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Christian1977
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Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 06.05.2022
Die Schülerin / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.1
Wittekindt, Matthias

Die Schülerin / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.1


ausgezeichnet

Als Kriminaldirektor a. D. Manz von seiner Tochter erfährt, dass sie als Anwältin gerade eine Mandantin wegen eines vermeintlichen Meineids vertritt, gehen bei ihm die Warnlichter an. Jene Sabine Schöffling erinnert ihn nämlich an einen alten Fall aus dem Jahre 1978, als sich die damals 16-jährige Schülerin als Zeugin in einem Mordfall nicht gerade kooperativ verhielt. Nach und nach kehren seine Gedanken zurück zu diesem Fall, als ein 15-jähriger Junge tot aufgefunden wurde, den niemand zu vermissen schien. Im Fokus seiner damaligen Ermittlungen: die Elisabeth-Rotten-Schule, eine Berliner Reformschule, und deren seltsame Lehrer- und Schülerschaft...

Etwa ein Jahr nach dem erfolgreichen Manz-Debüt "Vor Gericht" legt Matthias Wittekindt beim Kampa Verlag mit "Die Schülerin" nun den zweiten Band der neuen Reihe vor - und landet damit erneut einen Volltreffer. Gewohnt unaufgeregt und in ruhigem Erzähltempo begeistert das Buch nicht nur optisch mit dem knallroten Farbschnitt, sondern auch mit einem kauzig-liebenswerten Ermittler, authentischen Dialogen und spannenden ambivalenten Nebenfiguren.

Die Struktur des Romans gleicht dabei "Vor Gericht" nahezu exakt. Im ersten Teil des Buches, der mit mehr als 300 Seiten um ein Vielfaches länger ist, rekonstruiert Matz die Ermordung des 15-jährigen Riccy, wobei für kurze Momente auch immer wieder die gegenwärtigen Familienverhältnisse des Kriminaldirektors a. D. beleuchtet werden. Der zweite sehr kurze Teil befasst sich mit dem Prozess gegen Sabine Schöffling und lässt die Protagonist:innen nach 41 Jahren wieder aufeinander treffen.

Am gelungensten sind dabei vor allem die Verhöre von Manz und seinem Kollegen Borowski an der Elisabeth-Rotten-Schule. Die "zur Freiheit" erzogenen Schülerinnen und Schüler präsentieren sich zwar als künstlerische Freigeister, doch Manz bemerkt schnell, dass eine schöne Fassade allein "das Böse" nicht wegsperren kann. Durch seine unnachgiebigen Ermittlungen werden letztlich nicht nur verbale Brandsätze gelegt.

Während mich eine Dialoglastigkeit in Romanen sonst eher stört, habe ich die unverstellten und unterhaltsamen Gespräche in "Die Schülerin" sehr geschätzt. Zwischen den Zeilen blitzt immer wieder Manz' Schalk durch, der erheblich dazu beiträgt, dass man diesen Ermittler und die Buchreihe so schnell ins Herz geschlossen hat. Insgesamt strahlt "Die Schülerin" eine etwas hellere Stimmung als der Vorgänger "Vor Gericht" aus - und das, obwohl es sich bei der jugendlichen Leiche um ein wahrlich tragisches Opfer handelt. Zu Höchstform laufen die Ermittler gar auf, als es darum geht, in einem Striplokal eine Sing- und Tanzgruppe namens "Die Sirenen" zu befragen. Eine wirklich herrliche Szene, die mich sehr zum Lachen brachte und nicht nur wegen der Zeuginnen lange im Gedächtnis bleibt.

Wer sich also mit der etwas unglaubwürdigen Ausgangsprämisse abfindet, dass Manz wegen eines von Sabines Mutter vorbeigebrachten Zettels, auf dem "Du bist tot" steht, erstmals seine Ermittlungen an der Elisabeth-Rotten-Schule aufnimmt, wird in der Folge mit einem wunderbaren Kriminalfall belohnt, der ganz nebenbei auch einen Blick auf die Pädagogik der 70er-Jahre und das Berliner Stadtbild erhält. Matthias Wittekindt beweist jedenfalls erneut, dass er neben Friedrich Ani und Jan Costin Wagner zum Triumvirat der deutschen Kriminalliteratur gehört. Da freue ich mich jetzt schon, dass der Kampa Verlag bereits am 13. Oktober dieses Jahres mit "Die rote Jawa" den dritten Manz-Band veröffentlichen wird.

Bewertung vom 03.05.2022
Der Pesthof
Sommerfeldt, Albrecht

Der Pesthof


ausgezeichnet

1619, vor den Toren Hamburgs: Auf dem Hamburger Berg liegt der Pesthof - ein Ort, an dem sich der Aussatz der Hamburger Gesellschaft befindet, um sich auf sein mehr oder weniger langes Dahinsiechen vorzubereiten. Zwischen den Schwindsüchtigen, Tollen und Gichtkranken befindet sich auch Merten Overdiek, ein Hamburger Kaufmann, der zwischen all den Verstoßenen eine Sonderrolle einnimmt. Einerseits genießt er wegen seiner Bildung und seines Wohlstands ein durchaus hohes Ansehen. Doch andererseits ist er selbst unter den Kranken und geistig Verwirrten ein Außenseiter. Denn Merten hat Lepra und darf nicht einmal mit dem Rest des Hofes die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. Als es auf dem Pesthof zu diversen mysteriösen Todesfällen kommt, ergreift Merten die Gelegenheit, der Einsamkeit auf dem Hof zu entkommen und macht sich kurzerhand selbst an die Ermittlungen. Eine Entscheidung, die nicht nur ihn, sondern auch die ihn unterstützende Pflegefrau Maria in höchste Gefahr bringt...

