Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
MB
Wohnort: 
Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 367 Bewertungen
Bewertung vom 24.06.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


ausgezeichnet

Eine wahre Tragödie. Schon lange hat mich ein Roman nicht mehr derart berührt, wie Jessamine Chan's "Institut für gute Mütter". Frida, alleinerziehend und überfordert, ist in der Betreuung ihrer noch sehr kleinen Tochter Harriet ein Fehler unterlaufen: Sie hat sie über eine Stunde lang unbeaufsichtigt gelassen, um für ihren wenig verständnisvollen Professor etwas zu erledigen und sich einen Kaffee zu besorgen. Von Nachbarn angeschwärzt, bekommt sie Besuch von der neuen, staatlichen Kinderschutzbehörde; ohne wirklich irgendeine Chance zu haben, wird sie zu einem neu aufgelegten, einjährigen 'Mütter-Erziehungs-Programm' gezwungen, sofern sie verhindern möchte, dass ihr der Kontakt zu und die Fürsorge für ihre Tochter endgültig entzogen und Harriet in die Obhut ihres Mannes gegeben wird, der sich wegen einer jüngeren Frau zuvor von Frida getrennt hatte. Frida lässt sich gezwungenermaßen auf das Programm ein: An einem abgelegenen 'Trainingszentrum' muss sie mit anderen Müttern zusammen an 'Robot-Kindern' üben, wie gute Mutterschaft funktionieren kann. Ein absurdes Programm, welches autoritär durchgezogen wird. Von Anbeginn an und dann Kapitel für Kapitel wird die Situation beklemmender, schnürt einem beim Lesen förmlich den Hals zu. Fridas Verzweiflung wächst, bis sie am Ende fast schon an die Liebe zu dem ihr zugeordneten Roboter-Kind Emmanuelle glaubt... Und sich am Ende dann zu einem Akt der Verzweiflung hinreißen lässt. Die Inobhutnahme gefährdeter Kinder ist eine wichtige und notwendige Maßnahme, ganz ohne Zweifel. Was aber Jessamine Chan gelingt, ist uns dazu zu bringen, konsequent die Perspektive der Mütter einzunehmen, denen das Kind entzogen wird. Und so ganz nebenbei geht es auch um gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, um Rassismus und die Benachteiligung von Frauen. Besonders erschreckend: Ein für die nahe Zukunft durchaus vorstellbares, grausames Szenario. Ein gutes & wichtiges Buch!!!!

Bewertung vom 18.06.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


sehr gut

Typisch Suter. Dass Martin Suter sein Handwerk versteht, das hat er mit seinem aktuellen Roman "Melody" erneut unter Beweis gestellt. Manchmal ist es nicht so sehr die eigentliche Handlung, die selbstverständlich auch in "Melody" wieder einmal gut durchkomponiert ist; vielmehr ist es Suters Fähigkeit, die Lesenden ab der ersten Seite an die Hand zu nehmen, um die Seelentiefen und Motive seiner Figuren zu erkunden. Und zumeist ist Suters Literatur auch ein Sinnenrausch - und wie oft ist mir in"Melody" bei den beschriebenen kulinarischen Köstlichkeiten das Wasser im Munde zusammengelaufen. In "Melody" versucht sich der Autor zum Thema Fiktion und Wirklichkeit - ob sich denn die Fiktion der Wirklichkeit anzupassen habe, oder umgekehrt und ob nichtvielleicht jeder gerne seine Lebenswahrheit zu einer wünschenswerten Fiktion umkonstruiert ... Dr. Stotz beauftragt den jobsuchenden Juristen Tom, seinen Nachlass zu regeln; dieser bekommt dafür einen herausragend gut dotierten Jahresvertrag und Kost und Logis bei seinem Dienstgeber; er solle ein für die Öffentlichkeit bereinigtes Bild des Lebens von Ex-Nationalrat Stotz herstellen. Dabei wird Tom in hochherrschaftlicher Umgebung zum Zuhörer von Stotz' Lebensgeschichte und dessen immer noch andauernder Suche nach seiner großen Liebe Melody, die vor Jahrzehnten kurz vor der geplanten Hochzeit spurlos verschwunden ist. Und bald ahnt Tom, dass Stotz ihm nich alles offenbart und er begibt sich mit Unterstützung von Stotz' Nichte Laura auf die Suche. Und erst auf der letzten Seite offenbart sich schließlich das letzte Geheimnis. Eine gute Lektüre, die in der Tradition von Max Frischs Überlegungen zum Thema 'Biographie' steht. Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 13.06.2023
30 Tage Dunkelheit
Madsen, Jenny Lund

