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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 151 Bewertungen
Bewertung vom 13.07.2023
Die Postkarte
Berest, Anne

Die Postkarte


ausgezeichnet

Ein Requiem der besonderen Art!

Anne Berest geht dem Schicksal ihrer Familie nach. Auslöser ist eine Postkarte, die lediglich vier Namen enthält und damit an die vier Mitglieder der Familie erinnert, die interniert, deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Schon die Mutter der Autorin hatte Nachforschungen zur Familiengeschichte angestellt, die sie im 1. Buch in einem großen Dialog der Tochter Anne erzählt.

Hier entfaltet sich nun die erschütternde Geschichte einer großbürgerlichen und gebildeten jüdischen Familie, die mit der Flucht der russischen Urgroßeltern nach der Oktoberrevolution beginnt. Sie fliehen nach Riga und schließlich nach Palästina, wo sie sich mehr recht als schlecht als Landwirte durchbringen, bis der Sohn sich zur Ausreise nach Frankreich entschließt, in das Land der Menschenrechte, das Land von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er ist als selbständiger Ingenieur mit Patenten und eigener Firma erfolgreich und seine Töchter besuchen renommierte Schulen, aber Frankreich verwehrt ihm mehrmals die Einbürgerung. Trotz aller Bemühungen bleibt er so der Unbehauste, und damit und mit dem Schicksal der Familie erinnert er das Bild des Juden Ahasver, der ruhelos umherirrt und keine Heimat findet.

Voller Vertrauen in seine neue Heimat will er den wachsenden Antisemitismus nicht wahrnehmen und meint, der zunehmenden Entrechtung der Juden dadurch zu entgehen, dass er den Hauptwohnsitz der Familie in sein Landhaus in der Normandie verlegt. Eine Flucht kommt für ihn nicht in Frage, und so zieht sich die Schlinge zu: die beiden jüngeren Kinder werden abgeholt, von den Verwandten aus Polen treffen keine Nachrichten mehr ein, schließlich werden sie selber interniert und deportiert. Einzig Myriam, die ältere Tochter, kann der Vernichtung entkommen.

Das 2. Buch spielt in der Gegenwart. An die Erzählung der Mutter schließt sich eine Art Krimi an, nämlich die Suche nach dem Absender der Postkarte, die alles ins Rollen gebracht hatte. Mutter und Tochter spüren in unterschiedlichsten Quellen dem Lebenslauf Myriams, der Großmutter nach. Auf Erzählungen der Großmutter können sie nicht zurückgreifen, weil die Großmutter schwieg, um die schrecklichen Erlebnisse nicht erneut zu beleben. Und weil sie, wie so viele andere Überlebende auch, ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern hatte.

Wie ein großes Puzzle setzt sich so Stück für Stück das Schicksal der Familie zusammen.

Dabei muss sich der Leser mit zusätzlichen beklemmenden Tatsachen auseinandersetzen. So erfahren wir, sehr verhalten erzählt, wie Franzosen ihre Mitbürger durch Denunziation in die Folterkeller der Gestapo und wie sich die Nachbarn am Eigentum der Familie nach deren Deportation bereichert haben. Der Leser erfährt auch von dem blinden Fleck im französischen Auge, der die Kollaboration vieler Franzosen, z. B. auch der Polizei und Verwaltungsbehörden, mit den Deutschen lange Zeit verschwieg. Und dass erst 1996 die Todesursache „gestorben in der Deportation“ und die Verfolgung aus rassistischen Gründen anerkannt wurde.

Sehr beklemmend sind auch die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen die Tragödie ihrer Familie und ihr (laisiertes) Jüdisch-Sein auf iuhr eigenes Leben hat. Sie erzählt von ihren Ängsten und verleiht dem Phänomen deutliche Konturen, das man inzwischen als transgenerationale Traumaweitergabe bezeichnet.

Und zusätzliche Aktualität bekommt durch den nicht nur in Frankreich wieder zunehmenden Antisemitismus.

Wie Anne Berest diese Geschichte erzählt, ist ungemein packend. Das Erzählen der Familiengeschichte wird immer wieder von Fragen unterbrochen und damit immer in die Gegenwart hineingezogen; dazu trägt auch bei, dass die Mutter im Präsens erzählt. Damit gelingt es, die Personen nahe an den Leser heranzurücken, und diese Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart macht den Roman so lebendig.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Simone Kabst, die mit ihrer warmen und lebendigen Stimme den Erzählton des Romans perfekt trifft.