"Der Pesthof" ist der mittlerweile dritte Historische Kriminalroman des Hamburger Autors Albrecht Sommerfeldt und - wie aus den Vorgängern gewohnt - punktet auch dieses Buch mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Schmutz, Gestank, Düsterkeit, liebenswert-kauzigen Figuren, einer gesunden Prise Humor und einer spannenden Kriminalhandlung, die bis zum Finale alles andere als vorhersehbar ist.

Während "Von Huren, Bettlern und Glunterschratzen" im Jahre 1617 und der Nachfolger "Teufelstaler" 1618 spielte, sind wir mittlerweile also im Jahre 1619 angekommen. Und so schreiten nicht nur die Geschehnisse um den Dreißigjährigen Krieg voran, sondern auch das kühne Vorhaben Albrecht Sommerfeldts, über jedes Jahr dieses Krieges einen weiteren Roman verfassen zu wollen.

Mit dem Protagonisten Merten Overdiek beweist der Autor einmal mehr, dass seine Empathie den Menschen gehört, die sich am unteren Rande der Gesellschaft bewegen. Trotz seiner liebenswerten und zugänglichen Art meiden die Leute vor allem jeglichen Körperkontakt mit ihm, und auch sonst gehen die meisten eher auf Distanz, wenn sie ihn erblicken. Bewegt er sich einmal außerhalb des Pesthofs, muss er eine sogenannte Warnklapper mit sich führen, die ihn schon von Weitem im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Aussätzigen macht. Die besten Voraussetzungen also, um im Sommerfeldt-Universum die Rolle des Helden einzunehmen. Merten zeigt im "Pesthof" eine ungemeine Präsenz und trägt die Handlung ebenso leicht auf seinen Schultern wie ihm die Sympathien der Leser:innen gewiss sein sollten.

Der eigentliche Star des Romans ist aber der Pesthof selbst. Während sich die Handlungsorte in den vorherigen Romanen vielfältiger zeigten, vollzieht sich in diesem Buch das Geschehen nahezu ausschließlich auf dem Gelände der mildtätigen Stiftung, irgendwo "im Niemandsland zwischen Hamburg und Altona", wie es im Klappentext heißt. Ein riskantes Vorhaben, das in anderen Büchern zu einer gewissen Monotonie führen könnte. Doch so atmosphärisch wie Sommerfeldt diesen Pesthof beschreibt und welch aberwitziges Ensemble sich dort ein Stelldichein gibt, macht deutlich, dass der Autor die absolut richtige Entscheidung getroffen hat. Zwischen kühlen Kellergewölben, Geheimgängen und stinkenden Gräben ist es vor allem das Tollhaus, das die Aufmerksamkeit der Leser:innen auf sich ziehen sollte.

Die Bewohner:innen des Tollhauses sind ein weiterer Beweis dafür, wie bunt und lebendig Albrecht Sommerfeldt seine Charaktere bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein entwickelt. Neben dem prophetischen Maler Michelangelo und dem Wiedersehen mit einer beliebten Figur aus "Teufelstaler" war es vor allem Caesar, der mich begeisterte und zu meiner absoluten Lieblingsfigur wurde. Caesar antwortet ausschließlich mit lateinischen philosophischen Sprichworten, macht aber mit jeder Antwort deutlich, dass der vermeintliche "Irre" alles um sich herum bis ins kleinste Detail mitbekommt - ein tragikomischer Charakter, der mich mehrfach zum Lachen brachte

Bewertung vom 02.05.2022
Ein Leben lang
Poschenrieder, Christoph

Ein Leben lang


gut

Eine Journalistin wird von ihrem Verlag damit beauftragt, ein Buch über einen aufsehenerregenden Mordfall und den verurteilten Mörder zu schreiben. Aus diesem Anlass kontaktiert sie die damalige Clique des Mannes, die während des Gerichtsprozesses mit aller Macht versuchte, die Unschuld ihres Freundes zu beweisen. Wie lebt es sich, wenn ein nahestehender Mensch seit mehr als 15 Jahren im Gefängnis sitzt? Und kann man überhaupt mit einem Mörder befreundet sein? Diese Fragen stellt Christoph Poschenrieder in seinem neuen Roman "Ein Leben lang".

Wobei ich gleich zu Beginn die Frage voranstellen möchte, ob es sich überhaupt um einen klassischen Roman handelt? Denn "Ein Leben lang" erzählt nahezu bis aufs kleinste Detail die Geschichte des sogenannten Münchner "Parkhausmordes" nach und ist mitnichten das erste Buch, das zu diesem Thema erscheint. Warum also noch ein Buch dazu? Poschenrieder beantwortet dies im Nachwort damit, dass ihn vor allem die Dynamik der Freundesgruppe interessiert hätte. Da jüngst eine neue Webseite zu diesem Fall aufgetaucht ist, die Zweifel an der Schuld des Verurteilten aufkommen lässt, kann man dem Buch zumindest eine gewisse Aktualität nicht absprechen.

Anfangs war ich sehr angetan, denn Poschenrieders Erzählweise entpuppt sich als durchaus originell. In einer Mischung aus Interviews, Memos und Zitaten aus Sachbüchern zieht er die Leser:innen direkt und unmittelbar ins Geschehen hinein. Allerdings nutzt sich diese Form doch relativ schnell ab, und spätestens ab der zweiten Hälfte des Buches empfand ich sie als einigermaßen zäh. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Figuren überhaupt keine Entwicklung zeigen und stattdessen quälend langsam die Details von den Vorwürfen an den Verdächtigen bis zur rechtskräftigen Verurteilung erzählen. Stück für Stück setzt sich daraus die Geschichte des Verurteilten zusammen.

