ihr Kind bekommen und mit Konrads Hilfe den Weg zurück nach Hause, nach Norwegen finden. Das Schweigen aber wird sie alle, Tekla, Konrad, Lilla und auch Juni immer begleiten. Juni wird bei der weiteren Suche, begleitet von Georg, immer tiefer eindringen in die Familiengeheimnisse und am Ende auch noch das letzte Rätsel ihrer Herkunft lösen können.
Die ersten Kapitel hatten mich etwas ratlos gemacht und irritiert, aber mit Beginn der zweiten Erzählebene um Teklas Lebensweg hat sich das geändert. Es war spannend, ihn zu verfolgen. Die Unbedingtheit des Bruders von Tekla zu erfahren, die sie fast das Leben gekostet hätten, aber auch die Hilfe von Menschen, die selbst wenig oder nichts hatten, zu erleben, das war sehr eindrucksvoll und berührend. Dabei wird auch der Ursprung der Liebe von Tekla zum Tanz im Regen erklärt, was die Geschichte zu einem Ganzen verbindet. Der Roman verheißt ein tröstliches Ende. Vielleicht werden es Juni und Georg sein, die sich mit Liebe, Offenheit und Vertrauen ein neues Leben aufbauen.
Der Roman liest sich gut und schnell findet man sich in die Zeitebenen ein. Die Protagonisten sind so charakterisiert, dass man keine Probleme hat, sich diese als lebendige Menschen vorzustellen. Trude Teige hat ein weiteres Mal bewiesen, dass sie eine hervorragende Menschenkennerin und -beobachterin und eine perfekte Geschichtenerzählerin ist.

Bewertung vom 30.01.2023
Saubere Zeiten (eBook, ePUB)
Wunn, Andreas

Saubere Zeiten (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Aus einer wahren Begebenheit in der Geschichte seiner Familie macht Andreas Wunn einen fulminanten Roman, der sein Alter Ego Jakob Auber auf einer aufregenden, hochemotionalen Reise in die Vergangenheit begleitet.
Jakob ist Ende dreißig, Journalist, frisch getrennter Ehemann, Vater des kleinen Oskar, Ex- und immer mal wieder Freund von Teresa, Sohn von Hans, Enkel von Theodor Auber. All das in seiner Verdichtung schon nicht leicht, schleppt Jakob jede Menge Erinnerungen mit sich herum, die ihn psychisch fordern: der frühe Tod der Mutter, das Aufwachsen als Halbwaise mit einem Vater, der sich mit seiner Trauer ganz in sich selbst zurückzieht und Jakob wenig hilft, den Verlust zu bewältigen. Nun liegt ebendieser Vater nach einem Schlaganfall im Koma, der Sohn reist von Berlin nach Trier, um ihn zu sehen, vielleicht ein letztes Mal mit ihm zu sprechen.
In Trier warten auf Jakob Überraschungen, mit denen er im Leben nicht gerechnet hat. Das letzte Rätsel, das ihm sein Vater hinterlässt, ist ein Zettel mit den Worten „Drempel“ und „Kiste“, die Spur führt in sein altes Kinderzimmer und Jakob glaubt seinen Augen nicht, als er es wiedersieht: ein Archiv aus Ordnern, Bildern, Tonbändern. Der Vater hat ihm sein ganzes Leben hinterlassen, Jakob kämpft sich durch diese Hinterlassenschaften und muss erkennen, dass er von seiner Familiengeschichte, aber auch von seinem eigenen Vater und dessen Problemen kaum etwas wusste.
Der Werbespruch „Auber macht sauber“ war denn auch das Einzige, dass er noch in Erinnerung behalten hatte, wenn es um die Waschmitteldynastie seines Großvaters Theodor Auber ging. Den hatte Jakob noch kennengelernt, er starb, als Jakob acht Jahre war, die Großmutter hatte er noch weit besser in Erinnerung. Und die kühle Atmosphäre, die er zwischen seinem Vater und der Großmutter bemerkte. Nun erfährt er von den Großeltern Dinge, die er vielleicht lieber nicht wüsste. Der Großvater „übernahm“ die Drogerie seines jüdischen Lehrmeisters und Chefs Stein im Jahr 1938, eine Arisierung, über die in der Familie nicht gesprochen wird. Dass nach dem Krieg Bella, Steins Tochter, die als einzige ihrer Familien den Holocaust überlebt hat, bei Theodor Auber Arbeit findet, wird nicht thematisiert. Die Erinnerungen von Hans an diese junge Frau werden erst in den Tonbändern lebendig, die Jakob nun anhört.
Jakobs Vater erwacht nicht mehr aus dem Koma, aber Jakob erfährt von einer merkwürdigen Begebenheit kurz vor der Krankheit des Vaters. Er soll in einem Supermarkt heftig randaliert und ganze Regale mit Waschmittelpulver zerstört haben. Für Jakob unfassbar, warum rief sein Vater immer wieder den Namen „Bella“? An dieser Stelle nimmt der Roman eine neue Wendung, ich möchte anderen Lesern nicht die Spannung verderben, deshalb gibt es hier keinen Spoiler. Nur so viel, es bleibt spannend und interessant bis zum Schluss.
Andreas Wunn hat einen perfekten Stil gefunden für das Hin- und Her dieser Erinnerungen, die gepaart sind mit den Gedanken und Gefühlen, die Jakob überrollen. Das Buch benötigt keine Zeitangaben in Kapitelüberschriften, wer genau und aufmerksam liest, wird über die Zeiten nicht stolpern.
Besonders gut gefallen hat mir die Zeichnung der Charaktere, jeder der männlichen wie weiblichen Protagonisten bleibt mir mit seinen Eigenheiten, seinen unangenehmen Seiten, seinen Liebenswürdigkeiten in Erinnerung. Ja, Großvater Theodor als Oberhaupt der Familie mag unangenehm erscheinen, aber auch er findet bei Jakob seinen Platz, nicht zuletzt, weil sein Vater Hans ihm alles so lebendig erzählt auf seinen Tonbändern. Sehr anrührend fand ich die Passagen, in denen sich Jakob an seine Mutter erinnert, die ihm immer so wunderbar und feenhaft erscheint. Als Pendant dazu wird er die Kindheit und Jugend seines Vaters wie in einem Hörbuch erfahren. All das erzählt und verknüpft Andreas Wunn auf höchst glaubwürdige Weise, es ist nicht nur eine Familiengeschichte geworden, sondern auch eine Geschichte über eine deutsche Familie im 20. Jahrhundert. Die Wahl des Titels "Saubere Zeiten" ist genial, das Cover passt perfekt!
Ein Buch, das sich gut liest, das ich ungern aus der Hand gelegt habe und an das ich mich gern erinnern werde.