30 Tage Dunkelheit


ausgezeichnet

Klasse! Ein wirklich guter Krimi. "30 Tage Dunkelheit" von Jenny Lund Madsen ist zurecht 'Bester dänischer Kriminalroman 2021'! Warum? Weil er so erfrischend anders ist! Schon der Einstieg: Die zwar bepreiste, aber was die Verkaufszahlen ihrer Bücher betrifft, eher weniger erfolgreiche Schriftstellerin Hannah Krause-Bendix lässt sich bei einer Buchmesse zu einer Herausforderung hinreißen, nämlich innerhalb eines Monats einen Krimi schreiben zu können; damit will sie vor allem dem sehr erfolgreichen Krimiautoren Joern J. beweisen, dass er trotz beachtlicher Verkaufszahlen literarisch in der untersten Liga spielt. Welch außergewöhnlicher Einstieg in einen Krimi - die Auseinandersetzung über den Stellenwert der Kriminalliteratur gegenüber der 'hohen Literatur'. Für dieses einmonatige Schreibprojekt verfrachtet Hannahs Literatur-Agent sie in ein kleines Örtchen auf Island. Natürlich fragt sich Hannah, was einen guten Krimi ausmacht... mindestens zwei Morde und ständiger Perspektivwechsel in kurzen Kapiteln. Und genau das macht Jenny Lund Madsen nicht... und genau das macht "30 Tage Dunkelheit" so erfrischend anders. Und natürlich wird Hannah auf der Insel selbst Teil eines Kriminalfalles, der sich kontinuierlich zuspitzt und unerwartet wendet ... und ganz nebenbei ihrem Schreibprozess dienlich ist; auch darf man hin und wieder schmunzeln. Dass Hannah am Ende ihre totale Ablehnung der bloßen Unterhaltungsliteratur aufgibt und bei ihren kommenden Büchern näher an der Leserschaft schreiben wird, das versteht sich fast von selbst.

Bewertung vom 10.06.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


sehr gut

Kühn - in der Tat! Anna Hope hat mit ihrem neuen Roman "Der weiße Fels" einen gewagten Versuch unternommen. Nicht nur, dass es ihr darum ging, vier höchst unterschiedliche Geschichten aus vier unterschiedlichen Zeiten miteinander zu verbinden (1775, Beginn des 20. Jahrhunderts, 1969, relative Gegenwart), es ist auf der Symbolebene auch der Versuch, Menschengeschichte zu erzählen: Die Eroberung der äußeren Welt (Grenzverschiebung im Außen), Unterwerfung und Vernichtung anderer Kulturen, Aversion vor der Welt (Rückzug ins Innen) und schlussendlich Trennung und ersehnter Neubeginn; das Scheitern der Menschlichkeit auf Kosten von Menschen; das Infragestellen des Expansiven genauso wie das Infragestellen einer reinen Besinnung auf das eigene Selbst. Verbindendes Element ist 'der weiße Fels', Ort des Weltenbeginns, ein magischer Ort, dem Opfer dargebracht werden. Vielleicht ist es auch ein Buch über den Verlust des Glaubens und der Magie. Die Erzählstränge haben mich in sehr unterschiedlicher Weise angerührt und es braucht schon einiges an Fantasie, um eine mehr als durch das Symbol des weißen Felsens angedeutete Verbindung zu erkennen. Gleichwohl eine sehr anregende Lektüre, die ich absolut empfehlen möchte.

Bewertung vom 04.06.2023
Dein Taxi ist da
Guns, Priya

Dein Taxi ist da


ausgezeichnet

Toll. In ihrem wunderbaren Erstling "Dein Taxi ist da" bearbeitet die junge Autorin Priya Guns 'so ganz nebenher' - und gut in die Story eingebunden - brandaktuelle Themen: Rassismus, Sexismus, soziale Benachteiligung, Geflüchtetsein; und nicht zuletzt thematisiert sie jene Wohlstandsbürger, die durch Spendensammlungen und 'woke' Protestaktionen ihr Gewissen beruhigen und ihr Selbstbild, hilfreiche und gute Menschen zu sein, stabilisieren. Die Protagonistin Damani fährt Taxi auf Abruf und hat Mühe ihr eigenes Leben und das ihrer kranken Mutter zu finanzieren; der Vater ist vor einigen Monaten verstorben, doch eine zu große Trauer lässt der 'tägliche Überlebenskampf' gar nicht zu. Damani trainiert ihren Körper, legt sich einen Muskelpanzer zu, um ihre Seele zu schützen. Genau die wird aber im Verlauf der Geschichte verletzt, als die weiße Wohlstandsbürgerin Joline in ihr Taxisteigt; die beiden verlieben sich, Damani öffnen sich mitJoline Türen in eine andere Welt... nur dass in dieser anderen Welt auch 'Welten aufeinander prallen'. Und als Joline sich dann wenig respektvoll und sehr entwürdigend gegenüber Daimanis Freunden verhält, eskaliert die Situation und die über lange Zeit durch erlebte Ungerechtigkeit angestaute Wut entlädt sich... Gut lesbarer Stoff, der extrem nachdenklich stimmt!

