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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 26.10.2020
Die Erfindung des Marktes
Herzog, Lisa

Die Erfindung des Marktes


ausgezeichnet

Anspruchsvolle Auseinandersetzung zweier Markttheorien
„Die Erfindung des Marktes“ ist die erste umfangreichere philosophische Auseinandersetzung, an die ich mich herangetraut habe. Aktuell reizen mich Arbeiten, die historische Erkenntnisse und Feststellungen eher im Kontext ihrer Zeit betrachten, als solche, die eine fertige, nicht hergeleitete Schlussfolgerung auf das Hier und Heute präsentieren. Da mein wirtschaftswissenschaftliches Studium schon etwas länger zurückliegt, habe ich mich gern den beiden Protagonisten Smith und Hegel sowie ihren Theorien zugewandt.

Als Freizeitleser muss ich zugeben, dass mich die durchgehend gehobene Sprache und auch der Stil von Lisa Herzog ganz schön gefordert haben. In ihrer philosophischen Betrachtung des Marktes folgt die Autorin überaus diszipliniert strengsten wissenschaftlichen Regeln. Nach Veranschaulichung ihrer Zielsetzung und grundsätzlichen Festlegungen zu Beginn ihrer Arbeit, erklärt sie dem Leser einleitend zu jedem ihrer folgenden sechs Kapitel die weitere Vorgehensweise und legt somit den sich jeweils anschließenden gedanklichen Weg ihrer Analyse offen. Die Autorin schließt jedes Kapitel zusammenfassend und/oder schlussfolgernd ab. Das gibt ihrer Arbeit nicht nur Struktur, sondern bietet dem Leser Orientierung.

Lisa Herzog beginnt mit einer Analyse der beiden Marktverständnisse, von Adam Smith und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Danach ordnet sie die Rollen auf dem Markt in die Betrachtungsweise sowohl Smith‘ und Hegels ein. Im zweiten Teil ihrer Arbeit widmet sich die Autorin intensiv den gesellschaftlichen Werten auf dem Markt. Dieser Teil der Auseinandersetzung war am interessantesten für mich. Dabei standen weniger ganz neue Erkenntnisse im Vordergrund meines Interesses, sondern vielmehr die verschiedenen möglichen Betrachtungsperspektiven auf bestimmte Marktsituationen. Insgesamt bin ich begeistert von ihrem für mich anspruchsvollen, gleichzeitig aufschlussreichen Werk. Sie hat es mittels geschickter logischer Herangehensweise geschafft, meiner doch eher mathematisch orientierten Denke zum Markt, weitere Denkansätze hinzu zu fügen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Mit großem Respekt gegenüber der wissenschaftlichen Leistung empfehle ich diese Arbeit gern weiter.

Bewertung vom 26.10.2020
Bis wir uns wiedersehen
Bailey, Catherine

Bis wir uns wiedersehen


ausgezeichnet

Herzzerreißender Zeitzeugenbericht
Catherine Bailey gewährt uns einen Einblick in die grauenhaften Machenschaften des Nationalsozialismus. Der thematisierte überbordende Massenmord an Häftlingen in den Konzentrationslagern sowie die sadistisch motivierte körperliche und psychische Quälerei ebendieser sind nur zwei Oberbegriffe für einen Facettenreichtum an brutalen Handlungen, die nicht annähernd wahrnehmbar machen, was im Zweiten Weltkrieg an Missetaten begangen worden ist.

Lesend begleiten wir Fey von Hassell, die nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 aufgrund der Beteiligung ihres Vaters in Sippenhaft gerät. Nachdem man ihr die beiden Kinder entzogen und sie mehrere Wochen in einer Gefängniszelle eingepfercht hatte, beginnt ihre Odyssee durch das gesamte Reich. Gemeinsam mit Angehörigen der Familien Stauffenberg, Goerdeler und weiteren wird sie von einem Konzentrationslager ins nächste überstellt. Nie ist bekannt, wohin es geht, wie lange man dort verweilen wird, ob eine Hinrichtung droht.

Die Autorin trägt die verstörenden Erlebnisse der Sippenhäftlinge so nah an den Leser heran, dass er nicht anders kann, als körperliche Reaktionen zu zeigen. Zeitweise bestimmten schlimmes Herzklopfen und ein starkes Beklemmungsgefühl mein Lesen, so intensiv war die beängstigende Aufruhr in mir. Darüberhinaus bebt Catherine Bailey das Besser-gestellt-Sein der Sippenhäftlinge gegenüber den gewöhnlichen Häftlingen hervor. Die Bedeutung dessen entbehrt jeglicher menschlichen Vorstellungskraft.