Mein Hauptkritikpunkt ist jedoch, dass Poschenrieder der eigentlichen Frage "Was hält Freundschaft aus" wegen seiner gewählten Erzählart gar nicht gerecht werden kann. Schon die Ausgangssituation "Journalistin soll Buch schreiben, an dessen Veröffentlichung sie selbst nicht glaubt" entpuppt sich als veritabler Rohrkrepierer. Ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Projektes übertrugen sich unmittelbar auf mich als Leser, so dass ich mich irgendwann fragte, was das Ganze überhaupt soll. Poschenrieder schreibt im Nachwort, alles was die Figuren "denken, fühlen und sagen" sei fiktiv. Das Problem dabei ist allerdings, dass man es kaum für bare Münze nehmen kann, was sie in den Interviews von sich geben. Denn letztlich kann ich mir kaum vorstellen, dass man seine "wahren Gefühle" vor einer nahezu fremden Journalistin so ausbreitet. Hier fehlen dem Buch dringend notwendige innere Monologe der Figuren, die aus ihm gleichzeitig auch eher einen Roman gemacht hätten. Seinen Teil dazu bei trägt zudem auch die zeitliche Einordnung des Geschehens. Hätte man die Gedanken und Gefühle der Beteiligten nicht viel besser nachvollziehen können, wenn der Autor nicht grundlos die Perspektive "15 Jahre später" ausgewählt hätte?

So wirkte "Ein Leben lang" wegen der schier unglaublichen Nähe zum "Parkhausmord" für mich eher so, als sei Poschenrieder selbst die Journalistin aus dem Buch und hätte in Wahrheit lieber ein Sachbuch über die damaligen Figuren geschrieben. Immerhin gelingt es ihm im Finale nahezu zum ersten Mal, mich doch noch zu berühren. In den Gedanken des "Gefangenen", wie er im Buch heißt, macht der Autor bewegend klar, was eine Gefängnisstrafe aus einem Menschen macht und lädt zum Reflektieren und Hinterfragen des deutschen Justizsystems ein.

In einem anderen Buch aus dem Diogenes-Verlag - "Der große Fehler" von Jonathan Lee - stellte der Autor vor, wie sich Protagonist Andrew Haswell Green die Welt erlas: zunächst die ersten zehn Seiten des Buches, dann die letzten zehn. Schließlich noch einmal fünf von vorn und fünf von hinten. Den Rest versuchte er, sich selbst zusammenzureimen. Verwendet man d

Bewertung vom 25.04.2022
Sperling
Korbach, Katharina

Sperling


sehr gut

Als der Doktorand Wolfgang seine kleine Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg bezieht, ahnt er noch nicht, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf sein zukünftiges Leben haben wird. Denn direkt gegenüber wohnt eine junge Frau, die nachts am Küchenfenster sitzt und zeichnet. Aus der anfänglichen Faszination der Beobachtung entwickelt sich eine Art Obsession, die auch nicht schwächer wird, als Wolfgang die Identität seiner Nachbarin entschlüsselt: Es ist Charlotte, Teilnehmerin seines Literaturseminars an der Universität...

Katharina Korbach erzählt in ihrem Debütroman "Sperling" die Geschichte zweier einsamer Seelen im Großstadtdschungel Berlin. Studentin Charlotte hat sich gerade erst in Therapie bei einem mysteriösen Arzt namens Doktor Szabó begeben, um dort ihre nicht nur aus der Kindheit stammenden seelischen Narben behandeln zu lassen. Und auch Wolfgang ist ein Einzelgänger, der die familiären Erwartungen nicht erfüllen konnte und stattdessen versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Gemein haben die beiden jedoch nicht nur ihre Einsamkeit, sondern auch ihr Fremdsein in Berlin. Sie beide sind Zugereiste, auf der Suche nach Heimat und irgendwie auch nach ihrer Identität.

Korbach erzählt in kurzen, pointierten Sätzen, die durch den Einsatz des erzählerischen Präsens eine hohe Unmittelbarkeit ausstrahlen. Den Leser:innen gibt sie dadurch das Gefühl, direkt am Leben der beiden Einzelgänger:innen teilzuhaben. Seine besondere Spannung zieht "Sperling" dabei vor allem aus der ersten Hälfte des Romans, die ich für die insgesamt gelungenere halte. Wenn Wolfgang abends an seinem Fenster sitzt und Charlotte heimlich beobachtet, dabei die Lichter und Geräusche der Stadt wahrnimmt und sich immer stärker in die Beobachtung der jungen Frau verliert, überzeugt der Roman nicht nur durch seine besondere Atmosphäre, sondern sorgt auch für einen gewissen Nervenkitzel. Denn der Doktorand bewegt sich auf dünnem Eis, seine zunehmenden Avancen gleichen denen eines Stalkers, ohne dass ich ihn jedoch als explizit bedrohlich oder unsympathisch empfand. Und auch Charlottes Geschichte - die Rückblenden beim Therapeuten, ihr geheimnisvolles Sperling-Tattoo an ihrem Oberkörper - sorgte gerade zu Beginn für eine Art Sog, der man sich schwer entziehen konnte.

Leider gelingt es der Autorin nicht ganz, diese Intensität bis zum Ende des Romans durchzuhalten. Zwar stellt sich durch die häufigeren Kontakte zwischen den beiden Figuren keine gewöhnliche Beziehung ein, doch das Besondere - der Voyeurismus und die Atmosphäre - lassen wie die Spannungskurve ein Stückchen nach. Hinzu kommt, dass mir die Figuren trotz ihrer dauerhaften Präsenz und ihrer abwechselnden Perspektiven ein wenig fremd blieben. Es stellte sich keine Nähe, keine Wärme ein. Einen gehörigen Anteil daran haben fehlende innere Monologe, sowie zu viele offene Fragen.