Bewertung vom 30.05.2023
Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3
Horowitz, Anthony

Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3


gut

Rätselhaft bis zum Schluss. Der Aufbau des neuen Kriminalromans "Wenn Worte töten" von Anthony Horowitz scheint ganz der britischen Krimitradition verpflichtet. Die Protagonisten, die Konstruktion der Handlung, die Dialoge... vieles erinnert an Agatha Christie, die ja die wunderbare Fähigkeit hatte, falsche Fährten zu legen und uns Lesende - sehr zu unserem Ärger - mit hämischem Grinsen in Sackgassen zu führen; aber schließlich kennt niemand des Rätsels Lösung so gut, wie die Autor:innen selbst. Auf einem kleinen Literaturfestival, angesiedelt auf einer ebenso kleinen Kanalinsel - Prinzip 'geschlossene Gesellschaft - wer ist der Täter? -, geschehen Morde und später auch noch ein Suizid. Ex-Polizist und Privatdetektiv Daniel Hawthorn mittendrin. Und jeder Kriminalfall hat auch seine Nebenwirkungen - so kommt es neben den Morden auch noch zu Trennung, Enttarnung von Scharlatanerie, Rache und Genugtuung... und für Horowitz, nach erfolgreicher Aufklärungsarbeit, am Schluss auch noch zu einer persönlichen Widmung in einem Kinderbuch, was ethisch nicht ganz sauber ist... Ein Kiminalroman, an dessen Schreibbeginn wohl des Rätsels Lösung stand, der dann Kapitel für Kapitel aufgerollt worden ist.

Bewertung vom 26.05.2023
Idol in Flammen
Usami, Rin

Idol in Flammen


sehr gut

Zurecht ein Bestseller. Die junge japanische Schriftstellerin Rin Usami hat mich mit ihrem schmalen Bändchen "Idol in Flammen" an einer mir fremden Welt teilhaben lassen und dafür sage ich ausdrücklich 'danke'. In etwas über 120 Seiten geht es um Fankultur in Reinform... und wie verführbar das noch nicht vollständig ausgeformte Ich ist, wie durch die Musikindustrie zu Geschäftszwecken hervorgebrachte Musikgruppen/Künstler nicht nur zu Projektionsflächen für die eigenen Sehnsüchte werden, sondern über eine umfängliche Identifikation förmlich zur Selbstaufgabe verführen können. "Ich bin nicht ich, wenn ich nicht Masakis Fan bin. Ein Leben ohne ihn ist nur noch ein Warten auf den Tod." - so Akari, als ihr Idol sich aus dem Showbizz zurückzieht. Akari hat Verschmelzugsfantasien - so besorgt sie sich eine komplette Torte mit dem Abbild ihres Idols und verspeist sie in Gänze... was ihr natürlich nicht gut bekommt. "Schon nach der Hälfte bin ich randvoll, aber mittendrin aufzugeben, käme mir wie Verrat an dem Kuchen und an Masaki vor, also würge ich auch noch den letzten Rest Sahne zusammen mit dem Saft einer zerkauten Erdbeere hinunter." Akari steckt Geld und Zeit in die zwanghafte Erweiterung ihrer Fanartikelsammlung, postet rund um die Uhr Neues von ihrem Idol und vernachlässigt Schule und Arbeitssuche - am allermeisten aber sich selbst. Die Familie bietet keinen Hort der Sicherheit und Geborgenheit und relativ nebenbei stirbt die Großmutter, was aber im Vergleich zu Idol Masaki nur wenig Aufmerksamkeit bekommt. Das beachtliche an dem Kurzroman ist die gewählte Erzählsprache - gerade weil sie zuweilen so nüchtern daherkommt, vergrößert sie den subtilen Horror, welcher umso mehr aus den Zeilen tropft, je weiter die Geschichte fortschreitet. Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.05.2023
Die letzte Lügnerin / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.3
Schwiecker, Florian;Tsokos, Michael

