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Juma

Bewertungen

Insgesamt 142 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2023
Eigentum (eBook, ePUB)
Haas, Wolf

Eigentum (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Liebevoller Nachruf auf eine glühende Anhängerin der rhetorischen Trias

Wolf Haas, mir eher bekannt durch seine niveauvollen Brenner-Krimis, gedenkt mit diesem Roman seiner Mutter, die mit 95 Jahren in einem Altersheim verstorben ist.
Mit ihren Worten formt er ein so plastisches Bild von ihr und ihrem Leben, von den Umständen und Zeitläuften, dass man das Buch, einmal begonnen, kaum noch aus der Hand legen mag.
Marianne Haas, eine Tochter aus einfachsten Verhältnissen, mit vielen Geschwistern und keiner Chance auf höhere Bildung, entwickelt sich trotz aller Widrigkeiten zu einer lebenstüchtigen, schlauen und hartnäckigen Frau und Mutter. Sie übersteht den Krieg und arbeitet acht Jahre lang in der Schweiz, um ihren Eltern Geld für ein im Bau befindliches Haus senden zu können. Als sie in jenem Haus dann selbst wohnen möchte, bekommt sie die kleinste Stube mit Küche für sich und ihre Familie. Kein Dank, nirgends, kein Geld, keine Freude.
Haas erinnert sich in diesem Roman also an alles und jedes, was seine Mutter, mit bemerkenswerter Vehemenz und Energie, von sich gegeben hat und wie er es damals und heute bewertet. Gut kann ich mir vorstellen, wie er und sein Bruder das eine oder andere Mal die Augen verdrehten oder das Weite suchten, wenn die Tiraden der Mutter auf sie niedergingen.
Obwohl man beim Lesen ja weiß, dass die Mutter sterben wird, das sagt Haas gleich zu Beginn, ist es kein trauriges Buch, es macht nachdenklich, aber immer wieder musste ich schmunzeln, laut auflachen und manchen Satz zur Erbauung gleich ein zweites Mal lesen. Genau: Lesen lesen lesen – sparen sparen sparen – schreiben schreiben schreiben… Wolf Haas hat es mit dem Denken denken denken, an einer Stelle im Buch beantragt sein Hirn Sabbatical. Ich kann das verstehen, wenn es immer nur denkt, braucht es auch mal Ruhe, selbst wenn es einem Wolf Haas gehört. Und Niedergeschlagenheit findet keinen Platz, egal wie trüb die Aussichten sind.
Mir hat dieser Roman sehr gefallen, besonders die im österreichisch gefärbten Dialekt geschriebenen Gespräche mit der Mutter, ihre Erinnerungen, zeugen von viel Liebe und Warmherzigkeit.
„Bist bes auf mi, Mutti?“ – „Des hättma, finito, Ende der Diskussion."
Ich kann dieses Buch sehr empfehlen.

Bewertung vom 21.09.2023
Die Freiheit so nah
Kästner, A. A.

