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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 209 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2024
Buchhaim / Die Stadt der Träumenden Bücher Bd.1
Moers, Walter

Buchhaim / Die Stadt der Träumenden Bücher Bd.1


ausgezeichnet

Eine wunderbare Adaption des Klassikers „Die Stadt der Träumenden Bücher“ als Graphic Novel.

Wie toll bitte ist diese Graphic Novel
Auf der Grundlage des Buches „Die Stadt der Träumenden Bücher“ von Walter Moers – eines meiner Lieblingsbücher für immer – erschuf hier Florian Biege eine sensationelle Graphic Novel. Dies ist der erste Teil „Buchhaim“. Im zweiten Teil geht es mit unserem lieben Protagonisten in die äußerst gefährlichen Katakomben.
Hildegunst von Mythenmetz trauert in der Lindwurmfeste um seinen Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler. Auf dem Sterbebett vermachte dieser Hildegunst ein Manuskript eines unbekannten Autors. Dieses Manuskript ist perfekt, einzigartig. Und so macht sich Hildegunst, der zu dieser Zeit noch kein Dichter ist, in die legendäre Bücherstadt Buchhaim. Dort möchte er nicht nur das Orm, jene Kraft, die einen beflügelt, die richtigen Worte aufs Papier zu bringen, finden, sondern auch den Verfasser jenes perfekten Manuskriptes. Dabei begibt er sich in allerhöchste Gefahr …
Die Aufmachung dieses Bandes ist einfach nur wunderbar. Die Zeichnungen sind voller Phantasie und Details, beinahe schon in 3D. Man wird regelrecht in diese zamonische Welt hinein gesogen. Und es bleibt auch nicht beim einmaligen Schmökern. Immer wieder gibt es in den Bildern etwas Neues zu entdecken. - Ganz große Kunst!
Moers hat den Text für diese Graphic Novel meisterhaft adaptiert. Ich bin erstaunt, wie es ihm gelang, mit wenigen Worten die Handlung derart treffend und spannend wiederzugeben. Ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen rundet den Band perfekt ab.
Absolute Leseempfehlung für dieses herrliche Werk. Es hätte eigentlich 10 Sterne verdien

Bewertung vom 16.03.2024
Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
Grigorcea, Dana

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen


sehr gut

Über die Kunst, nach einer wahren Geschichte, und wie diese in einen Roman kommt.

Beruhend auf einer wahren Begebenheit erschafft hier die Autorin einen kleinen, fein gezeichneten Roman um die Kunst, um die Liebe, und wie beides miteinander zusammenhängt.
Im Jahr 1926 reiste der französische Bildhauer Constantin Avis auf Einladung seines Mäzens nach New York. Dieser hatte Constantin eine Ausstellung, nur mit seinen Werken, in Aussicht gestellt und wollte ihn „groß“ herausbringen. In New York angekommen, verlor sich der Künstler zunächst. Vom Gönner keine Spur, dafür traf er auf Lidy, welche eng mit dem Hause verbunden war. Es entspannte sich eine lockere Beziehung der besonderen Art. In seinem Hotel, einen Stock höher, residierte die berühmte Schauspielerin Alba. Sie fuhr sogar mit ihm auf dem gleichen Schiff über den Ozean. Doch die Schauspielerin blieb ihm fern, obwohl es immer wieder Berührungspunkte gab.
Ein Angelpunkt des Romans ist eine bronzene Skulptur des Künstlers, welche einen Vogel darstellen sollte. Dies wurde aber am Zoll nicht als Kunst bewertet – er musste den Vogel wie einen Gebrauchsgegenstand verzollen. Es kommt zu einem Prozess, und zur Frage, was denn Kunst überhaupt ist.
Parallel dazu beschreibt die Autorin die Geschichte von Dora. Diese reist knapp 100 Jahre später zusammen mit ihrem Sohn Loris und dessen Kindermädchen von Zürich an die ligurische Küste. Sie möchte dort ihr Buch „Damenwahl“ fertig schreiben. In diesem Buch geht es um oben beschriebenen Künstler und seine ersten Tage in New York, sowie um die Gerichtsverhandlung.
S.12: „Jahre schon trug sie diese Geschichte mit sich, in allen Details. Jedes ihrer Bücher hätte dieses werden müssen – und war dann doch ein anderes geworden.“
In losen Kapiteln erzählt die Geschichte uns abwechselnd Episoden von Doras Aufenthalt am Meer, und von den kleinen Abenteuern, die Constantin in New York erlebte. Doras Wunsch, einen vollendeten Roman rund um die Kunst zu schreiben ist das zentrale Thema des Romans. Abgelenkt durch den Alltag spürt sie dem Leben von Constantin Avis nach, verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit.
Grigorceas Sprache ist leicht, locker wie das Leben am Meer, und dennoch so dicht wie das pulsierende New York der 20er Jahre. Man kann beim Lesen ohne Mühe in beide Welten eintauchen. Ich hätte mir allerdings mehr Tiefe bei der Geschichte rund um Constantin gewünscht. So verblasst er meines Erachtens manchmal ein wenig zu sehr im Licht von Dora, und bleibt mehr Statist als handelnde Person. Dafür wird das schriftstellerische Leben von Dora fein herausgehoben. Die Frage, was Kunst ist und kann, muss am Ende jeder für sich selbst entscheiden.

