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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 07.04.2021
Gefangen und frei
Sheff, David

Gefangen und frei


ausgezeichnet

Transformation von Leiden
Seit über 30 Jahren ist Jarvis Jay Masters kein freier Mann mehr, sondern ein Gefangener in San Quentin, der teils in langer Isolationshaft sowie im Todestrakt auf die Vollstreckung seiner Todesstrafe wartet – zu Unrecht am Tod eines Gefängniswärters verurteilt. Knallharter Gefängnisalltag, Traumata aus seiner dramatischen Kindheit, immer wieder verlorene Gerichtstermine und die Aussicht, nie mehr frei zu sein, quälen sein Innerstes: Zorn, Wut, Verzweiflung, Panikattacken und Depressionen scheinen ihn aufzufressen.

Doch er lernt die richtigen Leute kennen, die auf seiner Seite stehen und ihn zur Meditation und Achtsamkeit animieren. Erst entsetzt, was diese für Gefühlskapriolen und Ängste bei ihm freisetzen, trainiert er Meditation bald jeden Tag und erfährt durch die tiefe Freundschaft mit der bekannten buddhistischen Nonne Pema Chödrön noch stärkere Einblicke in die buddhistischen Lehren und Meditationserfahrungen. Auch durch den berühmten tibetischen Lama Rinpoche wird er eine Transformation zum Bodhisattva durchlaufen – ein Krieger, der an einem Ort des Leidens für die Überwindung des Leidens sorgt. Masters hilft seinen gepeinigten Mitgefangenen, gibt Unterricht, schreibt Bücher und Briefe und hilft Menschen, ihre Seelenqualen weitestgehend zu überstehen. Auf eine Berufung seines Urteils wird er trotz mehreren Verhandlungen vergeblich warten – doch er hat gelernt, sich trotz aller Gefangenheit und Widrigkeiten, im Inneren wie ein freier Mensch zu fühlen.

David Sheff zeichnet Masters’ Leben und Transformation ohne Kitsch nach, sondern setzt das Mosaik seines Lebens recht nüchtern, aber sehr bewegend zusammen. Zahlreiche Treffen und Veröffentlichungen haben ihn dazu veranlasst, Masters mutigen und hoffnungsvollen Weg aufzuzeigen, der jedem Leser etwas für das eigene Leben mitgeben kann. Die Überwindung von Leid ist kapitelweise durch die Vier Edlen Wahrheiten untergliedert, was präzise auf Masters Weg zugeschnitten ist: Immer wieder gibt es Passagen über seine schwere Kindheit, dann wiederum der gewaltvolle Gefängnisalltag, desillusionierende Gerichtstermine und das wiederholte Aufrappeln durch Meditation nach Rückschlägen, damit das Leiden Masters nicht auffrisst.

Besonders die Gespräche mit Pema Chödrön sind tiefberührend und augenöffnend, wie wir generell mit starken Gefühlen und schwierigen Situationen umgehen – von ihr möchte ich auf jeden Fall noch mehr lesen, aber es finden sich noch weitere Anknüpfungspunkte im Buch, die ein Leben auch außerhalb eines Gefängnisses bereichern können. Denn häufig sind es innere Gittern, hinter die wir uns selbst legen. „Gefangen und frei“ ist eine universelle Geschichte über die Chance, mit starken Widrigkeiten umzugehen.

Fazit: Trotz kleineren Logik-Unstimmigkeiten ein sinnstiftendes, hoffnungsvolles und bewegendes Buch, das nicht in Kitsch abrutscht oder Meditation in den Himmel lobt, sondern authentisch und kraftvoll aufzeigt, wie man Leiden mit viel Mut und Stärke transformieren kann – Rückschläge mitinbegriffen.