Diese werden dann auch bis zum Finale nicht befriedigend geklärt. Obwohl ich nichts gegen offene Enden einzuwenden habe, zerfaserten mir die Erzählfäden doch zu stark. So bleiben die Verletzungen der Vergangenheit letztlich eine Behauptung, doch sie werden nicht gezeigt und erklärt, wodurch es mir auch schwerfiel, die Motive der Hauptfiguren vollends zu begreifen. Eine vertane Chance, die den Roman zu einem noch größeren Ereignis gemacht hätten. Denn dies wäre durchaus möglich gewesen, wie zwei wunderbare Szenen zeigen.

So strahlt beispielsweise das 28. Kapitel fast von ganz allein und nimmt eine Sonderstellung im Roman ein. Zwischen den ohnehin schon recht kurzen Kapiteln fasst Katharina Korbach hier auf gerade einmal etwas mehr als einer Seite prägnant und fast schmerzhaft eindringlich zusammen, was diese Beziehung zwischen Charlotte und Wolfgang zu einer besonderen macht. Da treffen sich Blicke, Körper bleiben reglos, Vorhänge bewegen sich und das Mondlicht beleuchtet den Berliner Hinterhof. Ein wirklich großartiger Moment, der allein "Sperling" schon zu einer lesenswerten Lektüre macht.

Ähnliches gelingt der Autorin

Bewertung vom 21.04.2022
Bartleby, der Schreibgehilfe
Melville, Herman

Bartleby, der Schreibgehilfe


ausgezeichnet

New York in den 1850er-Jahren: An der Wall Street führt ein namenloser Anwalt ein recht genügsames Leben. Um große Fälle bemüht er sich gar nicht erst, in seiner Kanzlei herrscht der alltägliche Bürowahnsinn. Dies ändert sich zunächst auch nicht, als er mit Bartleby einen neuen Schreibgehilfen einstellt. Der unauffällige, blasse Mann arbeitet äußerst fleißig und gewissenhaft. Doch eines Tages lehnt Bartleby es schlichtweg ab, seine Arbeit noch einmal Wort für Wort zu prüfen. "Ich möchte lieber nicht", lautet seine Antwort, die zum geflügelten Wort wird. Denn es bleibt nicht bei dieser einen Verweigerung...

Vor knapp einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. Der jüngste knallgelbe Beitrag dieser Reihe ist Herman Melvilles 1853 erschienene Erzählung "Bartleby, der Schreibgehilfe" in der Übersetzung von Elisabeth Schnack und versehen mit einem Nachwort von H. M. Compagnon. Es ist eine lobenswerte Entscheidung des Verlags, denn "Bartleby" verblüfft nicht nur mit wunderbaren Figuren, sondern auch mit einer zeitlosen Aktualität.

Wer kennt sie nicht, diese Bürotätigkeiten, die nicht nur äußerst lästig scheinen, sondern deren Sinnhaftigkeit man bestenfalls hinterfragt oder schlechtestenfalls einfach nur hinnimmt? So mag sich auch Bartleby fühlen, als sein Chef, der namenlose Ich-Erzähler, von ihm fordert, mit ihm gemeinsam ein kurzes Aktenstück zu vergleichen. Dennoch sorgt das sanft ausgesprochene "Ich möchte lieber nicht" für Bestürzung beim Anwalt, und es ist aufregend zu lesen, wie sehr er sich bemüht, seinen Angestellten wieder auf den "rechten Weg" zu bringen - und wie sehr er gleichermaßen scheitert. Denn Bartleby entpuppt sich als "faszinierendster Arbeitsverweigerer der Weltliteratur", wie es im Klappentext heißt. Jede zusätzliche Aufgabe, ja sogar die Aufforderung, das Büro umgehend zu verlassen, kontert der Schreibgehilfe mit den Worten "Ich möchte lieber nicht".

Dabei ist der Ich-Erzähler gar nicht einmal der Prototyp eines fordernden oder verständnislosen Arbeitgebers. Ganz im Gegenteil, macht er doch gleich zu Beginn deutlich: "Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen war, dass die bequemste Lebensführung die beste ist" (S. 6). Doch mit dieser Bequemlichkeit ist es vorbei, gerade eben weil jemand nicht arbeiten möchte. Diese Doppeldeutigkeit, den Triumph des Ungehorsams gegen eine Ja-Sager-Gesellschaft, den Sieg des Individualismus über den Kapitalismus, macht Melville brillant deutlich und die Erzählung ganz nebenbei zu einem Stückchen mit höchster Aktualität.

Melvilles Schreibstil ist dabei so einnehmend wie unterhaltsam. Die Charakterisierung der herrlich verschrobenen Figuren gelingt ihm eindrücklich bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. Die mit feinsinnigem Humor unterlegte erste Hälfte verwandelt sich mit zunehmender Verweigerung Bartlebys zu einer tragischen Groteske. Untermalt wird das Ganze mit einer gehörigen Portion Rätselhaftigkeit, denn letztlich bleiben die Motive des Schreibgehilfen nebulös und regen die ohnehin schon geschärften Sinne der Leser:innen zum Nachdenken an.

Und so bringt "Bartleby, der Schreibgehilfe" nicht nur wegen der auffälligen Colorierung Farbe ins Bücherregal, sondern auch wegen seines zeitlosen Inhalts. "Bartlebys aller Länder, vereinigt euch!", möchte man den stillen Büroangestellten dieser Welt zurufen und sich in Gedanken an diese wunderbare Erzählung schon auf den Gesichtsausdruck der Chefin freuen, wenn man ihr beim nächsten Arbeitsauftrag sanft, aber bestimmt entgegnet: "Ich möchte lieber nicht!"