Die letzte Lügnerin / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.3


sehr gut

Ordentlich. Die ersten Seiten des neuen Justiz-Krimis "Die letzte Lügnerin" des Autorenduos Florian Schwieker und Michael Tsokos erschienen mir doch ein wenig hölzern, einem für literarisch Ungeübte üblichen Schreibstil ähnlich; fast schon berichtartig. Dann rief ich mir in Erinnerung, dass es sich eben nicht um einen Krimi, sondern um einen JUSTIZ-Krimi handelt - und die Sprache der Justiz spiegelt sich im Schreibstil wider. Es geht im Buch auch weniger um die differenzierte Ausleuchtung des Seelenlebens der Protagonisten, sondern vielmehr um die Ablaufbeschreibung eines zugegebenermaßen recht brisanten und ziemlich aktuellen Falles von Immobilienspekulation in Berlin. Nach dem ersten Drittel nimmt der Krimi Fahrt auf und weiß durch die mit einigen Überraschungen aufwartenden einzelnen Gerichtsprozess-Schritte dann doch zu überzeugen. Und wer mehr über realitätsnahe Abläufe der Justiz erfahren will, der sollte sich nicht am guten alten 'Tatort' sondern lieber an den Justiz-Krimis dieses bewährten Autoren-Duos orientieren.

Bewertung vom 19.05.2023
Young Mungo (eBook, ePUB)
Stuart, Douglas

Young Mungo (eBook, ePUB)


sehr gut

Beeindruckend. "Young Mungo" von Douglas Stuart hat mir vor Augen geführt, wie glücklich und wohlbehütet ich selbst aufwachsen durfte, obschon dies - zwar auch wie bei Stuarts Protagonist Mungo in einem klassischen Arbeiterviertel, nicht aber in den 90-er Jahren, sondern bereits in den 70-er Jahren geschehen ist. Der Autor beschreibt sehr eindrücklich die familiären Verhältnisse: Die vollständige Abwesenheit eines Vaters, die alkoholabhängige Mutter, die lieber Geliebte für verheiratete Männer als Familienmensch ist, der große Bruder, welcher männliche Stärke verkörpert und Mungo zum 'richtigen' Mann machen möchte; und dann noch die Schwester, Vertrauensperson und selbst Missbrauchsopfer. In einem Klima aus Gewalt und Vernachlässigung sucht der 15-jährige Mungo seinen Weg; bis er dann auf einen Jungen stößt, der anders ist - James, den Taubenzüchter. Es ist, wie wenn eine Rose aus dem Asphalt wüchse - zarte Begegnung in einer unmenschlichen Welt, in der Gescheiterte ander zu Opfern machen. Ein Buch, welches mich nicht losgelassen hat, geschrieben in einer Sprache, die verstärkt, was sie beschreibt.

Bewertung vom 18.05.2023
Kannibal. Jagdrausch
Benecke, Mark

Kannibal. Jagdrausch


gut

Ungewöhnlich. Mit seinem zweiten Krimi "Kannibal. Jagdrausch" ist Mark Benecke ein Krimi fernab des Mainstreams gelungen. Und was den Autor auszeichnet ist vor allem, dass er uns Lesenden so ganz nebenbei - und gut in eine spannende Handlung integriert - eine gute Portion seines Fachwissens als Kriminalbiologe mitgibt; schon allein das macht "Kannibal" zu einem lesenswerten Krimi. Und wer weiß schon, in welchem Jahr der 'Kannibalismus' in Europa erstmalig Erwähnung fand? Wer weiß um seine kulturelle Verwurzelung? Und wer ahnt schon, was Menschen antreibt, sich in seltsamen Foren zu treffen, wo es darum geht, jemanden zu finden, der einen verspeisen möchte? Und genau da muss sich Privatermittler Bastian Becker rumtreiben, will er doch die Hintergründe eines Fundes von sauber abgeschabten Menschenknochen ergründen. Und mit dem 'Chefkoch' - bekannter Sternekoch im wahren Leben - hat Bastian auch eine erste Spur gefunden; aber wie das so ist mit ersten Spuren, kommt dann doch alles anders als erwartet, und nicht zu vergessen Bastians Fieberträume und das Verschwinden seiner Kollegin Janina Funke... Also: Düstere Unterhaltung!