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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 106 Bewertungen
Bewertung vom 04.10.2023
I love you, Fräulein Lena
Aden, Hanna

I love you, Fräulein Lena


ausgezeichnet

Niebüll im Nachkriegssommer 1945 - Leichtigkeit und Liebe treffen auf Schuld, Schweigen und Verantwortung

Deutschland 1945 das Kriegsende steht kurz bevor, die Alliierten teilen das Land bald in Besatzungszonen. Die alte Ordnung in Auflösung begriffen, die Neue noch im entstehen. In diese Zwischenzeit entführt uns Hanna Aden in „I love you, Fräulein Lena“.

Titelgebend ist die 19 Jährige Lena Buth, gemeinsam mit der 14 Jährigen Schwester Margot, Pastorentöchter aus Pommern, nun zwei von vielen Flüchtlingsmädchen, die in Niebülll, nahe der dänischen Grenze, ein Dach über dem Kopf suchen. Im Vertrauen auf ihre familiale Sozialisation als Pastorentöchter und einen früheren Rat ihres Vaters, klopfen die beiden an das örtliche Pfarrhaus und werden dort aufgenommen. Hier erleben sie nun den ersten Nachkriegssommer, und werden mit Erlebnissen und Gefühlen konfrontiert, die so oder so ähnlich wohl an vielen Orten in Deutschland zu dieser Zeit alltäglich waren. Lena, für die die Großmutter der Autorin als historisches Vorbild diente, ist eine unglaublich couragierte, intelligente junge Frau und es ist eine wirkliche Freude, sie in diesen Zeilen zu begleiten, bei ihrem Weg, trotz Ausgrenzung und Vorurteilen gegenüber Geflüchteten in dieser Zeit, eine neue Heimat zu finden, eine Familie und Liebe und letztlich auch die Frau, die sie selbst mit allen Erfahrungen der Kriegsjahre geworden ist und sein möchte.

Der Roman überzeugt mich besonders durch seinen sensiblen und differenzierten Blick auf den 2. Weltkrieg und den ersten Nachkriegssommer, eingefangen in den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Figuren. Seien es ein britischer Offizier, der nun Besatzungsmacht ist, ein im Krieg verwundeter und aufgrund dessen später für untauglich eingestufter junger Deutscher, ein ehemaliger KZ Wärter, der seine Rolle im NS-Regime nun zu verschleiern sucht, Margot und Lena als Flüchtlingsmädchen, und die vielen Frauen und Kinder, die die harten Kriegsjahre in der Heimat, mit ganz eigenen Entbehrungen verbracht haben, sie alle verhandeln in sich die schwierigen Gefühlslagen, zwischen Schuld und individueller Verantwortung, Schweigen und Aufbegehren, Richtig und Falsch, im Kontext von Krieg und Ideologie. Dabei immer im Blick und über allem schwebend die Singularität des Holocausts, das Unbegreifbare.

An keiner Stelle macht es sich die Autorin leicht, möchte keine Antworten geben, die es vermutlich ohnehin nicht geben kann. Und trotzdem erzeugt sie mit ihrem Schreibstil beim Lesen eine Leichtigkeit, die die Geschichte nur so dahinfließen und nicht mehr aus der Hand legen lassen.

Eine klare Empfehlung, mit der Hoffnung auf mehr von Lena, und auch Hanna Aden!

Bewertung vom 01.10.2023
Südstern
Staffel, Tim

Südstern


sehr gut

Eine Ode an Berlin - die Rohheit der Großstadt und die Zärtlichkeit einer Begegnung

Vanessa Mitte 20, Pharmakologin, sieht in einem ambitionierten Drogenkurierservice eine sinnvollere Option als in einem Masterstudium, sehr zu Frustration und Unverständnis ihres Freundes, der wiederum aufstrebender Politiker ist. Deniz, Polizist, schiebt aufgrund von Personalmangel permanent Doppel- und Dreifachschichten und kümmert sich in jeder freien Minute um seinen an Parkinson erkrankten Vater, versucht alles und trotzdem ist es angesichts fehlender Unterstützung der Pflegekasse immer zu wenig. Und um all dies schließt sich Berlin, groß, derb, schnell, wie auch Sprache und Gedanken in Südstern. Tim Staffel schreibt, als verfolge man in Echtzeit die Gedanken der ProtagonistInnen, und erzeugt damit eine Unmittelbarkeit, die mich oft ans Theater erinnert hat.