„Doch genau das war der Buddha, den er töten musste: die Illusion, dass die Rettung irgendwo außerhalb von ihm selbst zu finden sei. Ihm wurde klar, dass der Buddha dazu nicht in der Lage war, genauso wenig wie Jesus oder Allah. Nur wir selbst können uns aus unserem eigenen Leiden befreien.“
S. 128

Bewertung vom 03.04.2021
Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz
MacDonald, Andrew David

Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz


sehr gut

Mit der Kraft von Legenden

Es sind einige Schlachten, die von der 21jährigen Zelda bestritten werden müssen. Sie leidet an der Fetalen Alkoholspektrumsstörung (FASD) und benötigt im Alltag Hilfe von
Ihrem Bruder Gert. Trotzdem kämpft sie für Autonomie, Glück, erste Liebe und als sich Gert in kriminelle Machenschaften verstrickt, auch um ihn. Zelda hat ihre eigene Perspektive, ihre eigene Wahrnehmung ihrer Umwelt – mit Hilfe von Legenden, Wikingersagen und –übertragungen gibt sie sich Kraft, Struktur und Anhaltspunkte, was in schwierigen Situationen zu tun ist. Sei es, ihre geliebte „Sippe“ ist in Gefahr, der erste Sex oder wie man Unholde und zwielichtige Gestalten das Fürchten lernt. Doch nicht immer kann sie sich vor gewaltvollen Übergriffen schützen, was schmerzlich beim Lesen ist und doch der Realität entspricht. In der Bibliothek liest sie jedes Wikingerbuch, was sie in die Hände bekommt, schreibt sich Denkzettel, Handlungshilfen und altnordische Begriffe auf.

Andrew MacDonald erweckt in seinem unkonventionellen und tief menschlichen Debütroman eine kraftvolle Protagonistin zum Leben – mit einem taffen Sound, einem schier unendlichen Mut, für seine Bedürfnisse trotz kognitiver Einschränkung zu kämpfen und in dem es viel um Zusammenhalt geht. Zeldas naiv-kindliche und doch starke Perspektive hinterlässt Eindruck und einen bleibenden, berührenden Einblick in ihre Welt. Zahlreiche schlagfertige Dialoge und Gedanken wechseln mit keckem Humor, spannenden Einlagen und bewegenden Erlebnissen ab – insgesamt ist die Romanvorlage flüssig, filmreif und szenisch komponiert. Das Ende von Zeldas Coming-of-Age gleicht einem Nervenkitzel und verliert sich nicht in Rührseligkeit. Ein mitreißende Geschichte mit einer außergewöhnlichen Heldin und die das wichtige Thema Inklusion aufgreift.

„In den Wikingerlegenden ist der Held immer kleiner als der Unhold. Deswegen wird er zur Legende.“ S. 324

Bewertung vom 27.03.2021
Der Klang der Wälder
Miyashita, Natsu

Der Klang der Wälder


sehr gut

Landschaft der Töne
Das Leben des jungen Tomura ändert sich schlagartig, als er zufällig einem Klavierstimmer in der Schulturnhalle bei der Arbeit hört. Der Klang zaubert Wälder seiner Kindheit vor sein inneres Auge, luzide Naturlandschaften tun sich auf. Tomura hat seine Bestimmung gefunden: Er zieht aus seinem ländlichen Bergdorf in die Stadt, um eine Ausbildung als Klavierstimmer zu absolvieren. Die Suche nach dem perfekten Klang wird seine Bestimmung werden. Nach bestandenen Prüfungen findet er bei einem Instrumentenhandel eine Lehrstelle – dort wird der hochsensible Klavierstimmer Itadori-san sein Meister. Tomura lernt subtile Feinheiten über die Kunst des Tons kennen, begleitet Itadori-san zu Kundenterminen. Sein Selbstwert wird immer wieder gebeutelt: Ist das der richtige Beruf für ihn? Wird er so gut sein wie die anderen und hinter die Geheimnisse des Klangs gelangen? Als er bei einem Termin auf die begabten, jungen Pianistinnen und Zwillingsschwestern Kazune und Yuni trifft, ändert sich für ihn abermals der Blickwinkel über Klang und Töne, scheint ihr gegensätzliches Klavierspiel fast alle Klangfarben zu treffen. Als Yuni krankheitsbedingt nicht mehr spielen kann, vereint Kazune alle Klänge in ihrem Spiel – und dieses möchte Tomura noch heller zum Leuchten bringen.