Nicht ganz genrerein kann man „Bis wir uns wiedersehen“ zwischen Sachbuch und historischen Roman verorten, wobei hier das Historische den Roman ausmacht, und nicht das schnulzig Romantische. Trotzdem gibt es unglaublich rührende Momente im Buch, die mir die Tränen in die Augen trieben. Zusätzlich war zeitweise dermaßen viel Spannung im Spiel, das mancher Thriller hier in den Schatten gestellt wird.
Der Sachbuchcharakter spiegelt sich in der intensiven Recherche wider, die man der Autorin aufgrund der außerordentlichen Feingliedrigkeit der Quellen gern zugesteht. Technisch überaus clever empfand ich das Sprechen lassen der Zeitzeugen über ihre eigenen Zitate. Die dadurch vermittelte Glaubwürdigkeit ist unvergleichlich. Der Romancharakter entsteht für mich durch das Hineinversetzen in die Charaktere mit Hilfe der Rekonstruktion von deren Gefühlswelt.

Wenn man über diesen Teil unserer Geschichte liest, fühlt es sich falsch an, von Lesevergnügen zu sprechen. Trotzdem habe ich das Buch gern gelesen, weil es die Geschehnisse sehr plastisch aufarbeitet. Es ist eine interessante, gleichzeitig fesselnde Informationsquelle. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Bewertung vom 06.10.2020
Groß genug, die Welt zu retten
Kirby, Loll

Groß genug, die Welt zu retten


ausgezeichnet

Das Kindersachbuch von Loll Kirby stellt uns zwölf Kinder und Jugendliche vor, die sich als Aktivisten gegen Verschwendung von Ressourcen und gegen die Verschmutzung der Umwelt engagieren. Ihr Ziel ist das Ausbremsen, besser noch das Stoppen des Klimawandels. Sie stammen aus vielen verschiedenen Ländern und kümmern sich um die jeweilig gravierendsten Probleme. Interessant ist, dass es sich dabei nicht um erfundene Figuren handelt, sondern dass dem Leser reale Charaktere präsentiert werden. Im Rahmen der Lektüre kann man immer wieder weitere Nachforschungen anstellen und wenn man möchte, direkt die einzelnen Initiativen unterstützen.

Die Illustration des Buches ist angenehm natürlich. Ähnlichkeiten zwischen den realen Personen und den Gezeichneten lassen sich nicht abstreiten. Das gefällt mir sehr. Die Texte sind fachgerecht, aber nicht immer wirklich kindgerecht. Das liegt in der Anlage des Buches begründet. Wenn Biodiversität erklärt wird, macht dies nur Sinn mit ebendiesem Fachbegriff. Der Altersempfehlung ab 4 Jahren würde ich nicht unbedingt folgen. Hier sollten Eltern ergänzend erklären. Verständlich ist es bestimmt für Kinder, die bereits lesen können.

Am Ende werden den Kindern (im Vorlesemodus auch den Eltern) Tipps gegeben, wie man sich selbst im Sinne unseres Planeten verhalten sollte. Zudem wird aufgezeigt, an wen man sich wenden kann, um für ein eigenes Engagement Unterstützer zu finden.

Dieses interessante Konzept empfehle ich gern weiter, eingeschränkt auf ca. 6 bis 12-Jährige und deren Eltern.

Bewertung vom 14.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


sehr gut

„Kein Grund zur Sorge“
Der neue Roman von Joachim B. Schmidt ist ein sprachliches Literatur-Highlight, das auf Einfachheit in Wortwahl und Satzbau basiert. Der Stil des Romans folgt so dem Gemüt des sympathischen Titelhelden Kalmann Óðinsson, in dessen Kopf die Räder manchmal rückwärts laufen, der aber trotzdem in seinem überschaubaren Umfeld von Raufarhöfn als Kleinstwildjäger, Gammelhai-Produzent und selbsternannter Sheriff gut zurecht kommt.

Kalmann mochte ich sehr. Er ist aufgrund seiner geistigen Einschränkung ein Außenseiter, wird nie richtig ernst genommen, hat gleichzeitig ganz normale Bedürfnisse, beispielsweise sehnt er sich nach einer Frau. Obwohl die Chancen dafür schlecht stehen, ist er stets positiv gestimmt. „Kein Grund zur Sorge“ ist sein Lieblingssatz. Kalmann hilft seinen Mitmenschen, beschützt sie. Dank seines Großvaters, der ihm alles beigebracht hat, was ein Mann im Leben braucht, ist er dazu auch in der Lage.