Es sind Vanessa und Deniz, ihre Begegnung und behutsame Annäherung, die als seltsames Gegenstück zu und Insel in der rauen, manchmal gar rohen Großstadt wirkt. Während sich um Vanessa und Deniz ein Band knüpft, werden über zahlreiche Nebenfiguren einige der zentralen Themen der Gegenwart thematisiert: die oft unzureichende Versorgung von Kranken und Menschen mit Behinderung im aktuellen Gesundheitssystem, Medikamentenmissbrauch und Drogenkonsum um der Leistungsgesellschaft und den Anforderungen einer immer rauer werdenden Gesellschaft zu entsprechen bzw. zeitweise zu entfliehen, PTBS in der Bundeswehr, No Go Areas in Städten, Rassismus bei der Polizei, Mangelnde Akzeptanz und Respekt vor der Polizei, die Sinnlosigkeit im Politikbetrieb als ewiges Karussell von Wahl und Wiederwahl ohne Substanz und Inhalte, um nur einige zu nennen.

Das ist viel, manchmal vielleicht zu viel. Und trotzdem kann der Roman überzeugen, nicht als schöne, leichtgängige Lektüre, sondern Gegenwartsliteratur, die die rauen Seiten der Gegenwart in ihrer Deutlichkeit einfängt und ihnen trotzdem Zärtlichkeit und Hoffnung entgegensetzt.

Bewertung vom 27.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


ausgezeichnet

Ein Buch für alle Lebenshandwerkerinnen, Chamäleons und Kümmerrerinnen, die oft den wichtigsten Menschen in ihrem Leben vergessen - sich selbst!

Katha macht alles richtig - zumindest für alle anderen! Nichts kann sie so gut, wie sich unsichtbar machen, es anderen recht machen, auf magische Weise funktioniert alles, dank Katha! Die Sache hat nur einen Haken - funktioniert das auf Dauer auch für Katha? Funktioniert es für irgendeinen Menschen, der oder die alle eigenen Bedürfnisse zurückstellt, und dabei fast zwangsläufig den Zugang zu sich selbst verliert, oder nie findet, und damit auch zum eigenen Glück?

Wie begegnen im Roman zunächst der erwachsenen Katha, Ende 20, wohnhaft in Berlin, die uns bereits nach wenigen Seiten mit in die Erinnerung an ein prägendes Jahr ihrer Jugend, vielleicht das bis dato wichtigste ihres Lebens, mitnimmt. Katha ist in dieser Vergangenheit 14, ihre Eltern haben sich gerade getrennt, sie zieht mit Mutter und der jüngeren Schwester Nadine zurück in die Heimatstadt ihrer Mutter, nach Dortmund.

Während ihre Mutter mit der neuen Situation überfordert ist, ihre kleine Schwester rebelliert, macht Katha, das, was sie immer tut - sie antizipiert die Wünsche und Erwartungen ihres Umfelds, kümmert sich um ihre Schwester, Haushalt etc., versucht Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen, und wenn doch räumt sie sie aus dem Weg. Sie funktioniert perfekt und ist stolz darauf.

Erst als sie auf Lica trifft, Mutter einer ihrer neuen Freundinnen, beginnt sie sich selbst in Frage zu stellen. Denn Lica ist anders, anders als alle Frauen, die sie bisher kennengelernt hat, sie fasziniert Katha und Katha beginnt zu ahnen, dass dieses anders vielleicht genau richtig ist. Doch dann wird Lica krank und Katha muss sich abermals in Frage stellen.

Der Roman bewegt sich zwar in weiten Teilen in Kathas Jugend, doch ihre Überlegungen sind oft fast universell, so dass sich vermutlich viele Frauen unabhängig ihres Alters darin wiederfinden werden.

An der Geschichte und Figur von Katha zeigt Sina Scherzant eindrucksvoll auf wie Strukturen, auch patriarchale, Schönheitsideale etc. auf uns wirken und wir uns unter ihnen verbiegen bis zur Selbstauflösung. Alle anderen sind glücklich, was spielt es da für eine Rolle, dass der Preis mein Selbst ist? Es sind diese internalisierten Erwartungen, die Scherzant an die Oberfläche bringt und damit sichtbar macht.