Natsu Miyashitas feinfühliger und meditativer Roman „Der Klang der Wälder“ ist in Japan ein Besteller und wurde bereits verfilmt. Sensibel, poetisch und lebensklug verwebt sie in ihrer schönen Prosa die bildgewaltige Natur der Landschaft Hokkaidos in die Welt der Töne – es gleicht einer Symbiose. Das Heranwachsen des Protagonisten in seine Bestimmung und seine Abnabelung aus dem Bergdorf ist wunderbar herausgearbeitet. Oft schweifen Tomuras Gedanken in seine Heimat und zu seiner Familie. Sein intensives Bestreben, den „Klang der Wälder“ einem Klavier wieder zu entlocken ist ruhig erzählt und dennoch erschafft dieser Wille Zuversicht, einen sinnerfüllten Beruf zu ergreifen und seinen Träumen zu folgen, auch wenn Selbstzweifel die Seele plagen.

Miyashita spielt selbst Klavier – viele detaillierte Einschübe über Tasten, Materialzusammensetzung und Tonleitern sind präzise in der Geschichte platziert. Doch auch Klavier- oder Klassik-Laien werden ihre Freude und wohltuende Entschleunigung mit dem Roman haben, wenn sie sich auf die beruhigende Erzählung und klugen Dialoge einlassen. Wenn die Natur mit den Tönen verschmilzt und ein Beruf nach der Einführung zur Berufung und zum Lebensglück wird.

„Wie konnte ein Instrument wie ein Klavier so etwas hervorzaubern? Von einem Blatt zu einem Baum, von einem Baum zu einem Wald bis hin zu einem Berg.“ S. 84

Bewertung vom 21.03.2021
Als wir uns die Welt versprachen
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


gut

Ednas fantastische Pilgerreise
Es gibt Herzensdinge im Leben, die müssen noch in Angriff genommen werden, auch wenn das Leben fast zu Ende ist: Die fast 90jährige Edna verlässt ihr Haus mit gemütlichem Garten nur noch selten, schwelgt viel in der Vergangenheit. Dann liest sie wie immer ihre Zeitschrift und entdeckt auf einem Foto Jacob wieder. Mit ihm verbindet sie einen schmerzvollen, traumatischen Abschnitt im Kindesalter – beide waren verarmte Schwabenkinder, mussten weitab ihrer Heimat auf deutschen Bauernhöfen hart mitarbeiten und wurden auf „Viehmärkten“ begutachtet. Jacob hat seiner kleinen „Zimperliese“ Edna immer geholfen, ihre Freundschaft hat sie das Leid besser ertragen lassen – bis sie tragisch getrennt wurden und sich aus den Augen verloren haben. Nach den Blick in Jacobs Augen auf dem Foto steht für Edna fest: sie wird Jacob in Ravensburger Krankenhaus besuchen und hat sie sich dafür einen besonderen Weg ausgesucht: den harten über die Alpen, den sie schon als Schwabenkinder gegangen sind. Denn sie quält seit Jahrzehnten das schlechte Gewissen, will Buße tun: Sie glaubt, ein Versprechen gebrochen und Jacob im Stich gelassen zu haben.