Bewertung vom 14.03.2024
Nachtblaue Blumen
Kamber, Alexander

Nachtblaue Blumen


sehr gut

Eine ehem. Tänzerin in der Nervenklinik um 1890. Literarisch anspruchsvoll.

Paris 1890, der Schauplatz ist die berühmt-berüchtigte Nervenheilanstalt Salpêtrière. Ein Arzt möchte der Krankenheit „Hysterie“ auf den Grund kommen – seine Patientinnen und Opfer: junge Frauen. Die Behandlungen finden teils vor Publikum statt, es entstehen oft mehr Fragen als Antworten, da sich das Verhalten der Frauen, auch mit den verabreichten Medikamenten, in unvorhergesehene Richtungen verändert. Die Anstalt wurde nicht umsonst die „weibliche Hölle genannt.
Eine Tänzerin wird von ihrem Patron eingeliefert, da sie nicht mehr tanzen wollte. Um während des Aufenthaltes nicht völlig den Verstand zu verlieren, zeichnet sie ihre Erfahrungen in einem Notizbuch auf.
Der Nervenarzt gibt sich freundlich, verständnisvoll, doch man kommt ihm nicht auf die Schliche, ob sein Getue nur gespielt ist. Es gibt bestimmte Momente zwischen Arzt und Patientin, die auf der einen Seite fast schon väterliche Fürsorge entdecken lassen, auf der anderen Seite kommt es zu ungewollter Nähe. Der Autor spielt mit dem Vertrauen zum Arzt – es könnte eines da sein. Es wird versucht, es den Leser:Innen einzuflößen, genauso wie den Patientinnen. Doch zu sehr sind die Vorurteile mit dem Ort verschränkt. Die Tänzerin passt sich an, spielt ihrerseits, um diesen Klauen zu entwischen. Der Patron, der sie anfangs noch besucht, damit sie wieder in den Club kommt, und auf sie einredet, was er alles für sie getan hat, scheint irgendwann sein Interesse zu verlieren und kommt nicht mehr.
Dabei ist der einzige Grund, warum die junge Frau in der Anstalt ist, weil sie partout nicht mehr tanzen will.
Die Erzählung liest sich leicht, ist von einer bestimmten Spannung durchdrungen, hat mich aber dennoch irgendwie unschlüssig zurückgelassen. Auch wenn sich viel zwischen den Zeilen findet, eine Quintessenz habe ich nicht gefunden – außer dem immerwährenden Umstand, das Frauen den alten weißen Männern hilflos ausgeliefert waren und sind.
Wer sich gerne für ein literarisches Abenteuer, zumal noch schnell gelesen, einlassen möchte, kommt hier sehr auf seine Kosten.

Bewertung vom 14.03.2024
Seifert, Nicole

"Einige Herren sagten etwas dazu"


ausgezeichnet

Aufrüttelnder Bericht über Schriftstellerinnen der Gruppe 47. Ein wichtiges Buch!