Die Freiheit so nah


sehr gut

So viele zerstörte Träume, so viel Hoffnung
Die Literatur, die Schriftsteller, die Sachbuchautoren, viele beschäftigen sich mit der Geschichte, ich lese viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, aber die Thematik, die uns heute zeitlich sehr viel näher liegt, die kommt noch sehr selten vor in Romanen. Die begrenzte Zeit der DDR von 1949 bis 1989 aber ist mit all ihren Merkwürdigkeiten, mit der für die dort lebenden Menschen einengenden und freiheitsfeindlichen Politik noch immer ein recht blinder Fleck. Umso mehr wollte ich dieses Buch unbedingt lesen, denn ich habe meine Kindheit und Jugend bis hin zum 35. Lebensjahr in Ostberlin erlebt. Ich kenne den „real existierenden Sozialismus“ und ich habe die Diktatur der Arbeiterklasse erlebt. Nicht alle Rückblicke erscheinen mir da im goldenen Licht.
Ich dachte, ich würde dieses Buch schnell durchlesen können, aber im Gegenteil, ich blieb immer wieder stecken, nicht weil ich es nicht mochte, sondern weil jede Seite bei mir Gedanken, Erinnerungen, Wehmut, Erschütterung getriggert hat. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, die absonderlichsten Momente fielen mir ein. Und ich dachte an die Menschen, die vielleicht durch meinen Vater, der KGB- und Stasimann war, gelitten haben oder geschädigt wurden. Ich wuchs ohne diesen Vater auf, erst 2011 begann ich, sein Leben zu erforschen, seine Biografie zu schreiben und auch seine Stasiakten einzusehen, aber das macht das Denken darüber nicht leichter.
So durchlitt ich mit Kay all die Jahre, all seine Niederlagen und Hoffnungen, seine Ausreise, seinen Neuanfang. Wie furchtbar die Entdeckung des Verräters in den eigenen Reihen ist, das kann ich nicht wissen, mir ist so etwas nie passiert, aber es ist auch so, dass ich nicht alles weiß und nun auch nicht mehr wissen will. Genau an diesem Punkt beginnt auch das Schwanken, ist es besser, alles zu erfahren oder lässt man manches lieber ruhen? Ich jedenfalls war froh, dass die Mauer fiel, auch wenn die ersten Jahre danach ein großes inneres Chaos auslösten. Alles wurde anders, am Ende kann ich sagen, alles wurde besser. Ich habe das Gefühl, auch Kay könnte diese Gedanken gehabt haben.
Dass dieses Buch überhaupt entstanden ist, empfinde ich als echtes Geschenk. Es gibt so viele Menschen, die über die DDR-Zeit nichts wissen oder nur oberflächlich damit in Berührung kamen. Hier haben sie Gelegenheit, recht nah an die Wirklichkeit heranzukommen. Und damit meine ich nicht nur junge Leute, die in den Achtzigern oder noch später geboren wurden. Nein, auch die Menschen, die im Wirtschaftswunderland BRD großwurden, haben oft nur rudimentäre Vorstellungen vom Leben in der DDR.
Ich wünsche dem Buch Erfolg und danke der Autorin und ihrem Kay für diese mühevolle und sicher auch schmerzliche Erinnerungsarbeit. Die indische Reisegruppe wird mir in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 30.08.2023
Mama Odessa (MP3-Download)
Biller, Maxim

Mama Odessa (MP3-Download)


ausgezeichnet

Was wäre die deutsche Buchwelt ohne Maxim Biller? Da würde mir viel fehlen, über Biller kann ich gleichzeitig lachen und weinen. Genial.
Gelesen wird dieses Hörbuch vom Schauspieler Jens Harzer, dem der Text auf den Leib geschrieben scheint. Jede Szene ist authentisch, leicht ironisch und einfühlsam gespielt. Mehr kann man von einem Hörbuchsprecher nicht verlangen.
Maxim Biller beschreibt eine Jugend in Hamburg, die (s)eine/Mischas Emigrantenfamilie, erlebt. Etwas makaber wird das Ganze, wenn er über die neue Frau seines Vaters als "Nazihure" berichtet, aber das sind offenbar Mischas Eindrücke, unverfälscht und heftig. Die Mutter hingegen ist Mama Odessa in Reinkultur. Später, wenn Mischa erwachsen wird, lauern andere Fallstricke, die enge Bindung an die Mutter aber bleibt ein Leben lang.
Es ist wohl einiges autobiographisch im Buch, aber es ist keine Autobiographie von Biller. Mit dieser hat er wohl vorerst abgeschlossen, aber die Emigrantenthematik und Hamburg bleiben dem Leser erhalten.
Ich bin froh, dass Biller seine Drohung, nach dem Beginn des Ukrainekrieges nun nicht mehr schriftstellerisch tätig zu sein, nicht wahrgemacht hat. Es wäre sehr schade. Wobei der Buchtitel Mama Odessa mit dem jetzigen Geschehen dort nichts gemein hat, aber es geht einem eben nicht aus dem Kopf.
Absolute Hörempfehlung!