In meinen Augen ist der Roman eine Auseinandersetzung mit den Lebensperspektiven von Menschen mit Handicap, ob dies nun auf einer Behinderung oder auf einer Krankheit beruht. Der Autor spielt regelrecht mit dem Leser. Er lässt Kalmann verrückte Dinge tun, so das man hin- und hergerissen ist. Wieviel selbstbestimmtes Leben ist erlaubt, wenn es doch gleichzeitig ein Risiko für den Betroffenen und andere darstellt? In diesem Zusammenhang fand ich die Gegenüberstellung von Kalmann’s Leben mit dem von Nói, seinem besten Freund, den er nur übers Internet trifft, überaus gelungen.

Eingebettet ist die liebevolle Geschichte von Kalmann in eine Krimihandlung, die in der wunderschönen Natur Islands stattfindet. Weite und Stille sind maßgeblich für die gezeichnete Landschaftsaufnahme. Der sogenannte König von Raufarhöfn ist verschwunden. So werden im Porträt einer aussterbenden Gemeinde, die ohne Fischfang keine Existenzgrundlage mehr hat, Täter gesucht, Fremde verdächtigt. Vorurteile und die Sensationsgier der Medien heizen die Stimmung an.

Die Geschichte lebt von Übertreibungen und überspitzter Darstellung. Das ließ mich an Stellen laut auflachen, an denen mein politisch korrektes Ich niemals lachen würde. Deshalb ist es dem Roman auch überhaupt nicht übel zu nehmen, dass die Handlung einen bestimmten Weg einschlagen muss, auch wenn dieser in der Realität vielleicht abwegig ist. Ich wurde sehr gut unterhalten und konnte eigene Vorurteile reflektieren.

Bewertung vom 06.09.2020
Zugvögel
McConaghy, Charlotte

Zugvögel


sehr gut

Mitreißend, irgendwie gut, nicht ganz überzeugend
Zugvögel, der Debütroman von Charlotte McConaghy, ist für mich sehr schwer zu bewerten. Ich brüte jetzt schon eine ganze Woche darüber und bin immer noch nicht ganz sicher in meiner Punktevergabe. Positiv stehe ich der schönen Sprache und der Erzählweise gegenüber. Die Autorin schafft es über den gesamten Roman hinweg, das Interesse des Lesers aufrecht zu erhalten. Man wird immer wieder geködert mit einer potenziellen Entwicklung der Charaktere und der Handlung, die wirklich attraktiv wäre. Leider, und das ist für mich das Negative, kommt es fast nie zu dem, was man sich ausgemalt hatte.

Aus meiner Sicht liegt es an zahlreichen Baustellen, die bedeutungsschwer aufgerissen werden mit großem Bohei und dann teilweise im Sande verlaufen oder sich ganz samtweich auflösen. Beispielsweise wird die Mythologie der Selkies ins Spiel gebracht und der Kapitän des Fischerbootes, das Franny in die Antarktis bringen soll, sagt abwertend etwas in der Art: „Die ist auch so eine“. Am Ende meinte er wohl nur, dass Franny eine Landratte sei. Danach spielt die Mythologie überhaupt keine Rolle mehr. Unter dieser Sichtweise war für mich auch die Auflösung des schon im Klappentext angekündigten Verbrechens enttäuschend. In meiner Wahrnehmung erscheinen diese reißerischen Ankündigungen mit den eher normalen, fast schon langweiligen Auflösungen als logische Fehler.

Trotzdem habe ich den Roman gern gelesen und verstehe nicht ganz warum, denn eigentlich sind logische Fehler für mich untragbar. Dabei habe ich mit großem Interesse die verrückten Gedankengänge von Franny, der Hauptfigur, verfolgt. Die Entstehung ihrer Beziehung zu Niall war fast schon filmreif. Darüberhinaus mochte ich ihren Ehrgeiz und ihr Engagement in Bezug auf die Begleitung der Seeschwalben nach Süden, sowie ihr Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen auf der beschwerlichen Reise mit dem Fischerboot. Die Atmosphäre auf dem Boot und das Beziehungsgeflecht der Crew war aus meiner Sicht sehr schön herausgearbeitet.