Im Jahr 1947 lud die Autorin Ilse Schneider-Lengyel Schriftsteller in ihr Haus am Bannwaldsee ein. Sie sorgte für Kost und Logis. Es war der Startschuss für die Gruppe 47. Es sollten Treffen voller literarischer Brisanz werden, ein Austausch auf Augenhöhe, um die neue Literatur in Deutschland nach dem Krieg wieder voranzubringen. Es gab strikte Regeln, wer dabei sein durfte. Diese begründeten sich u.a. mit der Kriegsvergangenheit der Autor:innen.
S. 210: „… er [Richter] wollte denen, die einen anderen Umgang mit dem Nationalsozialismus gefunden hatten als den Gehorsam, kein Gehör verschaffen.“ Sie wollten eine junge Literatur schaffen, von den alten Klassikern abgrenzen. Zwanzig Jahre später waren sie selbst „alt“, junges Blut nicht unbedingt willkommen.
Die Namen der Männer, die sich um Hans Werner Richter scharten, dürften vielen von uns mehr oder weniger bekannt sein. Aber wie sieht es mit den Autorinnen aus? Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann. Und dann? Kennen wir die Namen Drewitz, Wohmann, Elsner, König, Koschel, Reinig, Fleming, Novak, Borchers, Plessen, Frischmuth, Rasp?
Das waren in ihrer Zeit alles zum Teil sehr erfolgreiche Autorinnen, doch sie schafften es nicht, uns in Erinnerung zu bleiben, oder gar im Kanon.
Seifert beleuchtet in diesem wirklich sehr lesenswerten Buch die Umstände, wie es dazu kam, wie gute Autorinnen unterdrückt, wenig beachtet und sexualisiert wurden. Sie stellt uns die Frauen vor, erläutert ihr schriftstellerisches Werk – und welche Erfahrungen sie bei den Gruppentreffen machten. Und diese Begegnungen hatten meistens, angeführt durch Aussagen von Richter, einen sehr negativen, sexistischen Beigeschmack. Nicht selten wurden die teilnehmenden Autorinnen nur nach ihrem Äußeren bewertet, nicht aber nach ihrem schreiberischen Können.
Redakteure des Spiegels bliesen ins das selbe Horn, Diskreditierungen, sogar posthum, waren weit häufiger zu lesen als wohlwollende Kritik. Auch die ehemalige Gastgeberin wurde als solche ausgenützt, ihr literarisches Werk abgewertet. Die Details in diesem Buch sind wirklich sehr haarsträubend.
S.178: „Zweifel an der Eigenständigkeit der Arbeit zu säen und auf das Äußere der Autorin auszuweichen – beides bewährte Strategien, um die Arbeit von Schriftstellerinnen abzuwerten. [am Beispiel von Gisela Elsner]
Das Buch ist äußerst sorgsam recherchiert und zusammengestellt. Die einzelne Passagen zu den Treffen und Autorinnen lesen sich spannend wie ein Krimi. Sie stecken voller Details, und klingen dennoch nicht überladen. Ganz große Kunst ist das.
Es ist ein sehr wichtiges Werk, den „vergessenen“ Autorinnen wieder Gehör zu schaffen. Und es ist mehr als ein hoch erhobener Zeigefinger, wie es alte weiße Männer schafften, im Literaturbetrieb ihre Misogynie und alteingesessenes Patriarchat durchzusetzen. Erschreckend und schockierend ist das. Darum: kauft und lest dieses Buch! Es steht so vieles darin, so immens viele Informationen darüber, was der Literatur mehr oder weniger entsagt bzw. vorenthalten und versteckt wurde. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.03.2024
Der spanische Esel
Guhr, Sebastian