Bewertung vom 19.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


sehr gut

Als Andrew Green am Freitag, dem 13. November 1903 am hellichten Tage vor seinem Haus erschossen wird, steht die Polizei vor einem Rätsel. Zwar steht mit Cornelius Williams der Täter von Beginn an fest, doch was war das Motiv des Mannes? Über die Suche danach und über das Leben des "Vaters von Greater New York" schreibt Jonathan Lee in seinem neuen Roman "Der große Fehler".

Lobend hervorzuheben ist zunächst einmal Lees eigenes Motiv, diesen Roman schreiben zu wollen. Denn Andrew Haswell Green, Mordopfer und Protagonist, ist selbst in den USA zumindest bis zum Erscheinen des Romans mittlerweile nahezu in Vergessenheit geraten. Dabei verdanken die New Yorker ihm unter anderem den Central Park und die New York Public Library. Mit seiner sensiblen Hommage setzt Lee dem "vergessenen Helden" zumindest ein literarisches Denkmal, wenn schon im Central Park nur eine einzelne Bank dessen Namen ziert.

So sind es vor allem auch die biografischen Details aus Greens Leben, die "Der große Fehler" zu einer berührenden und lesenswerten Lektüre machen. Denn bei der Lösung des Kriminalfalls verrennt sich der Autor bisweilen in seiner Mischung aus skurrilen, kauzigen Nebenfiguren und abschweifenden Details, die den Roman unnötig in die Länge ziehen.

Feinfühlig nähert sich Lee jedoch dem Mann, der sich aus einer Bauernfamilie hochkämpfte und dabei nicht nur mit gesellschaftlichen Widerständen konfrontiert wurde. Denn Greens Leben ist auch von inneren Kämpfen geprägt, von seiner Homosexualität, seiner wechselhaften und launischen Beziehung zu seinem "besonderen Freund" Samuel Tilden, einem späteren Präsidentschaftskandidaten. In der Figurenzeichnung seines zerrissenen Helden setzt Jonathan Lee dadurch eindeutig die stärksten Akzente.

Nicht entmutigen lassen sollten sich die Leser:innen deshalb vom missglückten Beginn des Romans, bei dem Lee in altmodisch-onkeligem Humor offenbar besonderen Wert darauf legte, sämtliche Nebenfiguren als mehr oder weniger liebenswert und kauzig darstellen zu wollen. Während ich mich an den etwas altbackenen Stil relativ schnell gewöhnte, nahmen die humoresken Anteile glücklicherweise immer stärker ab, je mehr sich Lee in die Kindheit und Jugend seine Protagonisten begab.

Insgesamt bleiben der Kriminalfall und seine Auflösung erzählerisch recht klar hinter der Entwicklungsgeschichte Andrew Greens zurück und sorgen in meinen Augen auch nicht für die notwendige Spannung.

Ganz nebenbei erhalten die Leser:innen dafür aber einen unterhaltsamen Blick auf die Geschichte New Yorks, wobei es Jonathan Lee jedoch nur ansatzweise gelingt, atmosphärische Bilder dieser Stadt vor den Augen der Leserschaft entstehen zu lassen.

So ist "Der große Fehler" insgesamt keine Enttäuschung, wenn man die hohen Erwartungen ein ganzes Stück zurückschraubt. Vom auf der Rückseite vom Guardian zitierten "besten amerikanischen Roman des Jahres" dürfte das Buch in meinen Augen jedoch recht klar entfernt sein. Wer sich gern mit historischen Persönlichkeiten befasst und deren Entwicklung folgen mag, kann mit dem Buch aber nicht viel falsch machen. Fans von anspruchsvoller Kriminalliteratur kommen hingegen nicht auf ihre Kosten.

Bewertung vom 14.04.2022
Kasernen-Cowboy
Kudziela, Rainer

Kasernen-Cowboy


sehr gut

Als die Mutter des Jungen im Februar 1945 mit dem Säugling vor den russischen Truppen flieht, beginnt eine Odyssee über Bauernhöfe im Alten Land, die erst mit dem Einzug in eine verlassene Kaserne bei Stade, dem sogenannten "U-Block", eine gewisse Stabilität findet. Unter zahlreichen anderen Flüchtlingsfamilien sucht sich das Kind seinen eigenen Weg und erlebt dabei Schönes und Trauriges, Nebensächliches und Grundsätzliches. Doch all diese Erinnerungen sind für ihn "Momente, in denen das Herz des Jungen schneller und heftiger schlägt als sonst." So erfahren wir es im Vorwort des bewegenden Memoirs "Kasernen-Cowboy" von Rainer Kudziela.

Es ist ein Buch, das die Leser:innen von Beginn an für sich und seinen kleinen Protagonisten einnimmt, mit seinem unmittelbaren Stil und seinen kurzen prägnanten Sätzen. Kudziela wählt dabei das erzählerische Präsens, das zu dieser Unmittelbarkeit und Intensität entscheidend beiträgt. Um sich selbst den nötigen Abstand zu ermöglichen, erzählt er nicht in der Ich-Perspektive, sondern schreibt in der dritten Person von sich und seinen existenziellen Momenten. Ein kluger Schachzug, der es trotz dieser sehr persönlichen Begebenheiten den Leser:innen ermöglicht, sich zeitweise wie in einem Roman zu fühlen. Trotz der Knappheit der Sätze funkelt der "Kasernen-Cowboy" dabei auch sprachlich schön, insbesondere wenn der Junge durch unwirtliche Landschaften wie ein abgesperrtes Kasernen-Gebiet wandert, welches die Natur längst für sich zurückerobert hat.