Fazit: Gern gelesen, teils kopfschüttelnd beendet. Vielleicht war es hier und da dermaßen übertrieben, dass es schon wieder gut war.

Bewertung vom 25.08.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


ausgezeichnet

Emotionen eines Genies

Gustav Mahler ist ein musikalischer Nerd seiner Zeit. Er geht komplett auf in seiner Arbeit, lebt sein Talent aus, ist jedoch in seiner Sozialkompetenz spürbar eingeschränkt. Das Lesen des neuen Seethalers lässt einen den kauzigen Ausnahmekünstler dennoch in sein Herz schließen.

Wir lernen den schon kranken Gustav Mahler auf seiner Überfahrt von New York nach Europa kennen. Fiebrig sitzt er an Deck bei Tee und sinnt über sein Leben. Robert Seethaler führt dabei sehr schön zwischen der Atlantiküberfahrt und Mahler’s Erinnerungen hin und her. Seine Gedanken widmet Mahler seiner Familie, allen voran seiner Frau Alma, und seinem Lebenswerk. So kehrt er sukzessive an die wichtigen Stationen seines Lebens zurück.

Seethaler lenkt das Augenmerk auf die sensible Seite des Künstlers, der nicht nur alle anderen, sondern auch oder gerade sich selbst fortwährend kritisch betrachtet. Da er seine Ausführungen mit ganz feiner, perfekt pointierter Sprache unterstützt, konnte ich beim Lesen beinahe selbst den emotionalen Schmerz des Ausnahmetalents fühlen. Trotz der eher bedrückenden Grundstimmung hat mich das Gelesene nicht runtergezogen, weil mich Seethaler‘s Sprachniveau einfach nur fasziniert hat.

Wenn ich die Lektüre Revue passieren lasse, finde ich zudem das Cover perfekt gewählt. Der zurück blickende Mann an der Reling, dieser blaß kränkliche Touch des Bildes insgesamt, verkörpert für mich die emotionalste Szene des Romans.

Insgesamt bin ich begeistert von Seethaler‘s Roman. Nicht nur das Lesevergnügen trägt zu diesem Urteil bei, sondern auch die bewusste Verknüpfung zu weiteren zeitgenössischen Berühmtheiten. Diese sind mir zwar grob mit Lebensdaten bereits bekannt gewesen, der direkte zeitliche und örtliche Zusammenhang war mir allerdings nicht präsent. Den Roman empfehle ich gern weiter. Wenn man Gustav Mahler noch gar nicht kennt, ist es vielleicht hilfreich, sich grob vorab über ihn zu informieren.

Bewertung vom 24.08.2020
Die Wahnsinnige
Hennig von Lange, Alexa

Die Wahnsinnige


ausgezeichnet

Wahnsinnig oder denkend
Johanna von Kastilien ist die Protagonistin dieses historischen Romans, der die belegten Fakten ihrer Herkunft, Ehe und Nachkommen geschickt in eine Form bringt, die nicht nur attraktiv zu lesen ist, sondern auch die besondere Situation der angeblich Wahnsinnigen klar werden lässt.

Johanna war eigentlich nie als Erbin für die Krone vorgesehen, trotzdem überdurchschnittlich gut ausgebildet. Sie sprach mehrere Sprachen, spielte Clavichord, las viel. Sie nutzte ihre Intelligenz für politische und philosophische Gedankenspiele. In ihrem Glauben war Johanna gefestigt. Sie versuchte eine gute Christin zu sein. Nachdem alle in der Thronfolge vor ihr verstorben waren, als Kronprinzessin, wollte sie eine bessere, gnädigere Königin werden. Isabella „der Katholischen“ ging Johanna‘s Ausübung des Glaubens allerdings nicht weit genug. Sie hätte ihn wohl öffentlichkeitswirksam mehr nach außen tragen sollen. Zudem konnte Johanna ihre Gefühle insbesondere bei Konfrontationen nicht verbergen, was ihrem Umfeld missfiel.

Waren es diese, aus heutiger Sicht vernachlässigbaren Schwächen, die ihr den Beinamen einbrachten oder waren diese kleinen Fehler aus machtpolitischen Kalkül aufgebauscht worden? Genau mit dieser Frage setzt sich Alexa Hennig von Lange intensiv auseinander. Dabei konzentriert sie sich zunächst auf die Beziehung zwischen Königin und Kronprinzessin, die wenig von Liebe geprägt zu sein scheint. Nach dem Ableben der Mutter treten Johanna‘s Vater Ferdinand und ihr Ehemann, Philipp „der Schöne“, in den machtpolitischen Vordergrund. Auch dieses Beziehungsgeflecht leuchtet die Autorin genau aus.