Der spanische Esel


ausgezeichnet

Eindrucksvolles Portrait über die Enstehung von Bunuels „Las Hurders“

Der Filmemacher Luis Buñuel ist egozentrisch, mag die Menschen nicht, gehört der Szene der Surrealisten von Paris an, und ist mittellos. Seine ersten beiden Filme waren erfolgreich wie skandalös. Und er möchte gerne einen neuen Film machen, seine wirr umher hüpfenden Gedanken samt seiner Verbitterung in bewegende Bilder bannen. Provozieren. Aber ihm fehlt das Geld. Da kommt ihm sein Freund Ramon, sofern man in Buñuels Kreisen überhaupt von Freunden sprechen kann, gelegen. Ramon, ein Anarchist bis in die Haarspitzen, hat im Lotto gewonnen und bietet an, einen neuen Film zu finanzieren.
Das Thema ist rasch gefunden. Es soll ein Film werden über Menschen, die nichts als ihr Leben, und das was sie am Leib tragen, haben. Sie fahren zu viert nach Las Hurdes, eine einst heroische Region in Spanien, die nur mehr Armut zu bieten hat. Das alles passiert 1932.
In der Region angekommen, weiß Buñuel, dass er dort richtig ist. Die Menschen im Dorf, von bitterster vom kargen Leben gebeutelt, haben in ihrem Leben noch nicht mal ein Automobil gesehen. Wie Menschen von einem fernen Stern erscheinen ihnen die Filmemacher.
Der Dreh beginnt, Bilder werden aufgenommen, doch Buñuel ist nicht zufrieden. Es fehlt etwas, kann aber nicht sagen, was es ist. Erst eine Entdeckung im Kloster, in welchem sie untergebracht sind, beflügelt seine Phantasie auf grausame Art. Der Film wird ein Skandal, nach der Premiere in Spanien sofort verboten.
Sebastian Guhr beschreibt in diesem schmalen Band in knappen Worten die Entstehungsgeschichte zum Film „Las Hurdes“ und zeichnet ein eindrucksvolles Psychogramm des Regisseurs. Klare Bilder tauchen auf, mehr als plastisch. Fast kann man den Knall von Buñuels Revolver, eine Schlüsselszene, (Triggerwarnung!) hören.
Buñuels Gedankengänge (und seine Filme) können schwer auf seinem Publikum lasten, sie erzeugen einen gewissen Druck. Um so leichter schafft es hier der Autor, die Gewalt (doppeldeutig) der surrealen Momente in ein klares, reales und leicht zu lesendes Abbild zu projizieren.
Gerne gebe ich hier eine Leseempfehlung, für alle, die sich auf diese Abenteuer einlassen wollen.

Bewertung vom 05.03.2024
Nach den Fähren
Mengeler, Thea

Nach den Fähren


ausgezeichnet

Eine kraftvolle Erzählung. Dystopisch. Über Ruhe und Touristen.