„Aber dann, eines Tages, wenn man es am wenigsten erwartete, geschah etwas, was einen zurückbrachte. Und dann war es, als wäre man nie weg gewesen. Als zähle die ganze Zeit, die seit diesem Augenblick vergangen war, überhaupt nichts mehr.“ S. 141

Kurzerhand packt sie ihren kleinen Koffer und ihren geliebten Papagei Emil ein – (er stammt noch von Jacob aus der Schwabenkinder-Zeit), kramt eine sehr alte Landkarte von damals aus und wandert los, ohne zu wissen, wo sie übernachten kann und was sie zu Essen bekommt. Unterwegs passiert ihr allerhand Skurriles, Dramatisches und Berührendes – sie trifft auf die verschiedensten Menschen, die ihr helfen, von denen sie aber auch noch lernen kann und jeder geht aus den Begegnungen verändert weiter. Sie entwickelt schier unglaubliche Kräfte in ihrem Alter, um einem verloren geglaubten Versprechen nachzugehen. Und eventuell bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Unterwegs gehen ihre Erinnerungen und Gedanken kontinuierlich zurück in die Zeit auf dem Bauernhof und zu den bewegenden und traurigen Erlebnissen als Schwabenkind.

So komponiert die Autorin Romina Casagrande ihren szenischen Roman in zwei Zeitsträngen und packt allerhand menschliche Schicksale und bunte Charaktere auf der Reise in ihre Handlung. Die bildgewaltigen Naturbeschreibungen und die berührenden Rückblenden zusammen mit ein paar poetisch, nachdenklichen Sätzen sind schön herausgearbeitet. Der fast fantastisch anmutenden Pilgerreise der hochbetagten Edna in der Jetzt-Zeit fehlt es etwas an Glaubwürdigkeit und Authentizität – dafür gab es umso mehr Slapstick. Wer sich daran nicht stört, den erwartet ein emotionaler, leichtfüßiger und humorvoller Roman, der einen wichtigen und traurigen Teil der Geschichte rund um die Schwabenkinder miteinwebt und sehr menschlich ist.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.03.2021
Freiflug
Drews, Christine

Freiflug


ausgezeichnet

Die Entschlossenheit zweier starker Frauen

BRD in den 1970er-Jahren: Die Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen ist trotz der Hippie-Bewegung noch in weiter Ferne. Vielen Frauen bleibt nur die Möglichkeit als Haus- und Ehefrau, viele berufliche Wege sind verschlossen und von Männern dominiert. Umso schwieriger ist es, für die wohlhabende und angesehene Unternehmerfamilie Berner, den Weg ihrer Tochter Katharina zu akzeptieren: Noch nicht verheiratet, Jura-Studium, Anwältin – und jetzt wagt sie auch noch den Schritt zur Selbstständigkeit, um die Fälle anzunehmen, die ihr von der Gerechtigkeit her am Herzen liegen und vor den chauvinistischen Kollegen zu entkommen. Das wird kein leichter Weg – Büroräume anmieten, Kunden akquirieren, Geld verdienen, den Unmut der Familie aushalten. Katharina vertritt beispielsweise eine Frau, die in der Ehe vergewaltigt wird, aber es gilt noch das Schuldprinzip bei der Scheidung. Und dann trifft sie auf ihren Vermieter Theo, der ihr Geliebter wird, und auf Rita Maiburg, die die erste weibliche Linienflugkapitän der Welt werden wird: Die junge Frau und ausgebildete sowie erfahrene Privat-Pilotin möchte die Bundesrepublik Deutschland als Anteilseigner der Lufthansa verklagen: Sie sieht ihr Grundrecht verletzt, da die Lufthansa nur Männer als Piloten einstellt und sie nur aufgrund ihres Geschlechts ablehnt. Die zwei starke Frauen verstehen sich auf Anhieb und Katharina nimmt den Fall an – sie ziehen vor Gericht. Und müssen viel Spott in den Medien sowie eine unnachgiebige Justiz hinnehmen.

Neben dieser Hauptgeschichte, die auf einer wahren Begebenheit rund um Rita Maiburg andockt, webt die Autorin Christine Drews zwischen den Prozessterminen viele weitere fiktive Handlungsstränge mit viel Zeit- und Kölner Lokalkolorit ein. Fast wie in einer Zeitreise gleitet der Leser durch die Seiten und Orte und lernt neben den damals gängigen Produkten und fehlenden Anschnallgurten viele Missstände der damaligen Zeit kennen: unzumutbare Zustände in Psychiatrien, Verschweigen von psychischen Krankheiten und Kriegstraumata, die untergeordnete Haltung der Frau in einer Ehe, Verschwiegenheit innerhalb einer Familie, antiquierte Frauenbilder sowie aufkommende Drogenprobleme unter jungen Leuten.