Erschreckend dabei empfand ich Johanna‘s Chancenlosigkeit. Als Kronprinzessin und auch später als Königin wird sie von ihrer Familie dermaßen unterdrückt, dass es nie zur Ausübung des Amtes kommt. Die Angst vor sich verändernden Werten und eigene Machtinteressen waren offensichtlich zu groß.

Aus meiner Sicht hat Alexa Hennig von Lange einen hervorragenden Roman geschrieben. Er wirkt ordentlich recherchiert. Der Leser kann ahnen, wie tief sich die Autorin in ihre Protagonistin hineinversetzt hat. Die literarische Aufbereitung der Persönlichkeit von Johanna von Kastilien empfinde ich als überdurchschnittlich. Herausragend ist für mich die Offenlegung des mentalen Innenlebens der Hauptfigur, weil sie deren Intelligenz zu Tage fördert, die ihr gerade durch den Beinamen abgesprochen werden soll. Der geschmeidig lesbare, aber nicht triviale Schreibstil verleiht der Auseinandersetzung zusätzlich Glaubwürdigkeit.

Alexa Hennig von Lange schließt ihren mehr als gelungenen Roman mit einem recht philosophischen Nachwort ab, für mich das Tüpfelchen auf dem i.

Fazit: Ganz klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 13.08.2020
Bluthölle / Detective Robert Hunter Bd.11
Carter, Chris

Bluthölle / Detective Robert Hunter Bd.11


sehr gut

Wilde Jagd
Ich gebe es direkt zu, Bluthölle war mein erster Chris Carter. Natürlich lassen die blutigen Nägel, die in das Buch geschlagen sind, die über und über mit Blut verschmierte Oberfläche und die schreiende Präsentation von Autor und Titel keinen Mitternachtsspaziergang erwarten. Trotzdem hat mich die detailliert plastische Darstellung der Gewalttaten kalt erwischt. Schlimmste Ängste wurden direkt angesprochen.

Alles beginnt mit einem Taschendiebstahl, den Angela Wood in einer Cocktailbar begeht, um jemandem Eins auszuwischen, der sich kurz zuvor unmöglich gegenüber anderen Gästen benommen hatte. Der Diebstahl gelingt, doch das Diebesgut ist eine Katastrophe. Die gestohlene Tasche enthält nichts von Wert, sondern das Tagebuch eines Foltermörders. Angela leitet das Tagebuch anonym an das LAPD weiter und wähnt sich sicher. Doch sie hat die Rechnung ohne den Killer gemacht.

Mit der Übergabe des Tagebuchs kommen Hunter und Garcia ins Spiel. Bei den gemeinsamen Ermittlungen steht Robert Hunter überdurchschnittlich stark im Vordergrund. Chris Carter lässt ihn jeweils als erstes sprechen, Hunters analytische Fähigkeiten und Ideen setzen sich spontan in meiner Erinnerung zum Thriller fest. Carlos Garcia ist eher der ausführende Charakter, bleibt für mich im Hintergrund, dabei hatte er mehrfach gute Ansätze parat. Natürlich ist bei einem Zweierteam immer ein Partner mehr der Leader als der andere. Hier war es mir jedoch etwas zu viel zugunsten von Hunter.

Angela Wood, die sich mit ihrer kleinen Rache in den Fokus des Killers gerückt hat, mochte ich nicht wirklich. Ihre niedrige Frustrationsgrenze, ihre mangelnde Disziplin lässt Angela ungünstige Entscheidungen treffen. Das ist zwar der Spannung des Thrillers zuträglich, den Charakter lässt es leider schwach erscheinen.

Ich mochte Bluthölle vor Allem wegen der Spannung, wegen der angstauslösenden, grenzenlos aufregenden Szenarien. Es war ein wenig wie bei einem Verkehrsunfall. Man sollte sich eigentlich am Schaden der Opfer nicht ergötzen, wagt dennoch einen kurzen Blick. Natürlich fand ich auch Robert Hunter faszinierend. Seine kreative Denke, sein Ehrgeiz und sein übermenschliches Durchhaltevermögen haben mich beeindruckt.