Emanzipation, Umgang mit Trauer und Schmerz, Frauenfreundschaften und Konkurrenzdenken all das sind Themen die Scherzant wie nebenbei in die Geschichte einflicht und dies in einer leichtfüßigen Sprache, die Schwere und wichtige Themen, quasi spielend vermittelt.

Ein wundervoller Gegenwartsroman, den ich uneingeschränkt empfehlen kann!

Bewertung vom 24.09.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


sehr gut

Eine etwas andere Erinnerungsreise in eine jüdische Familiengeschichte und zu Nazischätzen in Schlesien

Eine ganze Generation ohne Großeltern. Eigentlich unvorstellbar und trotzdem ruft dieser Umstand angesichts seiner Verbreitung und dadurch „Normalität“ keine Verstörung hervor. Bis Menachem Kaiser, Jahrgang 1985, Unterlagen seines Großvaters mit dessen eigenhändiger Schrift findet und so mehr über dessen Leben und seinen stillen Kampf für die Restitution erfährt. Nun ist es für den Autor Zeit und Grund verstört zu sein und damit auch für dieses wichtige Buch!

Menachem Kaiser, aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Toronto, nimmt uns mit auf seine Reise in die Vergangenheit seiner Familie, die Kriegsjahre und den Holocaust mit all seinen furchtbaren Leiden, in das heutige Polen und nicht zuletzt auch zu sich selbst.

Was als Suche nach dem Haus seines Großvaters in Polen beginnt, entwickelt sich zu skurrilen Begegnungen mit polnischen Schatzsuchenden, einer frustrierenden Auseinandersetzung mit der polnischen Bürokratie und Justiz und neuen, ungeahnten Entdeckungen und Einsichten in die Historie seiner Familie über seinen Großvater hinaus.

Der große Raum den Schatzsuchende und Abraham Kajzer in der Geschichte einnehmen führt dazu, dass sich der Autor immer wieder in einem Spannungsfeld zwischen Erinnern und Folklore befindet und auch darüber reflektiert er in diesem Buch.

Es ist eine Spurensuche, die nicht linear verläuft, sondern von Fehlinterpretationen, Fehleinschätzungen und Irrtümern gesäumt ist. Und man gewinnt den Eindruck, dass dies das eigentliche Anliegen des Autors ist, ein anderes, vielleicht auch realistischeres Bild des Erinnerns, einer Erinnerungskultur und von (Familien)Geschichte als solches zu vermitteln. Geschichte mit Emotion und Empathie, an den Punkten und Enden, an denen Fakten uns im Stich lassen, Erinnerungen sich widersprechen. Ein Erinnern, das nicht linear ist, manchmal dafür schwer zugänglich. Und nicht zuletzt, dass Erinnern selbst etwas ist, das uns näher zu uns selbst bringt.

Die langen Abschnitte über polnische Schatzsucher*innen und vermeintliche Geheimprojekt sind zwar interessant, jedoch nach meinem Geschmack zu ausführlich, dafür dass sie die eigentliche Handlung nur streifen. Sprachlich konnte mich das Buch nicht konsequent überzeugen, was jedoch auch an der Übersetzung liegen mag.

Kajzer ist kein typisches Erinnerungsbuch. Es ist eine jüdische Erinnerungsreise ohne eigene Erinnerung, der Versuch über Orte und Relikte ein Gefühl für die schwierige Vergangenheit, eine kollektive Erinnerung und die eigene Familiengeschichte zu gewinnen. Und dabei alle Ambivalenzen, Zweifel und Hindernisse, die ein solches Vorhaben mit sich bringt, nicht verschweigt, sondern ganz bewusst dokumentiert und reflektiert. Und genau darin liegt das große Verdienst des Buchs von Menachem Kaiser!

Bewertung vom 20.09.2023
Dich zu verlieren oder mich
Qaderi, Homeira

Dich zu verlieren oder mich


ausgezeichnet

Der Brief einer mutigen Rebellin, Frauenrechtlerin und Mutter an ihren Sohn und die Welt

In was für einer Welt leben wir, in der 16-Jährige mal eben, wie eine Sklavin oder ein Stück Vieh an einen Kommandanten verheiratet und Frauen gegen Kampfhunde eingetauscht werden? Und das alles im Jahr 1996, nicht im Mittelalter? Und auch jetzt und heute, im Jahr 2023 während ich diese Rezension schreibe, können abermals afghanische Mädchen nicht zur Schule gehen, wachsen in einem repressiven, frauenverachtenden System auf, und ein ganzes Land versinkt abermals in Terror und Repression mit allen Folgen, die dies für die Bewohnerinnen und Bewohner hat. Was dies für die und den Einzelne*n bedeutet, davon haben wir dank der mutigen autobiographischen Zeilen von Homeira Qaderi nun ein weiteres konkretes, furchtbares Bild vor Augen.