Bewertung vom 26.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

Eine glaubhafte Familiengeschichte
Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt sie einen Roman mit gänzlich anderen Vorzeichen: Erzählt wird eine glaubhafte, beinahe doch unglaubliche Familiengeschichte, sehr empathisch und mitreißend. Der Leser hat beinahe das Gefühl, selbst im Uraltauto der Protagonistin Silvia zu sitzen, bloß weg aus Berlin, bloß weg von der WG, bloß weg von den Männern. Und das mit der Aussicht, ihr Baby der ahnungslosen Großmutter zu präsentieren und möglichst für sich und das Kind einen Unterschlupf zu finden. Dass da zuerst im provinziellen Heimatort nicht gerade die Empfangsfanfaren geblasen werden, kann man sich gut vorstellen. Die plötzliche Großmutter Evelyn hat auch ihr Päckchen zu tragen und es dauert eine Weile, bis sich Mutter und Tochter einander annähern. Dass das süße Baby Hannah daran auch seinen Anteil hat, kann der Leser live miterleben.
Natürlich geht auch dieser Roman in der Handlung rückwärts und vorwärts, in Berlin fällt die Mauer und es ereignen sich einige unerwartete Dinge, die Silvia an ihrer Entscheidung, zur Mutter zu ziehen doch manchmal zweifeln lassen.
Mir hat dieses Buch ausnehmend gut gefallen und es hat mich gut unterhalten. Das Cover ist wunderschön und verleitet sofort zum Kaufen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.08.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


ausgezeichnet

Ein „normales“ Schicksal, das einzigartig erzählt wird
Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.
Er nimmt sich der Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer Brüder und Schwester mit großer Herzenswärme an, um dieses persönliche Schicksal herum gelingt ihm eine komprimierte Abhandlung über das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit. Gut lesbarer Geschichtsunterricht, der an viele Ereignisse erinnert, die Geschichtsinteressierten natürlich bekannt sind, die sich aber gut in diesen privaten Rahmen fügen. Gerade auch die regionalen Ereignisse, die mir nicht geläufig waren, sind eine interessante Ergänzung von Aennes Geschichte.
Der kleine katholische Ort Wellingholzhausen wird sehr anschaulich beschrieben, wie auch seine Bewohner und die knorrige Lebensart, die sich auch in einem schwer verständlichen Dialekt ausdrückt. Zum Glück ahnt Beckmann, dass nicht alle Leser den sofort verstehen und schiebt immer wieder Erklärungen oder Übersetzungen nach.
Die Ambivalenz, dass meine Eltern zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, mein Großvater in Auschwitz ermordet wurde, lässt sich nicht einfach verdrängen. Das Buch von Beckmann ließ mich lange darüber nachdenken, weil es einfach nicht möglich ist, sich aus der heutigen Position in die Lage der Menschen zu versetzen, die Hitler an die Macht kommen, ihn unterstützten und ihn seine Macht bis zum bitteren Ende auskosten ließen. Aber auch diese Menschen haben teuer bezahlt.
Aenne hat das Pech, als Mädchen auf dem Lande aufzuwachsen, ohne jede Hoffnung, dem dort normalen Lebensweg entgehen zu können. Keine höhere Schulbildung, keine Berufsausbildung, dafür aber eine recht herrische Stiefmutter und dann nach der Schulzeit „in Stellung“ bei Bauern. Kein Zuckerschlecken für eine Vierzehnjährige. Aber sie entzieht sich dem Diktat der Stiefeltern und beginnt mit 18 Jahren tatsächlich einen neuen Lebensabschnitt, zumindest einige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Aber da beginnen auch schon die letzten Kriegsvorbereitungen, der Stiefvater wird eingezogen, die drei älteren Brüder ziehen einer nach dem anderen in den Krieg.
Schon der Klappentext nimmt den Verlauf von Aennes Lebensgeschichte vorweg, die Brüder fallen alle vier. Und doch hat Aenne nicht der Lebensmut verlassen. Dass sie später ihrem Sohn von ihrer Kindheit und Jugend, der Familie, den Geschwistern und Stiefeltern so ausführlich berichtet, ist eine echte Seltenheit. Reinhold Beckmann packt die Gelegenheit beim Schopf, als er von seiner sterbenden Mutter dann die Feldpostbriefe der Brüder erhält. Diese tragischen Zeugnisse des unsinnigen Sterbens einer ganzen Generation sind kaum zu ertragen. Furchtbar sind die Gewissheiten wie die Ungewissheiten.
Beckmann startet mit dem Schreiben zwei Tage vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Auf Seite 208 wird in einer Divisionschronik (Alfons‘ 60. Infanteriedivision) von dem Schrecken berichtet, „dass die russische Führung keinerlei Scheu vor den größten Menschenopfern hat. (…) Der Wert eines Menschen spielt nicht die geringste Rolle, …“ Ich sehe beim derzeitigen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, keinerlei Unterschiede zur stalinistischen Einstellung im Zweiten Weltkrieg. Russland hat eben immer noch ein riesiges Potential an „Menschenmaterial“, wenn die Waffen nicht mehr reichen, schicken sie eben noch mehr Soldaten. Dieses Wissen ist entsetzlich. In seiner Jugend war Beckmann Wehrdienstverweigerer, leider schreibt er nicht, wie er jetzt angesichts dieses nun schon 1 ½ Jahre dauernden brutalen Kriegs zum Pazifismus steht.
Das Buch ist sehr ansprechend und dezent gestaltet, der Bildteil bringt einem Aenne und ihre Familien sehr nah.
Fazit: Beckmann macht aus der Geschichte seiner Mutter und den Briefen ein absolut faszinierendes Buch, es liest sich wunderbar, der Schreibstil hat nichts „Journalistisches“, es ist wie ein Roman, der mit Briefen und historischen Informationen (die überhaupt nicht trocken daherkommen) erweitert wird. Ich empfinde dieses Buch als eine große Bereicherung und als ein absolutes Antikriegsbuch, das gut neben Remarques „Im Westen nichts Neues“ seinen Platz finden kann. Mir hat die Art des Schreibens sehr gefallen. Das Lied für die vier Brüder setzt einen emotionalen Schlusspunkt, man sollte es sich unbedingt anhören. Das schön gestaltete Buch verdient zudem mindestens einen der von mir vergebenen fünf Sterne.
Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 23.08.2023
Geschwister im Gegenlicht (eBook, ePUB)
Bode, Sabine