Summa summarum ein packender Thriller für den man nicht zu zart besaitet sein sollte. Literarisch darf nicht zu viel erwartet werden. Manches wird halt einfach passend gemacht, wie zum Beispiel als Hunter, Angela und Garcia gemeinsam die Cocktailbar betreten und der Laden eigentlich krachend voll ist. Zufällig sind genau drei Hocker am Tresen frei. Die kleinen Schwächen des Thrillers tun dem Lesevergnügen allerdings keinen Abbruch. Lediglich die vielen Zeitangaben waren etwas nervig. Trotzdem war es eine wilde Jagd von der ersten bis zur letzten Seite.

Bewertung vom 08.08.2020
Warum es normal ist, dass die Welt untergeht
Kelly, Robert L.

Warum es normal ist, dass die Welt untergeht


ausgezeichnet

Wandel statt Untergang
Eigentlich hatte ich aufgrund der Ankündigung zum Buch eine andere Herangehensweise an die Thematik erwartet, etwa in der Art, dass zu heutigen, vielleicht bedenklichen Entwicklungen Parallelen aus der Vergangenheit aufgezeigt und deren Folgen auf das Hier und Jetzt projiziert werden. Mit Blick ins Inhaltsverzeichnis wurde ein gemeinsames Durchschreiten der Menschheitsgeschichte mit dem Autor augenscheinlich, was mich zunächst Langatmigkeit befürchten lies.

Diese Befürchtung war jedoch völlig unbegründet. So erfrischend wie hier mit Robert L. Kelly habe ich Archäologie und ihre Erkenntnisse noch nie wahrgenommen. Der Autor berichtet von den bisherigen vier großen Umbrüchen der Menschheitsgeschichte, beschreibt dabei jeweils die direkt davor liegenden Entwicklungen, daraus resultierende Zwänge und Reaktionen. Er verliert sich dabei niemals in zu vielen Details, so dass ich ihm problemlos folgen kann. Dem Leser werden Zusammenhänge bewusster, wie beispielsweise jeder Entwicklungsschritt neue Möglichkeiten eröffnet. Parallelen zwischen den vier Schritten werden nach und nach transparent. Die Überleitung vom Gestern auf das Morgen erfolgt zum Ende hin. Robert L. Kelly begründet, warum wir heute erneut an einem elementaren Wendepunkt der Menschheitsgeschichte stehen. Wohin die Reise wirklich geht, kann nicht abschließend beantwortet werden. Wie sollte es auch? Habe ich doch gelernt, dass sich der Mensch durch die stete Optimierung seiner aktuellen Lebenssituation jeweils in eine ganz neue Lebensweise katapultiert hat. Trotzdem ist es interessant, darüber zu philosophieren.

Die textliche Aufbereitung hat mir hier besonders gut gefallen. Ich hatte über weite Strecken nicht das Gefühl, ein Sachbuch zu lesen, sondern eher eine Dokumentation in ganz großen Bildern zu sehen. Bemerkungen, wie auf Seite 120, „Wenn Sie von Ihrem Kinosessel im All aus beobachten, wie sich die Weltgeschichte entwickelt, sind Sie zu diesem Zeitpunkt vielleicht ein wenig abgeschlafft.“, haben meinen Eindruck noch verstärkt. Mit feinsinnigem Humor führt der Autor so elegant durch seine Ausführungen, dass mich die Lektüre zu keinem Zeitpunkt „abgeschlafft“ oder gar gelangweilt hat. Nach meinem anfänglichen Stutzen wurde ich überaus positiv überrascht. Ganz klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 08.08.2020
Ein Mann der Kunst
Magnusson, Kristof

Ein Mann der Kunst


ausgezeichnet

Abrechnung mit dem Konformitätskomfort
Kristof Magnusson gibt hier vor, einen Roman über einen Künstler und dessen Fangemeinde zu schreiben. Genau genommen, ist dies allerdings nur die Verpackung für seine kolossale Gesellschaftskritik. Vertreten durch seine Künstlerfigur KD Pratz, prangert er unser Anderen-Gefallen-Wollen, unser stetes Erfüllen von fremden Erwartungen an. Echte Rebellen bzw. Personen mit komplett eigener Meinung scheinen ausgestorben oder doch nicht?

Es ist ein intellektueller Roman, der mit gehobenen Sprachelementen erstaunlich komisch daherkommt. Mehr als ein Mal musste ich laut auflachen, obwohl ich normalerweise, angepasst wie ich bin, maximal über Gelesenes schmunzele. Doch so manche Formulierung war dermaßen provokativ, dass die spontane Reaktion darauf nicht zu bremsen war. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

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