Drews schreibt sehr einfühlsam und mit viel Gespür für Menschen, Historie und Verflechtungen – leider war es mir insgesamt zu auserzählt und die vielen Nebenhandlungen und Zufälle sowie die Leichtgläubigkeit Katharinas in ihrer Beziehung haben mein Lesevergnügen etwas geschmälert. Trotzdem habe ich es genossen, wie in einem guten Abendfilm in die 70er-Jahre einzutauchen und multiperspektivisch zwei sehr sympathischen Hauptcharakteren auf ihrem Kampf für Emanzipation, Berufswünsche, Gleichberechtigung und Feminismus zu folgen – man merkt der Autorin das versierte Handwerk als Drehbuchautorin an. Zudem fand ich insgesamt die Einflechtung von den historischen Details rund um die diskriminierenden Geschlechterrollen detailliert, gelungen und zurecht kritisierend.

Insgesamt eine perfekte Vorlage zum Verfilmen und eine flüssig geschriebene, unterhaltsame und emotional ansprechende Geschichte mit einigen Aha-Effekten über mir bis dato unbekannte Details der erschütternden Frauenrechte in den 1970ern. Als Roman hätte ich mir noch mehr Augenmerk auf die juristische Haupthandlung gewünscht.

Bewertung vom 10.03.2021
Otmars Söhne
Buwalda, Peter

Otmars Söhne


sehr gut

Zerklüftete Familien und Leben
Nach seinem erfolgreichen und preisdotierten Debütroman liegen die Erwartungen am Nachfolger von Peter Buwalda hoch – nun ist der erste Teil einer Trilogie mit 600 Seiten fertig und wird von 111 kapitelweise nach unten gezählt. Ein Panoptikum an kuriosen Charakteren, Bekanntschaften und tiefen seelischen Einblicken. Im Mittelpunkt steht Dolf: Erst alleine mit seiner Mutter zieht später Otmar ein, der die zwei musizierenden Kinder Tosca und Dolf mitbringt – zwei Dolfs wären zu chaotisch, also wird der Erste in Ludwig umgetauft.
Der Inhalt lässt sich ansonsten schwer greifen – es gibt mehrere Handlungsstränge und nach und nach wird eine Charakterstudie aufgerollt, die zahlreiche Themen wie Familienverhältnisse, Alkohol, Missbrauch, sexuelle Ausbeutung und musikalische Hochbegabung umfassen. Auch wird in den Zeiten und Erzählperspektiven gesprungen. Auf der sibirischen Insel Sachalin trifft ein erwachsener Ludwig eine alte Bekannte – die Journalistin Isabelle Orthel will den lokalen Shell-Chef Johan Tromp wegen eines Deliktes in Nigeria konfrontieren und war sexuell mit ihm verbandelt. Und Ludwig ist sich sicher, dass Tromp sein leiblicher Vater ist.

Peter Buwaldas Werk ist von einem opulenten, fantasiereichen und reichhaltig-detaillierten Erzählstil mit zahlreichen Rückblenden, Metaphern und präzisen Beobachtungen geprägt, auf den man sich abseits der Handlung einlassen sollte – hinter jeder Fassade brodelt es gewaltig, stecken vollständige Biografien und irgendwie hängt alles miteinander komplex zusammen, wird aber nur langsam entrollt. Die feinen, wechselnden Perspektiven in Ort, Erzählstimme und Zeit sowie die verschrobenen, aber dicht erschaffenen Charaktere erfordern hohe Aufmerksamkeit und Flexibilität im Lesen. Ein sprachlich hochwertiger und packender, aber nicht ganz einfacher Roman, der am Ende viel Fantasie und Spielraum für den zweiten Teil lässt und bestimmt polarisieren wird.