Langsam und sanft fließt die Erzählung dahin, wie ein blaugrüner Fluss mit spiegelndem Sonnenlicht. Ein paar Stromschnellen – aufrüttelnd, was alles verloren ging auf der Insel, und was an Ruhe und Qualität, an Erholung für die Natur zurückgewonnen wurde – unterbrechen nur kurz, aber intensiv, den Text. Er erzählt uns von ein paar wenigen Menschen auf der Insel, die zurückgeblieben sind, als der Touristenstrom, welcher von den Fähren angespült wurde, ausblieb. Sie lebten ihr Leben, verrichteten ihre Dinge im gleichen Trott wie immer. Wenn sie sich trafen, dann beherrschte oftmals eine Frage das Gespräch: „Hast Du heute schon Fähren gesehen?“
Der Hausmeister, die Frau im gelben Haus mit ihrem Ehemann, den General, der nur mehr eine Last für sie war, die Direktorin, Müller oder Bäcker. Sie hinterfragten nicht, sie hofften.
Eines Tages erschien die kleine Ada im Sommerpalast. Der Hausmeister kümmerte sich um sie, fragte sich, woher sie kam, und war enttäuscht, als sie wieder verschwand. Er erzählte es den anderen, fragte die Inselbewohner, doch niemand wusste eine Antwort darauf.
Die Frau des Generals war des tagtäglichen Trotts überdrüssig. Jeden Tag setzte sie ihn auf das Pferd, welches ihn über die Insel trug. Immer in der Hoffnung, er möge nicht zurückkehren. Sie wollte weg, wollte das Leben auf der Insel nicht mehr führen.
Der Tourismus war allgegenwärtig, überall auf der Insel. Die besten Plätze wurden geopfert, um ein schöneres Hotel nach dem anderen in die Natur zu stellen. Die Menschen kamen in Scharen, mit ihnen der Lärm, der Schmutz, die Arbeit, welche sich zwangsläufig ergab.
Nach dem Ausbleiben dieses alljährlich stattfindenden Tsunamis verließen die meisten Bewohner die Insel, suchten und benötigten neue Arbeit.
Wer zurückblieb, kümmerte sich um die Insel, um sich selbst, in respektvoller Weise auch um seine wenigen Mitmenschen. Es schien, als wäre, nach dem alles andere verschwand, die Harmonie übrig geblieben.
Der Roman ist eine meisterhaft erzählte Geschichte, ich könnte ewig dort verweilen in dieser leicht dystopisch angehauchten Welt voller Ruhe. Die Lektüre hat mich sehr begeistert und berührt. Nicht zuletzt auch, weil ich selbst in einer Touristenhochburg lebe, die Vor- und Nachteile davon kenne, Ruhe und Einsamkeit oft schmerzlich vermisse. Insofern hat mir die Autorin auch aus der Seele gesprochen. Ich denke auch, es ist ein Gebot der Stunde, vieles (bis fast alles) in unserer Gesellschaft zu überdenken. Immer „höher, stärker, schneller“ wird uns aus der Bahn werfen. Leben mit der Natur, anstatt dagegen. Entschleunigung statt tausende Dinge gleichzeitig. Der Mensch wird irgendwann an sich selbst zerbrechen. Wie wird Lebensqualität definiert?
Ich kann euch diesen Roman wirklich nur ans Herz legen. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 03.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


ausgezeichnet

Ein poetischer Aufschrei ohne laute Töne für mehr Empathie.

„Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“, so der Sub-Titel.

Der Roman beginnt mit einem sehr markanten Satz, der einen sofort in den Bann zieht, und tatsächlich zu einer Ruhe verhilft, um in diesen sanft fließenden Text hineinzugleiten.
S.5: „Die Stadt verstummte. Die Stille war mit einem Mal über sie hereingebrochen, obwohl dies nur der letzte Schritt gewesen war.“
Es ist für mich schon der erste Hinweis einer gewissen Wortlosigkeit, welche den Protagonistinnen im Laufe des Romans widerfährt. Der Titel bedeutet im Belarusischen (und anderen slawischen Sprachen: Einsamkeit).
Das Hauptthema ist die Empathie. Warum fehlt sie vielen Menschen? Oder warum sind viele Menschen nicht dazu fähig. Verblassen empathische Menschen wirklich in der Einsamkeit? Leiden sie (wir, ich fühle mich angesprochen) still und heimlich in unseren dunklen Winkeln mit der verletzten (und verletzenden) Welt.
S.122: „Die Fähigkeit des Menschen zu Empathie ist direkt mit seinem Schmerzempfinden verbunden. Offenbar spürt sie [Anm.: eine Dozentin] so gut wie keinen Schmerz, daher ist es auch sinnlos, an ihr Mitgefühl zu appellieren.“
Maja forscht über den Ausbruch eines Vulkans. Immer wieder dabei ist ihre Freundin Helga-Maria. Mal ist sie da, dann wieder nicht. Die Autorin gibt dabei einem aber nicht unbedingt das Gefühl, ob Helga-Maria tatsächlich eine reale Person ist, sondern möglicherweise nur der gute Geist in Maja. Im selben Hotel wie Maja residiert eine Gruppe, die sich mit Vorträgen zur „Regulation von Tierpopulationen“ befassen. Die Konflikte sind greif- und spürbar. Allein durch die Anwesenheit dieser Person entsteht ein Spannungsfeld.
In einem zweiten Erzählstrang geht es um den hochsensiblen Sebastian. Auch er kommt einer empathielosen Verschwörung auf die Spur, in der es um gewaltsame Verdrängung von Arten, insbesondere von Wölfen, geht.
Wie beide Erzählstränge tatsächlich zusammenhängen, löst sich am Schluss auf, so viel sei gesagt.
Aber es geht nicht nur um das Überleben von Tieren. Auch die Werte unserer Gesellschaft siechen dahin.
S.164: „Das Fehlen von Empathie für Tiere, das Absprechen von Rechten gegenüber Frauen und Sklaven, die Ausrottung von Homosexuellen, Albinos, rothaarigen Mädchen, der Hass auf intelligente Frauen – all das passt seltsamerweise in die eine Seele, aber in eine andere nicht.“