Bewertung vom 04.07.2023
Wilde Geschichten
Tieck, Ludwig

Wilde Geschichten


ausgezeichnet

Kaum zu glauben: eine Werksammlung von Ludwig Tieck, dieses begnadeten Romanschreibers, Novellendichters, Lyrikers, Dramaturgen etc. und Übersetzers, steht immer noch aus. Umso schöner, dass Jörg Bong und Roland Borgards sich entschlossen haben, dem Meister ein besonderes Geschenk zu seinem 250. Geburtstag zu machen: die Herausgabe von 11 seiner frühen Geschichten.

Tieck war ca. 20 Jahre alt, als er diese Geschichten schrieb und hatte sich nach Studienabbrüchen dazu entschlossen, das Schreiben zu seinem Beruf zu machen und davon zu leben. Liest man diese frühen Geschichten, mag man weder das junge Alter des Schreibers glauben noch das Alter der Geschichten: diese Erzählungen sind wunderbar erfunden und sie lesen sich schwungvoll und frisch.

Die Herausgeber haben unterschiedliche Geschichten hier versammelt, die ich mit größtem Vergnügen gelesen habe. Schon diese frühen Erzählungen spiegeln die ganze Bandbreite von Tiecks Erzählkunst wieder. So lässt er einige seiner Geschichten alltäglich beginnen, z. B. ein Mann macht eine Reise und kommt in einer Stadt an, und in dieses Alltäglich-Bürgerliche schleicht sich nun das Fantastische. Eine kleine Beobachtung von etwas Merkwürdigem und Ungewöhnlichen kann das Einfallstor für Unheimliches und Schauerliches sein. Andere Geschichten wiederum vermengen die Realität mit Elementen einer Anderwelt, in der sich Raum und Zeit aufheben und neue Gegebenheiten schaffen. Sehr originell, fast schon modern, ist auch Tiecks Technik des mehrperspektivischen Erzählens, das er an einer Geschichte vorführt. Hier spricht einerseits ein verliebter, aber etwas linkischer Beamter, und auf der anderen Seite spricht eine lebenlustige junge Frau, der er den Hof macht und sie mit seiner Unterhaltung zu Tränen langweilt, die er aber wiederum für Tränen der Rührung hält.
Mit dieser unterschiedlichen Sicht auf ein- und dasselbe Vorkommnis irritiert Tieck den Leser, der sich vor Widersprüche gestellt sieht und plötzlich die Relativität der Wahrheit erkennt.

Besonders beeindruckend sind Tiecks Naturbeschreibungen, die sich nicht in der reinen Beschreibung erschöpfen, sondern immer ein Spiegelbild der seelischen Befindlichkeiten sind und Stimmungen wie Freude, aber auch Angst und Wahnsinn spiegeln. Tiecks Natur ist eine symbolische Seelenlandschaft. Die Wiedergabe von Gefühlen und Stimmungen zieht sich durch die ganzen Geschichten hindurch, und hier zieht Tieck alle Register: von Freude und Übermut angefangen bis hin zu Angst, Zweifel an der Realität, Schwindel, Wahnsinn, Grausen und Selbstverlust.

Der Band ist originell gegliedert, indem auf jede Geschichte ein Kapitel der Herausgeber folgt, überschrieben mit „Tieck lesen“. In diesen kurzen Zwischenkapiteln weisen die Herausgeber auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge hin (z. B. Tiecks Loslösung vom erbaulichen Erzählen der Aufklärung), sie erläutern Schreibtechniken Tiecks, sie bieten Interpretationsansätze an und verbinden die Geschichten miteinander.

Ein großes Lesevergnügen!

Bewertung vom 04.07.2023
Der Club. Dabeisein ist tödlich
Lloyd, Ellery

Der Club. Dabeisein ist tödlich


weniger gut

Das Setting erinnert an einen Agatha-Christie-Roman: eine Insel als „locked room“, auf der sich auf eine Einladung hin einige Menschen versammeln, ein Mord geschieht, und Abgründe tun sich auf.
Dieses Muster übernimmt das Autorenduo in den wesentlichen Zügen, aber baut es zu einem Roman von immerhin über 11 Stunden Vorlesezeit aus.