Bewertung vom 08.03.2021
Sommer der Träumer
Samson, Polly

Sommer der Träumer


sehr gut

Schlangen im Paradies
Erica ist 18, als ihre Mutter stirbt und ihr ein kleines Sparvermögen hinterlässt, um ihre Freundin Charmian auf Hydra zu besuchen. Die Beziehung zum gewalttätigen Vater ist keineswegs harmonisch und so fährt sie mit ihrem Bruder Bobby und ihrem Freund Jimmy auf die griechische Insel. Es sind die 1960er-Jahre und auf Hydra hat sich eine Künstler-Community gebildet – die Kolonie der Ausländer. Erica kommt bei der australischen Schriftstellerin Charmian Clift und ihrem Ehemann George Johnston unter – es gesellen sich immer weitere Personen hinzu und auch der junge, gefühlvolle und noch eher unbekannte Leonard Cohen wird auf seine besungene Muse Marianne Ihlen stoßen. Erica ist fasziniert von der Freiheit und Kunst, nach der alle streben, vom Lebensgefühl unter der Sonne, der Natur und dem Essen. Sie beobachtet ihr Außenrum sehr genau – ein Theater aus Liebschaften, Künstlerallüren, Lebensfreude und Neid auf Erfolg.

„Die Symmetrie der Steinmauern und Gebäude fügt sich zu einem perfekten Hufeisen rund ums Wasser, von dem aus Reihen weißer Häuser wie Sitze eines Amphitheaters aufsteigen. Ein magischer Trick auf nacktem Fels, ein Theater für Träumer, die Bühne beleuchtet von Sonne und See.“ S. 38

Polly Samson schreibt sehr bildgewaltig – Hydra mit Flora und Fauna ist der stille Protagonist, aber auch das Flair der 60er-Jahre mit den Wünschen der jungen Leuten ist absolut greifbar. Gekonnt mischt sie reale Persönlichkeiten der Künstlerkolonie mit Fiktion. Leider reihen sich im Mittelteil so viele Personen, Ereignisse und Gespräche bei Wein, Sonne und Musik, dass Ericas Innenwelt in den Hintergrund rückt – Samson erschafft zwar fantastische Atmosphäre, aber transportiert wenig Gefühle der jungen Frau, die noch um ihre Mutter und später um ihren Freund trauert. Die innige Beziehung zur charismatischen Charmian Clift ist feinfühlig ausgearbeitet und auch der Schlussteil mit der Wiederkehr auf die Insel nach 10 Jahren ist voller schmerzlich-süßer und melancholischer Erinnerungen gespickt mit Ericas Erleben ihres Sommers auf der Insel.

Im Rückblick wird klar: hinter der Fassade eines freien Lebens zwischen Meer, Mond, Retsina, Olivenbäumen und Gitarrenmusik lauern einige Schlangen im Paradies: Eifersucht, Fremdgehen, Egoismus, Drogen, Armut, gebeutelte Künstlerexistenzen und gescheiterte Emanzipation als Muse. Und so war es ein berauschender Sommer vor herrlicher Kulisse mit viel komplexen zwischenmenschlichem Theater – Samson changiert großartig zwischen Wunschvorstellungen, Traum und Enttäuschung im Paradies. Ein bisschen mehr Struktur im Mittelteil hätte dem Roman noch besser getan, denn Polly Samson ist eine leidenschaftliche Erzählerin, keine Frage.

Bewertung vom 14.02.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


sehr gut

Kommunikation zwischen Mensch und Tier

T.C. Boyle ist einer der erfolgreichsten Autoren und genießt in der Literaturszene Kultstatus. Seine Affinität zu skurrilen, unkonventionellen Figuren, aber auch sein Ausloten des Verhältnisses zwischen Natur und Mensch sind seine Erkennungszeichen. Auch für seinen neuen Roman hat er intensiv recherchiert und versucht, anhand einer filmreifen, rasanten und berührenden Geschichte die Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Bewusstsein auszuloten und welche Behandlung wir Menschen den Tieren anmaßen.