Bemerkenswert ist dabei die Ehrlichkeit Kudzielas. Er beschönigt nichts, weder im Hinblick auf seine familiäre Herkunft, noch auf die Taten und Worte des Jungen. So berichtet er beispielsweise unverblümt über die SS-Vergangenheit des Vaters.

Die Leser:innen folgen dem Jungen auf dessen Erlebnissen im Alter von ca. drei Jahren bis zum Abitur mit 20 Jahren. Dabei haben mich vor allem die kleinen Momente sehr berührt. Etwa wenn der Junge zu Ostern in aller Frühe einen Fliederstrauch pflückt, um seiner Mutter eine Freude zu machen, diese dann aber völlig emotionslos reagiert und den Strauch überhaupt nicht kommentiert. Oder wenn er ein Foto seines früh verstorbenen großen Bruders betrachtet und darüber philosophiert, dass es seine eigene Geburt, seine Existenz vielleicht gar nicht gegeben hätte, wenn Wilfried nicht diesen schrecklichen Unfall gehabt hätte.

Ich bin diesem Jungen sehr gern gefolgt, habe mit ihm gelacht, mich mit ihm gefreut, mit ihm getrauert und mich über ihn geärgert. Zudem schaffte es Kudziela, dass ich mich nie gelangweilt habe, obwohl das Buch mit seinen gut 300 Seiten gar kein so dünnes ist.

Ein wenig gestört hat mich, dass die Gliederung des Buches eher thematisch als chronologisch angelegt ist. So gibt es diverse Zeitsprünge, bei denen der eben noch 14-Jährige im nächsten Moment wieder zehn ist. Außerdem ließen sich durch diese Gliederungen kleinere thematische Wiederholungen nicht vermeiden.

Überrascht hat mich, dass die Auseinandersetzung mit der SS-Vergangenheit des Vaters nur einen sehr kleinen Raum einnimmt. Eigentlich findet sie nur durch die jüngere Schwester kurz statt, der Junge selbst verdrängt sie mehr oder weniger erfolgreich. Hier hätte ich gern - eventuell im Nachwort - erfahren, ob es diese Aufarbeitung zumindest im Erwachsenenalter des Protagonisten gegeben hatte.

"Kasernen-Cowboy" ist dennoch ein sehr lesenswertes und berührendes Buch geworden, das gerade auch Freunde des Entwicklungsromans und der Coming-of-Age-Literatur ansprechen dürfte, denn an der Entwicklung des kleinen liebenswerten Burschen nehmen die Leser:innen wirklich von Beginn an mit hoher Intensität teil. Wer sich allerdings eine Auseinandersetzung mit der Vaterfigur wünscht, wie es zuletzt Felix Schmidt in seinem Memoir "Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte" sehr gut gelungen ist, dessen Erwartungen dürften hier nicht erfüllt werden.

Bewertung vom 12.04.2022
Die Molche
Widmann, Volker

Die Molche


ausgezeichnet

Anfang der 1960er-Jahre sieht sich der elfjährige Max in einem bayrischen Dorf einer älteren Jungenbande ausgesetzt, die vom äußerst gemeinen und gewalttätigen Tschernik angeführt wird. Als die Jungen mit Steinen bewaffnet Jagd auf Max' ein Jahr jüngeren Bruder machen, kommt es zur Katastrophe. Wie geht ein Kind damit um, wenn es seinen Bruder sterben sieht, weil es selbst nicht rechtzeitig eingegriffen hat? Wie lebt und überlebt es mit dieser Schuld in einer Welt voller schweigender und kriegstraumatisierter Erwachsener? Darüber schreibt Volker Widmann in seinem wunderbar gelungenen Debütroman "Die Molche".

Es ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Coming-of-Age-Roman geworden und ein äußerst wertvoller neuer Beitrag zu diesem ja doch recht umfangreichen Genre. Denn Widmanns Debüt ist alles andere als gefällig und wird die Leser:innen mit Sicherheit stark polarisieren.

Über jeden Zweifel erhaben dürften zunächst einmal die zahlreichen Beschreibungen sein, in denen Widmann vor allem in Naturszenen sein großes Können entfaltet. Farben, Gerüche, Geräusche - so bildhaft, poetisch und malerisch hat zuletzt wohl Florian Knöppler im ebenfalls großartigen "Kronsnest" geschrieben. Ich-Erzähler Max nimmt sein Umfeld mit einer so großen Intensität wahr, dass ich als Leser das Gefühl hatte, teilzuhaben am Gang über "zerbrechende Kiefernnadeln" und bei der Beobachtung "einer männlichen Zauneidechse im grünen Hochzeitskleid". Ich spürte die klirrende Kälte beim Schlittenfahren und hörte die zirpenden Grillen in der Sommerhitze. Allein dieses bildhafte Erzählen macht "Die Molche" zu einem Ereignis, das weit über den gewöhnlichen Entwicklungsroman hinausgeht.

Doch Widmann verlässt sich nicht allein auf die Schönheit der Sprache und polarisiert im starken Kontrast dazu nicht nur mit ungewöhnlich harten Szenen wie der Ermordung des Bruders, die bereits im ersten Kapitel ein früher Schock für die Leserschaft ist und sie recht unvermittelt aus der gepolsterten Lesekomfortzone reißt oder dem ungeschönten Schlachten eines Schweines. Auch die Sprache der Kinder gleitet mitunter ins Derbe ab, gerade wenn es ums sexuelle Erwachen geht, das in "Die Molche" einen ungewöhnlich großen Raum einnimmt.