Geschwister im Gegenlicht (eBook, ePUB)


gut

Endlich das Familienschweigen brechen

Die Autorin Sabine Bode ist mir durch ihre Bücher seit vielen Jahren vertraut, sie hat sich mit der German Angst ebenso intensiv beschäftigt, wie mit den Traumata von Kriegskindern, -enkeln und der Bewältigung der (als Trauma) existierenden Schuld in Familien. Das aus der jahrelangen Beschäftigung mit dieser Problematik und aus den vielen, intensiven Recherchen einmal ein Roman entstehen würde, empfinde ich als logische Entwicklung.
Der Roman wird von der Hauptperson Sonja Sänkel erzählt, der SS-Sonja, wie sie in der Kindheit und Jugend genannt und gehänselt wurde. Sonja, nun Mitte 60, pensionierte und verwitwete Lehrerin, versucht, dem Berliner Alltag zu entkommen und zieht sich in ein kleines Ostseebad zurück. Die Rückzugsruhe endet abrupt, weil ihr Bruder Rolf mit der halbwüchsigen Tochter Nina bei ihr Unterschlupf und Halt suchen. Konflikte brechen auf, der Rückblick in die Kindheit und Jugend der beiden Geschwister und auf ihre übergriffigen Eltern verdunkelt die gemeinsamen Stunden. Die unausgesprochenen Konflikte mit der Nazivergangenheit wie auch mit der unveränderten Nazihaltung der Eltern bilden den Hintergrund der Gedanken und später auch der Gespräche der Geschwister. Nichts war bis dato offen ausgesprochen worden, nun, mit Mitte, Ende 60 kommen beide an ihre Grenzen. Und sie kommen sich endlich näher, als sie es als Kinder je waren. Wie sie das Dilemma lösen, das beschreibt der Roman in teilweise recht verwirrenden Rückblicken, es wird keine chronologische Geschichte erzählt, der Roman entsteht aus vielen, ineinander verschachtelten Versatzstücken. Erinnerungssplitter an Kindheit, Jugend, Ehe, Psychiatrieaufenthalte, Gespräche, Ereignisse wechseln sich ab und ergeben einen Blick wie in einen zersprungenen Spiegel. Für die Schilderungen der gewalttätigen und verbal ausfallenden Eltern braucht der Leser schon recht gute Nerven. Dass die Geschwister das Verhalten der Eltern gegenseitig nie besprochen haben, sondern beide so schnell es ging als junge Erwachsene die elterliche Wohnung verließen und jahrelang keinen Kontakt hatten, ist sehr traurig. Ob ihnen im Alter die anstrengende Spurensuche weiterhilft, lasse ich an dieser Stelle offen. Das muss jeder Leser selbst erfahren in diesem nervenaufreibenden Buch.
Die Entwicklung der jungen Nina bildet einen zweiten Erzählstrang, der die verfahrene Situation der Geschwister vielleicht etwas entschärfen und auflockern soll, ich empfand ihn als nicht notwendig für die Geschichte. Aber am Ende hatte ich das Gefühl, Nina war das Ventil für den Überdruck, den die Autorin in diesem Buch entstehen ließ.
Fazit: eine zutiefst emotionale Geschichte, die mein Innerstes aber trotzdem nicht ganz erreichen konnte. Die Eltern, die auch der Emotions- und Herzlosigkeit angeklagt werden, blieben mir fremd, die Geschwister leider auch. Trotzdem kann ich das Buch empfehlen, es beleuchtet auf ungewöhnliche Weise die deutsche Vergangenheit und Gegenwart.