„Dich zu verlieren oder mich“ ist als Brief an Homeira Quaderis Sohn verfasst. Die einzelnen Kapitel im Erzählstil, in denen Homeira Qaderi ihren Lebens- und viel zu oft Leidensweg als Mädchen und Frau in einem repressiven, patriarchalischen System beschreibt, enden jeweils mit sehr persönlichen Worten in denen sie ihren Sohn Siawash direkt adressiert. Diese Passagen sind sehr emotional und lassen uns an Qaderis tiefsten Empfindungen teilhaben. Der Autorin gelingt es in Worte zu fassen, was eigentlich kaum zu beschreiben ist, die innere Zerrissenheit zwischen ihrer Mutterrolle und tiefen Liebe zu ihrem Sohn und dem Bewahren ihrer Identität als Mensch und als Frau in einem repressiven frauenverachtenden System. Es ist dieser große Schmerz einer Mutter und Frau, der aus jeder Zeile an ihren Sohn spricht und fühlbar wird.

Erschreckend ist mit welcher fast Normalisierung die kindliche Homeira Krieg und Gräuel wahrnimmt, einfach weil sie nicht viel anderes kennt und es zu ihrem Aufwachsen dazu gehört. Umso beeindruckender ist wie bereits die junge Homeira bestehende Normen in Frage stellt, ihr Gerechtigkeitsgefühl schon als kleines Mädchen und ihr unglaublicher Mut für ihre Überzeugung einzustehen, für sich, später für ihren Sohn, jedoch letztlich nicht weniger als für alle Mädchen und Frauen, die auch im Hier und Jetzt noch immer unterdrückt werden, zu kämpfen.

Ich mag die junge Homeira sehr, mit all ihren Flausen im Kopf, ihren emanzipierten Gedanken bereits in jungen Jahren, und ihrem klugen Hinterfragen der bestehenden Ordnung. Gleichzeitig wäre auch ohne das vorweg genommene Exil, aus dem sie die Zeilen schreibt, zu erwarten, dass sie mit ihrem Mut, ihrer Klugheit und mit ihrem Charakter in dieser Gesellschaft gegen Wände laufen wird. Es ist ein Kampf, der allein nicht zu gewinnen ist, eine Frau gegen ein Heer von Männern in einem patriarchalischen, repressiven System, das auch alle Regeln und Gesetze setzt. Die Unterdrückung manifestiert sich dabei in viel mehr als aktuellen Gesetzen, denn auch das zeigt Quaderi auf: eine Kultur internalisierter Misogynie über Generationen, in denen bereits kleinsten Mädchen gelehrt wird, dass sie in diesem System nichts zu erwarten haben und sich besser diesem beugen, wenn sie nicht sich und ihre Familie in große Schwierigkeiten bringen wollen. Selbst an sich progressiven Angehörigen bleibt angesichts der übermächtigen Trias von Gesetz, Kultur und Tradition letztlich nur ein Gefühl der Ohnmacht.

Qaderis Zeilen machen sehr deutlich, dass echte Fortschritte in der Gleichberechtigung, die Abschaffung von Misogynie nur gemeinsam erreicht werden können, wenn Frauen untereinander (und auch Männer) sich verbünden und gemeinsam gegen Repression und für eine gleichberechtigte Gesellschaft kämpfen.

„Dich zu verlieren oder mich“ ist ein Buch über eine Kindheit und ein Aufwachsen mitten im Krieg, Frausein, Muttersein und den couragierten Kampf für Gleichberechtigung und gegen Unterdrückung einer in jeder Hinsicht beeindruckenden Frau. Für die erwachsene Homeira bleibt mir tiefste Bewunderung und ein großer Dank für dieses wichtige Buch!