In den 1970er-Jahren sieht Frühpädagogik-Studentin Aimee beim Zappen eine TV-Show, die alles in ihrem Leben ändern wird: Biologe und Wissenschaftler Guy Schermerhorn hat den cleveren Baby-Schimpansen Sam dabei, der Gebärdensprache lernen kann. Aimee bewirbt sich als Assistentin, sie will mit Sam arbeiten und wird seine Sitterin. Sofort sind die beiden einander verfallen. Im Dreiergespann wird das Experiment im chaotischen Haus des Wissenschaftlers vorangebracht, Sam steckt derzeit noch in pubertären, kindlichen Zügen und stellt allerhand Schabernack an – Aimee verliebt sich auch in Guy.

„Sam saß friedlich neben Aimee auf dem Sofa und blätterte in der neusten Ausgabe von Life. Sie benannte die Objekte auf den Fotos - Auto, Baby, Flugzeug, Hund - und Sam machte die entsprechenden Gebärden, fast als wollte er sie ihr beibringen.“

Es könnte so harmonisch sein, doch das Experiment wird wegen gestrichenen Fördermitteln abgebrochen und Sam wird von Dr. Moncrief, einem einstigen Unterstützer, an eine Universität für Tierversuche verhökert. Guy und Aimee stehen vor dem Nichts, doch Aimees Liebe zu dem Affen ist bedingungslos und hat Sam zur Ausreifung eines intelligent-individuellen Wesens angespornt – sie wird ihn befreien, mit ihm durchbrennen und gemeinsam leben sie in einem Trailerpark.

T.C. Boyle knüpft in seinem Roman an reelle Sprachforschungen an Menschenaffen in den 1970er-Jahren an und wählt eine gelungene sowie raffinierte multiperspektivische Erzählform für seine fiktive, emotionale und unterhaltsame Geschichte: Alle drei Protagonisten kommen zu Wort, auch Sams Perspektive wird berührend geschildert und Boyle unterlegt alles mit wunderschönen poetischen Bildern und viel skurrilem Humor. Im spannenden und ergreifenden letzten Teil des Romans kann man das Buch nicht zur Seite legen, bis das Ende erzählt ist – ein äußerst gelungener Spannungsaufbau rundet die emotionale Mensch-Tier-Geschichte ab, ohne in den Kitsch zu rutschen. Und Boyle zeigt uns im Spiegel das Animalische im Menschen, und das vermeintlich Menschliche im Tier – und die große Diskrepanz im artgerechten Miteinander.

Bewertung vom 25.01.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


sehr gut

Ein verschwommener Mensch
Monikas Helfers Erinnerungsroman „Vati“ drängt sich mit seiner klaren Prosa nicht auf – er entfaltet zart und reduziert etwas Faszinierendes zwischen dem Erzählten. Lakonisch, bruchstückhaft und in Zeitsprüngen versucht die Autorin anhand von ihren und der Erinnerungen der Stiefmutter halb fiktional, halb autobiografisch den rätselhaften und schwer zu durchschauenden Menschen, der ihr Vater war, einzufangen.

In der Schule blitzgescheit, fast das Matura in der Tasche, wird er in den Zweiten Weltkrieg eingezogen und verlor in Russland nicht nur ein Bein – das Kriegstrauma hat ihn auch seelisch verändert. Halt sucht er in seinen Büchern, die ihm alles bedeuten und heilig sind. Als Verwalter des Kriegsopfer-Erholungsheims auf der Tschengla, dem Hochplateau in Vorarlberg, ist er auch Herr über die umfangreiche Bibliothek. Monika erlebt dort mit ihren Geschwistern eine soweit idyllische Kindheit in den Bergen – doch die Mutter verstirbt früh und der Vater wird nach diesem Verlust noch abwesender. Die Kinder werden bei unterschiedlichen Verwandten untergebracht.