#GeschwisterimGegenlicht #NetGalleyDE

Bewertung vom 21.08.2023
Valentinstag (eBook, ePUB)
Ford, Richard

Valentinstag (eBook, ePUB)


sehr gut

Ans Ende kommen ist schwer
Richard Ford, einer der großen amerikanischen Schriftsteller des 20. Und 21. Jahrhunderts scheint mit „Valentinstag“ der Romanserie um sein Alter Ego Frank Boscombe tatsächlich ein Ende setzen zu wollen. Dass er es dem einst leichtfüßigen Protagonisten im hohen Alter so schwer macht, hätte ich nicht gedacht. Der nun mittlerweile über 70jährige Frank, der sich von seinem Seniorendasein in einen Job bei den Hausflüsterern, einer Immobilienfirma mit besonderem Anspruch, als Teilzeitangestellter flüchtet, muss mit einer tragischen Tatsache zurechtkommen. Meine Überschrift ist ein Zitat aus diesem Buch.
Nachdem seine Ex-Frau ebenso verstorben ist wie sein erster Sohn, bekommt nun Franks Sohn Paul die Diagnose ALS. Der Roman beginnt mit Rückblicken, mit Gedanken übers Glücklichsein, mit der Erinnerung an seine Mutter und mit der Behandlung Pauls an einer Mayo-Klinik. Dass die Behandlung von ALS, einer Krankheit, die das gesamte Nervensystem „auffrisst“, nur erleichternden und aufschiebenden Charakter hat, das weiß jeder, die Ärzte, Frank, Paul, auch seine Schwester und natürlich jeder Leser. So werden die kommenden Kapitel eine tour de Force für Frank und Paul. Schon ein misslungener Kinobesuch gerät zu einer anstrengenden Tortur, dann beschließt Frank, mit Paul zum Mount Rushmore zu reisen. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist das Glück. Wie die beiden das hinbekommen, lasse ich selbstverständlich offen, aber eines kann ich schreiben, es wird von Seite zu Seite spannender.
Dass sich ein Buch über ALS nicht gerade als leichte Lektüre entpuppt, wird wohl jeder akzeptieren, besonders die Ford-Fans finden in diesem Buch sicher dutzende Aha-Momente, die sich auf Franks und Pauls Vergangenheit beziehen.
Dem Übersetzer Frank Heibert ist ein Kunststück gelungen, die Übersetzung liest sich meiner Meinung nach sogar besser als das Original. Das heißt „Be mine“ und ist schon seit Juni 2023 erhältlich, so auch die recht lange Leseprobe (10 %), die ich nach dem deutschen Buch auch noch gelesen habe. Auch der Titel „Valentinstag“ ist passend gewählt. Heibert hat diesem Buch ein einfühlsames Nachwort gewidmet und auch einige Anmerkungen zu amerikanischen, dem deutschen Leser nicht unbedingt geläufigen Details verfasst. Eigentlich schade, dass diese nicht im laufenden Text mit einer Fußnotennummer versehen sind. Nicht jeder liest zuerst am Ende des Buches das Nachwort, gerade beim gedruckten Buch ist das nachträglich Auffinden der Textstellen, die zu den Anmerkungen passen, nicht so leicht wie in einem e-Book.
Fazit: Richard Fords Schreibstil wird für Ford-Neueinsteiger zuerst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen, aber ich denke, dass sich das Weiterlesen unbedingt lohnt. Für mich gewöhnungsbedürftig war in erster Linie die sehr naturalistische Art, mit der Frank als Vater über seinen schon von der Krankheit schwer gezeichneten Sohn erzählt. Aufgehoben wird das aber vielfach durch ironische Bemerkungen, mit denen der Autor versucht, das Gleichgewicht zwischen Tragik und Komik wieder herzustellen. Die Ironie hat in diesem Buch eindeutig die Oberhand.
Klare Leseempfehlung!