Auf einer Insel soll ein Resort eingeweiht werden: ein Resort, das die ganze Insel umfasst und das mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet ist. Zur Einweihung gibt der Eigentümer ein opulentes Fest für geladene Gäste. Diese Gäste sind die Reichen und Schönen dieser Welt und stammen überwiegend aus dem Show-Business. Mit großer Liebe zum Detail erfährt der Leser Einzelheiten zu ihrer Kleidung, ihrer Frisur, ihrem Make-up, zu den Inhalten ihres Kleiderschranks und ihres Kühlschranks, er wird informiert über ihre Vorlieben und ihre Marotten.

Auch ihr privates Leben wird thematisiert, und auch ihre Probleme: ob sie noch 40% Rabatt bei Hermès bekommen? Wo denn ihre Einladung zur Met-Gala bleibt? Und wieso antwortet Karl Lagerfeld nicht auf ihren tweet? Ihr ganzes Denken scheint um ihre Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu kreisen. Offensichtlich wird beim Leser ein großes Interesse an der Welt der Promis und Celebrities – diesen "wichtigen" Unterschied erläutert der Roman auch - vorausgesetzt.

Für die Gäste sorgt ein riesiger Trupp an dienstbaren Geistern, und aus diesem Trupp rekrutieren sich die Erzähler der Geschichte, deren Erzählungen ergänzt werden mit Artikeln aus Vanity Fair. Alle vier Erzähler sind in leitenden Positionen tätig und haben teils erstaunliche Karrieren hinter sich. Wer schafft es schon, vom schlecht bezahlten Garderobenmädchen ohne jede Ausbildung mit einem Satz zur persönlichen Assistentin des Chefs eines Imperiums aufzusteigen? In diesem Roman geht das.

Die Handlung entfaltet sich sehr gemächlich und nimmt erst langsam Fahrt auf, und auch dann wird sie immer ausgebremst durch unnötige Wiederholungen. Eine multiperspektivische Erzählung kann durchaus ihren Reiz haben, sie bietet z. B. immer die Möglichkeit, das Innenleben einer Figur genau auszuleuchten. Diese Möglichkeit nutzt das Autorenduo jedoch so extensiv aus, dass es immer wieder zu Überdehnungen und unnötigen Redundanzen kommt und der Roman zu lange auf der Stelle tritt.

Ansatzweise entsteht Spannung, wenn den Reichen und Schönen ihre Masken weggezogen werden und sich ihre Abgründe in Form von Drogen, Alkohol, Ehebruch und dergleichen auftun, aber diese Spannung verflacht sehr schnell durch die unnötigen Wiederholungen. Über die Bezeichnung „Thriller“ kann man sich daher streiten.

Der Roman ist vielleicht interessant für Leser, die sich für die glamouröse Welt der Schönen und Reichen interessieren, wie sie die Regenbogenpresse anbietet.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Christiane Marx. Ihrer angenehmen Stimme habe ich gerne zugehört.

Bewertung vom 30.06.2023
Im Dezember der Wind
Moreno, Marvel

Im Dezember der Wind


sehr gut

Der Roman ist streng gegliedert: drei Bücher, drei weise Frauen, drei Freundinnen und drei Zitate aus dem Alten Testament, die den Tenor des jeweiligen Kapitels vorgeben.

Innerhalb dieser Struktur entfaltet sich eine überbordende Erzähllust und Fabulierfreude. Moreno stellt ihrem Leser eine wachsende und zum Schluss fast unüberschaubare Fülle von Personen vor, deren Geschichte sie in deren Familiengeschichte hinein zurückverfolgt und von deren Geschichte sich wieder andere Geschichten abästeln. Sie erzählt bizarre und teilweise absurde Vorkommnisse, die im Zwischenreich von Realität und Fiktion angesiedelt sind. Damit hält sie den staunenden Leser immer wieder in der Schwebe: ist das Erzählte glaubwürdig oder schon zu phantastisch, um in der Realität Bestand zu haben? Ein Beispiel: Verlässt der millionenschwere, aber liebeskranke Javier tatsächlich seine Fabriken, seine Häuser, seine Familie, seinen Country Club etc. und sucht auf den Weltmeeren, ähnlich dem Fliegenden Holländer, als zerzaustes Gespenst seine große Liebe? Oder ist es wahr, dass die vergewaltigte Donna Eulalia tatsächlich alle männlichen Haustiere abschlachten lässt und sogar das Vaterunser verbietet? Mit solchen und anderen Geschichten errichtet Moreno eine ungeheuer pralle und farbenprächtige, wenngleich auch morbide Welt.