So präsentiert sich der elfjährige Max doch recht frühreif, und insbesondere die sexuell expliziten Szenen mit der etwas älteren Ellie könnten einigen Leser:innen anstößig vorkommen. Letztlich wirkten sie auf mich aber konsequent, denn die Welt von Max und seinen Freunden und Feinden ist eine Welt, in der die Kinder viel zu früh erwachsen werden müssen, weil die Erwachsenen selbst - wenn überhaupt - nur körperlich anwesend sind. Wenn die Väter noch leben, sind sie gewalttätige kriegstraumatisierte Schweiger, die ihren Kindern beim Erwachsenwerden ebenso wenig eine Unterstützung sind wie die Mütter, die sich mehr oder weniger ihrem Schicksal der verwundeten Familie ergeben. So glauben die Erwachsenen beispielsweise, dass Max' Bruder seinem schwachen Herzen zum Opfer gefallen ist, während jedes Kind die Wahrheit kennt.

Diese frühe Reife drückt sich auch im Wortschatz und Verhalten der Kinder aus, wodurch ich manchmal den Eindruck bekam, es würde nicht authentisch erzählt. Doch aufgrund des stimmigen Gesamtkunstwerks störte mich dies mit der Zeit gar nicht mehr.

Die stärkste Szene des gesamten Romans ist gleichzeitig die Schlüsselszene, der das Buch seinen Namen zu verdanken hat. Ab Seite 96 gibt sich Max auf mehreren Seiten komplett der Natur hin, man bekommt sogar den Eindruck, als verschmelze er mit ihr. Es ist eine hinreißende, fast kontemplative Szene, die wohl niemand so schnell vergessen wird, der sie gelesen hat. In meinen Augen ist es eine der bemerkenswertesten Szenen überhaupt, die ich in den vergangenen Jahren lesen durfte und ich kam nicht umhin, sie gleich mehrfach genießen zu wollen. Die Molche, die Max in dieser Szene findet, werden nicht nur Max' Leben ändern, sondern treiben auch den Roman in eine andere Richtung, die biswe

Bewertung vom 07.04.2022
Das Mädchen, das man ruft
Viel, Tanguy

Das Mädchen, das man ruft


gut

Eine kleine Hafenstadt in der Bretagne: Max Le Corre, ein abgehalfterter Boxer, der als Chauffeur des Bürgermeisters Quentin Le Bars arbeitet, legt bei seinem Chef ein gutes Wort für seine Tochter ein. Die 20-jährige Laura ist gerade aus Rennes zurückgekehrt und sucht in ihrer Heimatstadt nun eine Wohnung und einen Job. Und siehe da: Le Bars lässt seine Beziehungen spielen und besorgt ihr beides innerhalb kürzester Zeit - jedoch nicht ohne Hintergedanken, denn ohne gewisse "Gefälligkeiten" macht so ein Provinzbürgermeister schließlich keinen Finger krumm...

"Das Mädchen, das man ruft" ist der neue Roman des französischen Autors Tanguy Viel, der kürzlich im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Der Roman mit dem recht sperrigen Titel ist eine Mischung aus Krimi und Sozialdrama und punktet vor allem durch seine originelle Erzählweise. Denn Viel breitet auf gerade einmal 160 Seiten das gesamte Spektrum seines literarischen Könnens nahezu komplett aus und trifft dabei zumeist den richtigen Ton.

Zugegebenermaßen dauert es eine Weile, bis man sich als Leser:in an die vielen Verschachtelungen und an den Bewusstseinsstrom gewöhnt, an die endlos wirkenden Bandwurmsätze, die zum Teil ganz oben auf einer Seite beginnen und sich manchmal bis über die Seitenmitte hinwegziehen, hier einen Schlenker einlegen, um Boxer Max apathisch in einer Autowaschanlage zu beobachten oder sich plötzlich im Casino der Stadt wiederfinden, wo Bürgermeister Quentin Laura gerade besucht, um sich eine der besagten "Gefälligkeiten" abzuholen und dabei nicht aufgehalten wird, weder von Casino-Inhaber Franck, der aber ohnehin ein recht schmieriges Bündnis mit dem Bürgermeister eingegangen ist, so glauben wir es zumindest, wenn wir uns die erste Szene in Erinnerung rufen, noch von Francks Schwester Hélène, von der man sich dann als Leser:in doch noch eine gewisse Unterstützung für Laura erhoffte, aber Pustekuchen.

Mir gelingt es natürlich nicht einmal ansatzweise, so gut zu formulieren, aber der oben stehende Satz könnte zumindest als exemplarisch betrachtet werden. Nach den geschilderten Anpassungsschwierigkeiten fand ich diesen Erzählstil jedenfalls durchaus gelungen, auch wenn Viel es bei seinen Metaphern manchmal übertreibt und nicht jede davon sitzen mag.

Durch den Schreibstil wirkt die eigentliche Handlung jedoch recht aufgebauscht, denn die Geschichte ist relativ simpel zusammenzufassen: Ein junges Mädchen in Not lässt sich sexuell von einem Machtmenschen ausnutzen, ohne direkt dagegen zu protestieren, während ihr naiver Boxer-Vater den Bürgermeister sogar noch zu diesen Treffen karrt. Ein wenig "MeToo in der Bretagne" und thematisch recht gefällig, denn wer mag schon Widerworte dagegen erheben, dass eine solche Geschichte ihre Berechtigung hat, erzählt zu werden?

Dennoch gelingt es dem Autoren über weite Strecken ziemlich gut, trotz der simplen Handlung einen veritablen Spannungsbogen aufzubauen, denn tatsächlich fiel es mir schwer, vorauszusehen, in welche Richtung sich diese Geschichte denn nun entwickeln wird.