Dieser sehr kluge Roman ist ein Aufschrei ohne laute Töne. Ein Stochern mit dem Finger in der Wunde, ohne diese zu berühren. Hapeyeva setzt an, sanftmütig, aber zielgerichtet, in einer wunderbaren, teils sehr poetischen Sprache. Gekonnt hat sie ihre Gedanken, ihre Kritik an unserem verfallenden Wertesystem, in eine Rahmenhandlung gesetzt, die sich einer gewissen Spannung nicht entziehen kann. Ihre Botschaft kommt aus der Stille, leichten Tropfen gleich, die irgendwann ein Fass zum Bersten bringen können.
Möge dieses Buch eine große Leserschaft erreichen, und sich dessen tiefer Inhalt über die Welt ergießen. Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 27.02.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Eine sprachgewaltige, filigrane Aufarbeitung einer Mutter-Tochter Beziehung

Selten habe ich in einem Buch so viele Stellen markiert, die man sich in Erinnerung halten möchte. Und selten wie nie tue ich mich schwer, diesen wunderbaren Roman zu besprechen. Über derart persönliche Romane zu schreiben ist nicht einfach, Interpretationen könnten vielleicht falsch gedeutet werden und schon stehen diese Zeilen in einem anderen (ungewollten) Licht.

Es geht um die Mutter der Ich-Erzählerin in diesem autofiktionalen Roman. Um deren Leben. Darum, was nach deren Tod zurückblieb. Ein Nichts. Eine Leere. Vor allem nur ein marginales Wissen über das Leben der Mutter. Wo sind bzw. waren die Gemeinsamkeiten, Verknüpfungspunkte? Diese werden hier Zeile für Zeile gesucht, aufgearbeitet. Die Autorin erschafft sich einen Zugang, möchte dieses Vakuum füllen, verstehen, sichtbar machen.

S.13: „Was von Mutter unsichtbar war. Ich hatte es vor Augen und konnte es nicht sehen. Es ist das von Mutter unsichtbar Gemachte. Eine Lücke mitten im Leben. Der Nebel mitten im vergilbten Bild. Ein Nichts, das da ist.“

Im zarten Alter von acht Jahren wurde die Mutter damals von zu Hause weggegeben, als „Dirn“, um an einem anderen Hof zu arbeiten. Die Armut war damals groß in den Südtiroler Bergen, die Familien oftmals kinderreich. Warum sie, und kein anderes Kind? Ihr Aufwachsen war traurig, kalt. Immer von einer Härte begleitet. Und sie vergaß ihre Kindheit nicht.

S.122: „Sie hatte eine schlimme Kindheit da oben auf dem Hof, einem düsteren Ort. Da gab es nur Arbeit und die böse Bäuerin. Es war hart da oben, schrecklich hart.“

Wenig sickerte durch in all den Jahren. Erinnerungen, spärliche Anekdoten, Fotos. Ihre Mutter liebte das Wort und Gedichte, doch mehr als ein paar Erzählungen blieben nicht übrig.

“Als würde die Geschichte schmutzen.”

Es ist nicht viel da, um das präsente Nichts aus dem vergangenen Leben der Mutter zu füllen. Was war der Wesenskern in der Mutter-Tochter-Beziehung? Wen hat die Tochter tatsächlich verloren?

Sie macht sich auf die Suche, besucht die Orte, an welchen ihre Mutter als „Dirn“ abgegeben wurde. Doch um auf das Wesentliche zu stoßen, muss letztendlich die Vergangenheit noch weiter zurück verfolgt werden in der Ahnenlinie. Sie findet nur weitere in Armut gebettete Schicksale.