Auch Morenos Figuren schweben zwischen Realität und Fiktion. Sie unterscheiden sich zwar untereinander und sie finden verschiedene Wege, mit dem Patriarchat bzw. Machismo umuzugehen, aber ihnen fehlt die innere Differenzierung. Sie wirken daher eher wie Typen, an denen Moreno ihre Auffassungen zum Patriarchat bzw. zum Feminismus u. a. durchkonjugiert und weniger als Individuen.

Die Personen bewegen sich ausnahmslos in der unendlich reichen kolumbianischen Oberschicht, die ihre Herkunft und damit ihren Anspruch auf Überlegenheit auf die spanischen Konquistadoren gründet und die daher der europäischen Kultur aufgeschlossen und bewundernd gegenübersteht - und gleichzeitig andere Ethnien verachtet.

Aus dieser Schicht stammen die Frauen des Romans, die sich mit der Grausamkeit des herrschenden Patriarchats auseinandersetzen und verschiedene Wege - nicht immer Lösungen! - finden. Das Frauenbild (ebenso das Männerbild) fand ich allerdings entschieden zu einseitig, weil Frauen auf ihre biologischen Bedingungen reduziert werden und Emanzipation allein in der sexuellen Befreiung bzw. Selbstbestimmtheit der Frau gesehen wird. Moreno ist offensichtlich der Auffassung, dass die freie Verfügung der Frau über ihren Körper und ihre Sexualität die Grundlage aller gesellschaftlichen Veränderungen ist. Darüber kann man natürlich streiten. Die Folge dieser Auffassung zeigt sich aber im Roman: Sexualität spielt eine wesentliche Rolle und ist bis zur Übersättigung allgegenwärtig.

Alle Handlungsfäden laufen in der Figur der Lina zusammen, die ihre Freundinnen und Verwandten beobachtet und ihr Leben aus der Rückschau erzählt. Lina hat ihr Land verlassen, wohnt im Sehnsuchtsort Paris, sie ist krank, ihr Leben neigt sich. Und jetzt blickt sie auf das Erlebte zurück, vor allem auf die alltägliche Gewalt, wie sie sich in den Ehen zeigt. Bei diesem Rückblick achtet die Autorin deutlich darauf, immer Zeugen für die Erzählungen zu benennen, und dafür nimmt sie einige Umwege in Kauf. So ist es z. B. einmal eine der Freundinnen, die dem Arzt etwas erzählt, der erzählt es einem Angehörigen, der wiederum erzählt es seinem Bruder, der seiner Tochter - und die gibt die Geschichte dann schließlich an Lina weiter.

Damit erreicht die Autorin einerseits Authentizität, das ist unbestritten, aber andererseits verschachtelt sie damit die Handlung zu einem dichten Komplex, in dem man als Leser den roten Faden suchen muss. Der sich dann oft hinter langwierigen theoretischen Auslassungen zur Psychologie, zum Feminismus und anderen Themen verstecken muss.

Diese Liebe zur Verschachtelung zeigt sich auch in der Sprache. Morenos Sprachkunst ist beeindruckend. Ihr gelingen starke und beeindruckende Bilder, die in ihrer Vielschichtigkeit die Handlung vertiefen. Ihre Formulierungen sind oft bitterböse und reizen zum Lachen, das einem dann am Ende des Satzes wieder im Halse stecken bleibt. Morenos Sprache fließt wie ein breiter und nicht endender Fluss vor sich hin.
Aber die Verschachtelung der Sätze, die überaus komplizierte hypotaktische Syntax und die damit zusammenhängenden unklaren Kohärenzen stauten meinen persönlichen Lesefluss immer wieder auf. Das Lesen wird zu einer konzentrierten Kraftanstrengung, und erst gegen Ende, wenn das Buch auch zunehmend elegischere Töne anschlägt, wird das Lesen leichter.