#Valentinstag #NetGalleyDE

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2023
Kornblumenzeit
Wernicke, Simona

Kornblumenzeit


ausgezeichnet

Sag mir, wo die Blumen sind…
Dieses Lied von Pete Seeger, in der deutschen Version gesungen von Marlene Dietrich, fiel mir ein, als ich über dieses Buch nachdachte. Es entsprach genau meiner Gefühlsverfassung, die dieser Debütroman von Simone Wernicke bei mir hinterlassen hat. Mit ihrem Erstlingswerk muss sich die Autorin nicht verstecken, bei mir im Regal wird es seinen Platz finden zwischen all den Büchern, die ich in den letzten zwei Jahren über Krieg, Flucht, Vertreibung und unendlichen Schmerz gelesen habe. Ich erinnere mich an Christiane Hoffmanns „Alles, was wir nicht erinnern“, Susanne Bendas „Dein Schweigen, Vater“ oder Olaf Müllers „Der Himmel meiner Mutter“, auch Sachbücher wie „Das Wolfsmädchen“ von Christian Hardinghaus und „Flucht“ von Andreas Kossert stehen bei mir. Wer sich mit dieser Thematik näher befasst, wird auch Arno Surminskis Ostpreußen-Bücher kennen. Simona Wernicke gehört für mich ab sofort zu den Autoren, die mir und meiner Seele am nächsten kamen.
Der Umschlags- und der Annotationstext geben eine kurze Inhaltsangabe, erzählt wird in diesem Buch die Familiengeschichte der Kühnapfels von 1928 bis in die Nachkriegszeit. Was für mich den Roman so besonders macht, ist der erste Teil mit den ausführlichen Schilderungen der Lebensbedingungen, wie sich im kleinen Ort Locken in Ostpreußen eine Familie bildet und zusammenwächst, wie es im Haus und auf dem Hof aussieht, welche Anstrengungen nötig sind, um jedes Jahr wieder die Ernte einzufahren, wie zum Jahresende dann doch alle wieder glücklich in der warmen Stube Weihnachten feiern. Dieses ganz normale, harte, trotzdem schöne ostpreußische Leben wird wunderbar erzählt. Die Dialoge sind lebensecht und machen einen großen Teil der Authentizität dieses Buches aus. Der Leser lernt neue Begriffe, weiß bald, dass der raue ostpreußische Charakter eine ganz eigene, von vielen liebevollen Diminutiven durchwobene Sprache benutzt und die Generationen einen enormen Zusammenhalt pflegen. Dass dieses ostpreußische Land auch noch in den 1930er Jahren in vielem rückständig und unterentwickelt ist, ich denke nur an die Torftoilette unter der Treppe der Kühnapfels oder die erst spät ins Haus verlegten Wasser- und Stromversorgungen, das ist uns als heutigem Leser so fremd wie der Mond.
Die Familie aber wächst und wächst, im Hintergrund wächst der Nationalsozialismus heran. Die Kühnapfels ahnen, dass die politische Entwicklung und der Kriegsbeginn Folgen auch für ihre Familie haben werden. Das wird im zweiten Teil dieses Buches so entsetzlich realistisch geschildert, dass einem der Atem stockt. Ich werde hier auf diesen zweiten Teil nicht eingehen, einerseits denke ich, dass die meisten Leser ahnen, was ab 1945 auch dieser Familie nicht erspart bleibt, andererseits soll auch durch Spoilern kein Leser vom Weiterlesen abgehalten werden.
Gekürzte Rezension!
Zum Schluss erzählt Simona Wernicke dann in ihrem Epilog noch über das Leben ihrer Familienmitglieder bis in die heutige Zeit. Ein schöner, wenn auch teilweise trauriger Abschluss. Dass sie mit ihrem Vater über all die Ereignisse, die im Buch so lebensnah beschrieben werden, auch sprechen konnte, mit ihm Locken besucht hat und so die Familiengeschichten und -traditionen erhält, finde ich das Schönste und Bewundernswerteste an diesem Buch. Danke, Simona Wernicke!
Fazit: für mich ein außergewöhnliches und trotz der schmerzvollen Geschehnisse wunderbares Buch, ich möchte es nicht mehr missen und empfehle es uneingeschränkt weiter.