Das Buch ist ein beeindruckender Debütroman, voller Bilder – hart gezeichnet, ohne Beschönigungen. Die Sprache ist sehr gewählt, jedes Wort sitzt perfekt, keines ist zu viel. Der Text entwickelt einen Sog, der einen über die Seiten zieht, obwohl ein Innehalten und bedachtes Lesen von Nöten wäre. Ganz große Erzählkunst ist das für mich. Man wird von Anfang an hineingeworfen in dieses „Nichts“, welches nach und nach Formen annimmt, sich zu einer Aufarbeitung einer Familiengeschichte entpuppt und dennoch ein filigranes Sprachstil über eine vorsichtige Annäherung an die Vergangenheit bleibt.
Mit anderen Worten: Lest das Buch! Grandioses Lesevergnügen und absolute Leseempfehlung dieses Romans von Christine Vescoli.

Bewertung vom 24.02.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


ausgezeichnet

Ein herrlicher Roadtrip durch Ängste, Sorgen, Paranoia eines jungen Lebens.

Georg Himmel hatte eine Urangst – er tat sich schwer, vor Menschen zu sprechen. Ein Handicap, welches ihm besonders in der Schule sehr zur Last fiel. Mündliche Prüfungen waren für ihn, obwohl er alles wusste, der Horror.
Er hatte sich trotzdem überreden lassen, als Trauzeuge seines besten Freundes Vedad eine Rede zu halten. Diese war natürlich glänzend vorbeireitet, aber dennoch …
Die Vorbereitungen für die Hochzeit in einem Nobelhotel in Istrien waren im Gange, als Georg eine dubiose SMS seines Vaters erhielt, gerichtet an eine Lisa. Hatte Georg die Nachricht versehentlich bekommen? Ist sein Vater schon auf dem Weg von Madeira nach München? Alles deutete auf eine Affäre hin, so interpretierte es Georg.
Kurzentschlossen setzte er sich in seinen alten Corsa (ein Fahrzeug mit Geschichte) und begab sich auf eine Roadtrip Richtung Norden. Er wollte seinen Vater am Flughafen abfangen um die Ehe seiner Eltern zu retten.
Während der Fahrt durch die Nacht, mit verschiedenen Aufenthalten an Raststationen oder ihrem alten Ferienhaus, sowie auf Umleitungen, hatte Georg viel Zeit, nachzudenken.
Er stellte alles in Frage, was er kannte. Seine Eltern, sich selbst, das ganze Leben. In Rückblenden erzählt uns der Autor von Georgs Familie, von seinem Aufwachsen, den ständig wechselnden Wohnorten, seinen Urängsten, oder auch von seiner Liebe zum Weltall.
Waren seine Eltern wirklich die, für die er sie hielt? Ist deren Ehe wirklich zerbrochen? Selbst ein Anruf bei seiner Mutter, die ja anscheinend mit ihrem Mann auf Madeira im Urlaub verweilte, sorgte nicht für die erhoffte Erleichterung. Was, wenn sie etwas verschwieg?
Mit Bangen, Hoffen, Gewissensbissen und allerlei sonstigen Gedanken fuhr Georg weiter Richtung Norden, um Gewissheit zu erhalten.
Die halbe Nacht hindurch telefonierte er mit Vedad, der zwar Verständnis für Georg aufbrachte, aber trotzdem nicht gerade erfreut über dessen Verschwinden war. Zumal die Trauringe (sehr teuer) bei Georg waren.
Der Autor spielt mit skurrilen Momenten, manchmal humorvoll, dann wieder mit den vollen, schweren Gedanken seines Protagonisten. Es gibt Momenten, da möchte man Georg beim Lesen zurufen: keep calm, du Chaot. Und dann bekommt man wieder so etwas wie Mitleid, weil er so „verfahren“ wirkte und selbst nur Fahrgast seiner Paranoia, Ängste und Zweifel war.
Es war ein außerordentlich feines Lesevergnügen, Georg durch diese Nacht zu begleiten. Und so gebe ich sehr gerne eine absolute Leseempfehlung für diesen herrlichen Roman.