Bewertung vom 14.09.2023
Als wir an Wunder glaubten
Bürster, Helga

Als wir an Wunder glaubten


ausgezeichnet

Heute Weltuntergang, morgen Tanztee: zwei Frauen, der Krieg, die Hoffnung und das Moor

Das Moor, eine mystische Landschaft, nicht Wasser, nicht fester Boden, ein Dazwischen, ein Niemandsland, eine Kulisse wie geschaffen für das geschichtliche Dazwischen, der Krieg vorbei, die Entbehrungen und Zerstörungen der Infrastruktur, Gebäude und nicht zuletzt in den Seelen der Menschen jedoch so groß, dass auch der Frieden zunächst mit kaum weniger Entbehrungen verbunden ist.

Hier ist Helga Bürsters Roman angesiedelt, mitten in einer ostfriesischen Moorlandschaft zwischen Oldenburg und Leer. Im Mittelpunkt zwei Frauen, Anni und Edith, beide warten noch vier Jahre nach Kriegsende auf ihre Männer. Den Krieg ebenso wie die Zeit danach haben sie nicht zuletzt überlebt, weil sie zusammengehalten, sich unterstützt haben. Als Josef, Annis Mann, schwer verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, könnte dies ein Segen sein. Doch was Josef aus dem Krieg mitbringt, trifft auf Verdrängen, alte Weisheiten, Aberglaube und neue Scharlatane im Moordorf. Eine verheerende Mischung, wie man als Leserin schnell zu ahnen beginnt.

Es ist eine Hilflosigkeit in der Dorfgemeinschaft, die zuweilen aus den Zeilen spricht, Orientierungslosigkeit, das Bedürfnis nach Sinn, nach all dem Leid, an einigen Stellen jedoch auch das Bedürfnis nach Aufbruch in eine neue Zeit. Es verwundert daher kaum, dass es auch die Zeit der Wunderheiler ist, die den Menschen vermeintlich Sinn geben in einer oft sinnlos anmutenden, harten und unsicheren Zeit. Der Preis dafür ist hoch. Für den Einzelnen, der sein letztes Hemd gibt, für Heilung, Befreiung von Schuld und für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft.

Der Boden des Moores wird so im doppelten Sinne zur Keimzelle der Mystik, als landschaftliche Kulisse sowie Abgeschiedenheit und Armut der Bewohnerinnen, die als Nährboden für Aberglaube dienen.

Sehr authentisch und bedrückend fängt Helga Bürster die Kriegsgräuel und auch das Mitwissen und die individuelle Schuld in diesem Krieg ein. Da gibt es Erinnerungen an die Erfahrungen an der Front, aber auch an ein Lager für Zwangsarbeiter im Moor, alle wussten es, haben es beobachtet, doch nun will keiner davon wissen, sich erinnern. Fast nebenbei flicht die Autorin furchtbare Details ein und macht diese damit nur noch eindringlicher.

Bei allen Entbehrungen und Leid, enthält der Roman einige wirklich komische Anekdoten und Aussagen mit denen die Autorin auch die Skurrilitäten der Region, Charaktere und Zeit einbindet, wie beispielsweise das Ausfallen des Weltuntergangs, stattdessen Tanztee, Gustes Weisheiten als alte Moorfrau oder Bettys flottes Mundwerk. Auch die immer wieder eingeschobenen, kurzen Aussagen und Weisheiten auf Platt, lassen tief in die Geschichte eintauchen, als befinde man sich mitten in Unnenmoor.

Die Figuren sind durchweg sehr liebevoll und authentisch ausgearbeitet. Ich habe bis zum Ende mit diesen vielen starken Frauen im Roman mitgefühlt, nicht zuletzt mit Betty (Ediths Tochter), deren Geschichte die Handlung abrundet und der weisen alten Guste.

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Buch über Nachkriegsdeutschland, die Macht und Verführbarkeit von Mythen, Zauber und nicht zuletzt Verschwörungstheorien, die Mystik der Moorlandschaft und besonders auch über starke Frauen. All diese Aspekte verknüpft Helga Bürster in einer atmosphärischen und mitfühlenden Sprache zu einem wundervollen Leseerlebnis mit Relevanz bis in die Gegenwart.