Nach ihrem erfolgreichen Roman „Die Bagage“ ordnet Monika Helfer nun weiter klug, sensibel und in ihrer ganz eigenen Atmosphäre ihre Familiengeschichte – dabei erschafft sie episodenhaft sehr plastische Menschen und poetisch bildhafte Umgebungen in einer Nachkriegswelt. Schönes trifft auf Trauriges, ohne rührselig zu werden – Helfer beschreibt ohne zu urteilen. Auch der Tod der eigenen Tochter Paula wird thematisiert.

„Wieder tagträume ich und sehe die Farben der Tschengla, das Lilienweiß, Enzianblau, Erdbeerrot. Jeden Tag gehe ich über den Berg, der Schlossberg heißt, von dem meine Tochter gefallen ist, sie war einundzwanzig.“

Eine eindringliche, subtil arrangierte Konstruktion in faszinierenden Bruchstücken, die als Ganzes den Vati nicht komplett klar werden lässt, aber in der zwischen den Zeilen mit wenigen präzisen Worten viel berührendes, existenzielles Zwischenmenschliches steckt. Es ist auch eine gelungene, pathosfreie Hommage an das Erinnern und das Erkennen, das dieses nicht immer wahrheitsgetreu ist.

Bewertung vom 04.01.2021
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


sehr gut

Zwei Paar Flügel
Frustriert vom Hauswirtschaft-Lehrerdasein im tristen Nachkriegs-London, beschließt Margery eines Tages, ihren Lebenstraum zu erfüllen: Sie will den Goldenen Käfer in Neukaledonien finden – eine Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, der ihr diesen Käfer in einem Naturkundebuch gezeigt hat. Seit jeher ist Margery begeisterte Hobby-Koleopterologin und ihr gehen die magischen Kreaturen nicht mehr aus dem Kopf. Aber im Jahre 1950 als Frau zu einer Inselgruppe im südlichen Pazifik zur Insektenjagd zu reisen, verspricht ein sehr großes, verwegenes und wildes Abenteuer. Als aus Anzeigen auserwählte Assistentin begleitet sie die gegensätzliche und schrille Enid Pretty, die von Wissenschaft keine Ahnung hat und lieber endlich ein Baby möchte. Gemeinsam reisen sie auf der RMS Orion ihren Träumen entgegen, aber auch mit schmerzhafter Vergangenheit und dem ominösen Stalker Mr. Mundic im Gepäck. In der Wildnis Neukaledoniens treffen Margery, Enid, der goldene Käfer und Mundic zwar komödiantisch, aber auch tragisch aufeinander.

Rachel Joyce hat einen sehr atmosphärischen, tief humorvollen und szenisch filmreifen Abenteuer- und Freundschaftsroman geschaffen, der sich sehr flüssig liest und zum Träumen einlädt. Wie sich zwei Frauen in einer schwierigen Nachkriegszeit anfreunden, ihren Träumen frönen und das Leben auskosten, ist berührend und lustig zugleich. Auch wie sie miteinander kämpfen und harren, sich dann wieder dem Abenteuer und sich selbst stellen, hat etwas sehr Kraft- und Hoffnungsvolles in sich. Diese unwahrscheinliche Frauen-Freundschaft, die beiden Flügel, Mut und Eigenständigkeit verleiht, aus dem grauen London in eine üppige Südsee-Landschaft auf Expedition und Pilgerreise zu segeln und sich dem Leben zu stellen. Nicht alles an bunten Szenen und überraschenden Wendungen in diesem Roman ist realistisch, aber sehr stimmig und unterhaltsam von Joyce inszeniert.

„Du darfst nie wieder aufgeben. (...) Was uns zugestoßen ist, macht nicht das aus, was wir sind. Wir können sein, was wir sein möchten.“