Bewertung vom 22.02.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


ausgezeichnet

Ein humorvoller Roadtrip durch die Geschichte der alten DDR

Tsokos und Tsokos, das sind das Ehepaar Anja und Michael. Sie haben diesen wunderbaren Roman rund um Heinz „Heinzi“ Labensky geschrieben , und kramen dabei tief in der DDR Geschichte.
Heinzi ist ein besonderer Mensch, mit einer wahrlich besonderen Sicht auf so manche Dinge. Denn, mit dem Denken hat er es nicht so. Da wurde er von der Natur wirklich ziemlich benachteiligt, auch wenn so manche Gedanken von ihm oftmals in ihrer Naivität gar nicht mal so verkehrt erscheinen. Aber seine geistige Tolpatschigkeit lässt ihn in so manches Fettnäpfchen treten.
Dafür hat er aber etwas, was vielen anderen Menschen gründlich entsagt blieb: ein aufrichtiges Herz.
S.31: „Seine Mutter selbst erklärte ihm das alles so, dass er ganz einfach da, wo Herz und Hirn vergeben wurden, leider nur einmal seine Hand gehoben habe.“
Gegen Ende, auf S.458, folgt auch noch so ein schöner Satz: „Luftschlösser brauchten keine Baugenehmigung, aber sie halfen einem, nicht die Hoffnung zu verlieren.“
Denn Heinz gab niemals die Hoffnung auf. Die weiterführende Schule wurde ihm als „förderungsunfähig“ verwehrt, und so schlug er sich mit Jobs durch, die sonst keiner machte.
Wir begleiten ihn von seinen Kindertagen an bis zu seinem 79sten Lebensjahr quer durch die Geschichte von DDR und BRD. Wir treffen auf Russengeneräle, Schatzsucher, nichtentnazifizierte DDRler, Honecker und Brandt, usw. Und immer mit dabei: seine Rita. Also zumindest in seinen Gedanken. Von Kindesalter an waren sie Freunde, wohnten in der tiefsten DDR die es nur gab. Während Labensky sich mit seinem Schicksal abfand, wollte Rita mehr. Vor allem eines: in den Westen fliehen. Labensky hatte sich und Rita geschworen, dass er immer auf sie aufpassen wird (man ahnt schon das Chaos). Doch Rita verschwand, machte ihr Ding, während Heinzi verzweifelt zurückblieb. Er tümpelte wie ein Forrest Gump durch die DDR Geschichte, und weist auch manchmal Ähnlichkeiten zum „Hundertjährigen“ von Jonas Jonasson auf. Denn seine Begegnungen mit gewissen Persönlichkeiten blieb für diese nicht ohne Folgen.

Nur zweimal traf er in seinem Leben noch auf Rita, bis sie endgültig von seiner Bildfläche verschwand – und auch diese Begegnungen blieben nie ohne Folgen. Vor allem für Rita.

Die Erzählung erfolgt in Rückblenden, welche Heinz während einer Busreise nach Warnemünde seinen wechselnden Reisenachbarn erzählt. Er hatte einen Brief von einer Frau aus W. erhalten, in welchem ein Bezug zu ihm und Rita (welche anscheinend tot war) hergestellt wurde. Also setzte er sich ohne lange nachzudenken sogleich in den Bus, und machte sich auf an die Ostsee.
Und somit beginnt die Geschichte und mutiert zu einem herrlichen Roadtrip.
Die Sprache ist frech, direkt. Manche Sprüche lassen einen beim Lesen richtig schmunzeln, und setzen der ganzen Erzählung, welche viele ernste Themen (u.a. viele DDR-Sachen) aufgreift, eine humoristische Note.
Ich habe das Buch wirklich sehr gerne gelesen, mochte die Art und Weise der Sprachführung. Ein geschichtlicher Roadtrip durch die alte DDR. Absolute Leseempfehlung für diesen wirklich wunderbaren Roman, auch wenn ich für mich tatsächlich Parallelen zu Forrest und „seiner“ Jenny fand.