Bewertung vom 12.09.2023
Das dritte Licht
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen? Eine wundervoll atmosphärische Erzählung, unglaublich schön und berührend zugleich

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen? Und was ist, wenn es diese in seiner Ursprungsfamilie nicht erhalten kann? Diese Fragen stellt man sich zwangsläufig bei der Lektüre der wundervollen, nur knapp 100 Seiten umfassenden, Erzählung „Das dritte Licht“.

In der dritten Person wird aus der Perspektive eines nicht näher benannten Mädchens kurz vor der Einschulung beschrieben, wie sie die Zeit erlebt, die sie bei kinderlosen Verwandten verbringt. Vor dem Hintergrund der erneuten Schwangerschaft ihrer Mutter und den daraus resultierenden finanziellen Sorgen wurde sie von ihrem Vater bei dem verwandten Paar temporär in Obhut gegeben. In ihren Beschreibungen und Reflexionen denkt das Mädchen auch immer wieder an ihre Ursprungsfamilie, nicht zuletzt wegen des großen Kontrasts im Familienleben bei dem verwandten Paar (die Kinsellas) und in ihrem eigentlichen Zuhause.

Dieser Kontrast wird von Claire Keegan in einer wundervollen Sprache eingefangen. Mit wenigen Worten erzeugt die Autorin eine unglaublich dichte Atmosphäre, sagt genauso viel mit dem was sie schreibt, wie mit dem was ausgelassen wird. Die Landschaft im ländlichen Irland, das Leben und Arbeiten auf der Farm, das unausgesprochene Geheimnis aus der Vergangenheit, und nicht zuletzt die Liebe und Fürsorge verschmelzen sprachlich zu einem Kunstwerk für sich. Das Ergebnis ist wunderschön, traurig und rührend zugleich.

Eine Erzählung die literarisch, aber auch unter sozial(kritischen) Aspekten vollkommen überzeugt und man einfach gelesen haben muss!

Bewertung vom 11.09.2023
Die Farbe der Sprachlosigkeit
Antelmann, Corinna

Die Farbe der Sprachlosigkeit


gut

Ein eindrucksvoller Roman, der Angsterkrankungen ein Gesicht gibt

Als Dana eine auffällige Stelle an ihrem Hals entdeckt, beginnt für sie ein Teufelskreis aus dem sie verzweifelt einen Ausweg sucht. Dana, erfolglose Drehbuchautorin, in einer unglücklichen Beziehung mit Architekt Jan, findet keine Worte für das was mit ihr nach der Abklärung beim Arzt passiert, obwohl dieser beschwichtigend zur Gelassenheit und weiterer Diagnostik rät. Sprachlosigkeit und Angst übermannen Dana, doch geht es wirklich um den Fleck oder ist ihr Leben schon zuvor aus den Fugen geraten, hat Dana den Anschluss an sich selbst, zu ihrem eigenen Glück verloren?

Das Thema Angsterkrankungen finde ich sehr wichtig und auch im Roman grundsätzlich gut umgesetzt. Ob es dazu jedoch die Verdachtsdiagnose einer derart schweren Erkrankung brauchte, die für sich mit ganz eigenen Ängsten unabhängig von Angsterkrankungen, einhergeht, würde ich offen lassen. Hier fehlt mir die Differenzierung zwischen berechtigten Ängsten als nachvollziehbare Reaktion auf eine schwere Erkrankung auf der einen und vollkommen irrealen Ängsten mit unangemessener und nicht zuletzt ungesunder Reaktion im Rahmen einer Angsterkrankung auf der anderen Seite.

Nach meinem Geschmack hätte zudem der Schwerpunkt mehr auf dem tatsächlich Stellen der Ängste liegen können. Letztlich sind es nur wenige Seiten und Zeilen, die der eigentlichen Konfrontation und gesunden Strategie zum Umgang damit gewidmet sind. Wobei letzteres nur im Ansatz thematisiert wird.

Sprachlich schafft die Autorin immer wieder sehr schöne und ausdrucksstarke Bilder, wie selbst bereits der Titel mit der Farbe der Sprachlosigkeit. Dies hat mir gut gefallen.

Die Ausgabe ist sehr schön und liebevoll gebunden, mit Lesebändchen.

Insgesamt ein thematisch sehr wichtiges Buch, mit teilweise schönen sprachlichen Bildern, dass mich in der Konstruktion und dem Aufbau der Geschichte jedoch nicht ganz überzeugen konnte.