Bewertung vom 04.08.2023
Porträt auf grüner Wandfarbe (MP3-Download)
Sandmann, Elisabeth

Porträt auf grüner Wandfarbe (MP3-Download)


sehr gut

Verschwiegene Familiengeheimnisse
Der Roman beginnt Anfang der 1990er Jahre, die Mauer ist gefallen und so wird einiges einfacher im Leben der Menschen, die in Ost und West Verwandte haben. Die Hauptperson Gwen hat eine weit verzweigte Familie, deutsche Wurzeln, jüdische Wurzeln, sie lebt in London und auch ihr alter Onkel Theo, zu dem sie eine liebevolle Beziehung hat, ist in der Nähe, in Oxford. Durch einen Anruf ihrer Tante Lily und die Einladung zu einer Reise nach Berlin und in die „alte Heimat“ in Polen beginnt Gwen erstmals, sich intensiv mit der Familiengeschichte zu beschäftigen.
Gwens Mutter Marga ist lange verstorben, sie kann nicht mehr befragt werden. So beginnt Gwen auf eigene Faust, in ihrer Familiengeschichte zu graben, dabei taucht auch Ella auf, die „Ziehmutter“ von Marga. Und mit Ella viele Briefe, Erinnerungen und Ungereimtheiten. Ellas Geschichte bildet im Roman einen ganz eigenen Erzählstrang, der aber immer wieder zu Gwens Familie führt.
Gwen hat das Gefühl, es gibt zu viele Geheimnisse, zu viel Schuld und Scham, aber sie sucht immer weiter. Sie begibt sich tatsächlich auf die Reise nach Ostberlin und nach Polen gemeinsam mit ihrer Tante Lily. Zum Glück fährt auch noch Laura, Gwens Freundin mit, so dass sich ab und an regelrechte Urlaubsstimmung ergibt. Aber es wird eine Reise in die Vergangenheit mit einigen aufregenden Erlebnissen und Überraschungen. Gwen wird am Ende um einiges klüger sein und manches in einem anderen Licht betrachten.
Wie in vielen Geschichten dieser Art – das trifft nicht nur auf Literatur, sondern auch auf das reale Leben zu – ist das Verschweigen bestimmter Ereignisse ein ganz zentraler Punkt. Daraus entwickeln sich Fehleinschätzungen, Feindseligkeiten, Ängste, Depressionen und manchmal sogar Suizide. Auch in diesem Roman ist jeder der Protagonisten, egal ob noch lebend oder schon verstorben, mit diesem Problem des Verschweigens belastet.
Mir hat im Hörbuch ein gezeichneter Stammbaum der Familie gefehlt (im Buch wäre er natürlich auch passend), beim Hören war es teilweise schwierig, die Verästelungen nachzuvollziehen und die vielen Personen einzuordnen. Ich habe deshalb vom Hörbuch zwischenzeitlich zum Buch gewechselt, gerade am Anfang waren dadurch die familiären Verbindungen besser zu verstehen. Im Laufe der Geschichte wurde es dann einfacher, weil die Protagonisten dem Leser dann ja vertrauter waren.
Elisabeth Günther liest das lange Hörbuch ganz wunderbar, auch die unterschiedlichen Charaktere werden von ihr sehr lebensecht dargestellt, das ist eine tolle Leistung. Insbesondere die Großmutter Ilsa, mit einem herrlich überheblichen österreichischen Charme gesegnet, ist ein Vergnügen.
Mir hat dieses Buch sehr gefallen, ich empfehle es gern weiter, auch wenn es sich an manchen Stellen eher wie ein Unterhaltungsroman liest, sind die familiengeschichtlichen und historischen Teile sehr einfühlsam und nachvollziehbar. Einzig die Wahl des Titels hat mich doch etwas verwirrt, erst am Ende wird sie verständlich.