Und so ist die größte Schwäche in meinen Augen auch gar nicht die Handlung, sondern es sind die Figuren, die fast schon erschreckend eindimensional geraten sind. Auf der einen Seite der Bürgermeister, ein korrupter Machtmensch aus dem Lager "Old White Man" und sein Lakai Franck, ein Provinzlude im weißen Anzug - auf der anderen Seite Laura, eine Art Fille Fatale, die sich ihrer Reize durchaus bewusst ist, aber nicht in der Lage scheint, gegen den Missbrauch zu protestieren und ihr völlig verblödeter Boxer-Vater, der offenbar nicht erst im letzten Boxkampf seine finalen Hirnzellen geopfert hat. Gerade Boxer Max ist ein echtes Ärgernis, denn selbst Tanguy Viel scheint keine große Empathie für den armen Tropf übrig zu haben. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass auch ich keinen Zugang zu den Figuren fand und mir ihr Schicksal größtenteils leider egal blieb.

Insgesamt ist "Das Mädchen, das man ruft" trotz dieser Kritikpunkte ei

Bewertung vom 05.04.2022
Was es braucht in der Nacht
Petitmangin, Laurent

Was es braucht in der Nacht


ausgezeichnet

Fus und sein kleiner Bruder Gillou werden seit dem Tod der Mutter von ihrem Vater, einem Monteur bei der französischen SNCF, allein großgezogen. Während sich Fus zuhause liebevoll um den drei Jahre jüngeren Gillou kümmert, lassen seine schulischen Leistungen immer stärker nach. Spätestens als er in die Kreise rechter "Front National"-Freunde gerät, läuten beim sozialistischen Vater die Alarmglocken. Doch das familiäre Unheil scheint nicht aufzuhalten... Wie geht ein Vater damit um, wenn er nach und nach den Zugang zu seinem Sohn verliert und wie weit würde er gehen, um diesen verlorenen Sohn zu schützen und zurückzugewinnen? Davon erzählt Laurent Petitmangin in seinem bewegenden Debütroman "Was es braucht in der Nacht".

Es ist ein kurzer Roman von gerade einmal knapp 160 Seiten, dem es dennoch gelingt, große und wichtige Fragen zu stellen. Der Vater ist der Ich-Erzähler, und Petitmangin schafft es, seinem Protagonisten eine schnörkellose und authentische Stimme zu geben. Die Sätze sind kurz und unsentimental, doch gerade deshalb umso berührender. Denn auch wenn der Vater vieles verschweigt und es ihm sichtlich schwerfällt, seine Gefühle den Kindern gegenüber offen zu formulieren, spürt man sie zwischen den Zeilen überdeutlich: den Stolz, die Liebe, aber auch die Wut, den Schmerz, die Scham.

Das macht "Was es braucht in der Nacht" zu einer Besonderheit, denn in der Literatur gibt es trotz Édouard Louis noch immer recht wenige Romane, die sich mit den Emotionen und der Sprachlosigkeit von Menschen, insbesondere Männern, aus dem Arbeitermilieu beschäftigen und dabei von einem Autoren geschrieben wurden, der selbst aus diesem Milieu kommt. Denn Laurent Petitmangin, so erfahren wir im Klappentext, stammt aus einer Bahnarbeiterfamilie und aus Lothringen - genau wie die Protagonisten aus seinem Roman.

Zentrales Element der Handlung ist die entsetzliche Lücke, die der Krebstod der Mutter in die Familie reißt. Fus, zum Zeitpunkt des Todes gerade einmal zehn Jahre alt, wird fortan versuchen, diese Lücke ansatzweise zu füllen und seinen berufstätigen Vater in allen Belangen zu unterstützen. Der Vater scheint auf den ersten Blick nicht viel falsch zu machen, aber seine Berichte aus dieser Zeit sind auch äußerst verknappt. So sagen in einer besonders bewegenden Szene die beiden Jungen das Endspiel ihres geliebten Ferien-Fußballcamps ohne jegliches Murren ab, nur um dem Vater eine gut bezahlte Zusatzarbeit zu ermöglichen. Und das bei einem Jungen, der seit dem dritten Lebensjahr nur "Fus" genannt wird, weil er den Fußball so sehr liebt. Diese Szene ist ein besonders eindringliches Zeichen dafür, dass die Jungen viel zu früh erwachsen werden müssen - und Fus diese Lücke letztlich nicht schließen kann, worunter auch seine schulischen Leistungen immer stärker leiden.

Als Fus in die rechte Szene schlittert, findet der Vater, der seinen Söhnen zwar nicht emotional aber intellektuell unterlegen scheint, keinen Zugang mehr zu ihm und es findet eine beidseitige Abnabelung statt, die im letzten Drittel des Romans in eine Katastrophe mündet. Hier stellt der Roman die großen Fragen, ohne darauf Antworten zu geben. Er regt stattdessen zum Nachdenken an: Wie würdest du reagieren, wenn dein Kind dir entgleitet? Was bist du bereit für dein Kind zu opfern? Das Finale ist dabei so schmerzhaft wie intensiv und ließ mich bewegt und erschüttert zurück.

"Was es braucht in der Nacht" von Laurent Petitmangin ist ein Roman, der gleichermaßen schroff wie zärtlich ist, der aufrüttelt, wütend macht und schockiert. Es ist ein Entwicklungsroman, ein Roman über die Liebe eines Vaters zu seinen Kindern, ein Familien- und Gesellschaftsdrama, das nicht nur wegen der bevorstehenden Präsidentenwahl in Frankreich von großer Aktualität ist. Ein Roman, der lange nachwirkt. Eine Besonderheit.