Bewertung vom 09.09.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


sehr gut

Familie - oder: die Menschen, die man liebt, auch wenn man nicht dieselbe Meinung teilt

Wer kennt das nicht? Familientreffen, unterschiedliche Generationen und Ansichten, alles Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Interessen, Sozialisation, Charakteren,Talenten und doch verbindet sie der Stammbaum und im Idealfall ein gemeinsames Aufwachsen in irgendeiner Form.

In diesem Setting ist der Debütroman von Max Richard Leßmann angesiedelt, mit viel Urlaubsgefühl on top an drei Tagen des letzten Sylturlaubes mit seinen Großeltern. Die Beziehungen zu diesen steht im Mittelpunkt des Romans, der aus der Perspektive von Enkel Max erzählt wird. Die Großeltern, Lore und Ludwig, beides Kinder ihrer Zeit im Krieg- und Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, mit diversen Prägungen, die dies für das weitere Leben bedeutet, Sparsamkeit, ein Fokus auf ordentliches Essen und Sattwerden, wenig Gefühle zeigen, bei Ludwig ein Zwang zur Dokumentation. Sehr schön herausgearbeitet wird, wie besonders das Band der Oma/Opa-Enkel-Beziehung ist, bei allen Differenzen in Ansichten, zuweilen vielleicht auch Verletzungen, die Großeltern, sie waren immer da, eine Konstante in guten, wie in schlechten Zeiten, mit wundervollen Kindheitserinnerungen, jede ärgerliche Eigenheit, mit der Zeit akzeptiert und in ihrer Kontinuität als Marotte fast lieb gewonnen.

Doch was ist, wenn diese Konstante zu verschwinden droht, weil das Unvorstellbare sich abzeichnet, die Endlichkeit, der scheinbar alterslosen Großeltern? Auch darüber sinniert Max an den drei Tagen, sodass der Roman gleichzeitig einen Rückblick in anekdotischen Erinnerungen, Reflexion, eine Form von Abschied, dem inhärent aber auch immer Neubeginn innewohnt, darstellt.

Es gibt viele Anekdoten über das Familienleben, jedoch auch Max selbst, die oft gut erzählt sind und zum Schmunzeln einladen. Zuweilen zeigen sich jedoch Längen in diesem Anekdotischen, und es scheint der Fokus aus dem Sinn zu rücken.

Ein Buch, dass mich an einigen Stellen sehr berührt hat und zum Nachdenken über die eigene, besondere Beziehung zu den Großeltern einlädt.

Bewertung vom 03.09.2023
Der Bozen-Krimi: Familienehre
Dark, Simone

Der Bozen-Krimi: Familienehre


sehr gut

Tradition, Queerness, Liebe und Mord - und das alles im traumhaften Bozen

Die Zutaten in Familienehre sind vielversprechend - und Simone Dark macht einen wunderbaren Krimi für spannende (Handlung) und entspannende (Kulisse) Stunden zugleich daraus. Bereits die ersten Seiten lassen in die stimmungsvolle Bozner Altstadt mit ihren Laubengängen an einem lauen Herbstabend eintauchen. Eine queere Sängerin, ein Streit mit einem Mann, am nächsten Morgen ist ein anderer Mann, DER Eishockeystar der Region tot. Im Verlauf tauchen viele Verdächtige auf und werden nach strengem Verhör von Sonja Schwarz entlassen. Die Idylle der Bergwelt trügt, ein Motiv scheint es an so vielen Stellen im Umfeld des Toten zu geben. Es macht Spaß Sonja Schwarz und ihrem Team bei den Ermittlungen zu folgen.

Die Parallelgeschichte mit Ziehtochter Laura und dem Weingut ist wunderbar in die Haupthandlung eingewebt und lässt in schöne Landschaftsausblicke ebenso wie die eigene Familiengeschichte von Sonja Schwarz eintauchen.

Einige Passagen hätten allerdings gern etwas ausführlicher ausfallen können, sowohl in der Handlung als auch in der Charakterisierung der Protagonistinnen und Protagonisten. Hier fehlten mir manchmal ein paar Informationen, zum Beispiel ist der Schmerz und Verlust von Sonja Schwarz recht kurz abgetan.

Sehr informativ fand ich die Danksagung am Ende, in der die Autorin kurz auf die Originalschauplätze eingeht, die sie inspiriert haben.

Insgesamt ein gelungener Krimi in traumhafter Kulisse!