Bewertung vom 22.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


sehr gut

Tiefe, schmerzliche Einblicke in ein fremdes Leben

Doris Knecht kenne ich von ihren Romanen Die Nachricht und Gruber geht, gerade las ich, dass ihr Roman Wald verfilmt wurde, also eine nicht ganz unbekannte österreichische Autorin in Norddeutschland, deren neuer Roman jetzt im Sommer 2023 herausgebracht wird. Mich hat nicht nur ihr Name, sondern auch der Titel angezogen, ich war gespannt, was eine Frau so alles vergessen kann.
Ja, die Protagonistin dieses Romans vergisst viel über die Jahre, aber eigentlich ist es das Viele, an das sie sich fortwährend erinnert fühlt. Sie ist Mitte 50, die beiden Kinder (Zwillinge, Max und Mila) ziehen aus und sie macht aus der Not eine Tugend und zieht in ihre kleine, ehemalige sogenannte (Schreib-)Werkstatt. Dass sie aus der Tochter Luzi kurzerhand einen Max macht, weil Luzi nicht im Buch auftauchen will, ist ein sehr gekonnter Kunstgriff. Max lässt sich als der sensible Junge offensichtlich besser beschreiben als eine widerspenstige Tochter.
Ich will hier nicht aufzählen, was man als Frau im Laufe der Zeit so alles vergessen kann, aber einige Ideen sind schon zum Lachen, Sonnenbrillen, die gleich mehrfach verloren gehen, ebenso wie die Farbe der Teppiche oder die echten Erinnerungen an die Kinder, als sie klein waren. Doris Knecht beschreibt also nicht nur ihre materiellen, sondern auch ihre ideellen Verluste, bisweilen für meinen Geschmack etwas zu ausführlich, aber sie fängt sich immer wieder selbst ein. Beginnt mit einer neuen Überschrift einen neuen Gedanken.
Eine der schönsten Szenen spielt im Kapitel Spinnweben, die alten Eltern (die aufgebrezelte Mutter würde hier wohl das Jugendrennen gewinnen) besuchen die neue Miniwohnung und versuchen sich am Auseinandernehmen der Backofentür, in der die Mutter Spinnweben entdeckt. Wunderbar, weil so vollkommen realistisch. Trotzdem liebevoll.
Wenn Max und Mila zu Besuch sind, ist da immer etwas Hintergründiges, ich glaube, Max trifft den Seelenzustand seiner Mutter genau, als er meint, sie könne wenigstens verbergen, dass sie sich freut, wenn sie wieder allein ist und ihre Ruhe hat.
Ja, dann ist da auch noch ein Hund, an dem die beiden Kinder wohl noch mehr hängen als an der Mutter. Der fährt nicht gerne Auto. aber das ist schon wieder eine andere Story.
Mit hat dieser Roman trotzdem nur teilweise sehr gut gefallen, was mich etwas gestört hat, waren die unzähligen Jammersätze, dass die große Wohnung zu teuer wäre und nun keine schöne, neue, bezahlbare mehr zu finden sei. Da spürte ich plötzlich, dass Österreich doch gar nicht so weit weg von Deutschland ist, zumindest mental, wenn man so dem ÖRR da wie dort zuhört, wo solche Jammerorgien an der Tagesordnung sind. Immerhin hat ja die jammernde Hauptperson noch ein Häuschen, das sie nun mit dem Hund im Schlepptau anpeilen kann.
Fazit: Eine Lebensgeschichte, die dem Leser eine Frau nahebringt, die nicht mehr jung, noch nicht alt, alleinstehend, und doch nicht allein ist. Sie hat ihre Kinder in der Nähe, sie hat einen Hund, sie hat Arbeit, sie hat Freunde, sie hat sich selbst, ihre Erinnerungen und alles das, was sie meinte, vergessen zu haben, das hat sie auch noch. Kein Grund zum Traurigsein, auch wenn man mitunter ein bisschen Mitleid mit ihr verspürt.