Trotzdem: mir hat der Roman letzten Endes gut gefallen. Aus dem Buch spricht nicht nur eine große Freude am Erzählen, sondern auch eine leidenschaftliche Wut, mit der die Autorin mit ihrer Gesellschaftsschicht und ihrem Land abrechnet.

Bewertung vom 20.06.2023
Die Krume Brot (MP3-Download)
Bärfuss, Lukas

Die Krume Brot (MP3-Download)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

„Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, 45 Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz.“

So beginnt der Roman, und der Leser weiß: das endet nicht gut. Er weiß aber auch, dass er nun die Ursachen für das Unglück Adelinas, der jungen Protagonistin erfährt. Es beginnt mit ihrem Großvater in Triest, ein treuer Anhänger Gabriele d’Annunzios und dann auch Mussolinis und ein Feind der Slawen. Der Großvater gibt diese Überzeugungen weiter an seinen Sohn, und der wieder an seinen Sohn Mario, der der Vater Adelinas werden wird.

Der Vater liebt seinen einzigen Sohn Mario abgöttisch, und das Unglück beginnt damit, dass er eines Tages von einem Verwandten auf dessen slawische Wurzeln hingewiesen wird. Von Stund an überzieht der Vater den jungen Mario mit Ablehnung, einer Ablehnung, die sogar so weit geht, dass er ihn in den Krieg ziehen lässt und auf seinen Tod hofft. Mario wird ein getriebener Mensch, er ist verunsichert, an keinem Ort hält er es lange aus, schließlich zieht er mit großen Hoffnungen in die Schweiz, aber in keiner Tätigkeit kann er dauerhaft Fuß fassen, trotz herausragender intellektueller Gaben.

Mit diesen intellektuellen Gaben ist sein einziges Kind, Adelina, nicht gesegnet. Sie verlässt die Schule als Analphabetin, und da ihr Vater bei seinem Tod horrende Schulden hinterlässt, kann sie ihre künstlerischen Talente nicht entfalten. Sie muss als ungelernte Kraft arbeiten. Und so gerät sie in die Mühle des Kapitalismus, aus der sie sich nicht mehr befreien kann, erst recht nicht, als sie für ein Kind zu sorgen hat und als Italienerin in der Schweiz Restriktionen unterliegt.
Immer wieder versucht sie einen kleinen Befreiungsschlag, aber sie gerät nur immer tiefer in die Fallen eines menschenverachtenden Systems, in dem sich ihre Eltern schon verloren hatten. Sie erkennt zwar ihre Abhängigkeit, aber sie kann sich nicht daraus lösen, weil sie die zugrundeliegenden Mechanismen nicht durchschaut.

Der Autor zeichnet diese Abhängigkeiten fast quälend nach, und es ist ihm offensichtlich ein Bedürfnis, dem Leser das Funktionieren dieser Mechanismen begreiflich zu machen. Dazu wählt er eine Figur aus, Renato, der einen langen Vortrag hält. Dieser Vortrag ist, zugegeben, didaktisch geschickt aufgebaut, aber er unterbricht die Erzählung mit seinem Theoretisieren. Mir persönlich hätte es besser gefallen, wenn der Autor seine Sozialkritik ausschließlich über die Handlung transportiert hätte.

Dennoch: Bärfuss‘ Blick auf die zeitgenössische Schweiz ist scharf und gnadenlos, und wenn man seine Biografie kennt, weiß man, dass er das selbst erlebt hat: bitterste Armut in einem reichen Land.

Adelina lässt sich mitreißen und entschließt sich, den Roten Brigaden beizutreten und eine andere, gerechtere Welt zu schaffen. Aber sie verkennt, dass sie auch hier wieder in eine neue Abhängigkeit rutscht und lediglich instrumentalisiert wird. Schließlich erkennt sie völlig desillusioniert, dass ihr Leben immer ein Kampf sein wird:

„Wie soll es weitergehen, woher soll das Geld kommen, woher die Krume Brot? - … sie hatte nichts zu geben als einen ewigen Kampf.“

Bärfuss erzählt in immer ruhigen Ton diese Geschichte eines Scheiterns und legt dessen Ursachen bloß. Die ruhige Stimme von Sandra Hüller mit ihrem ganz besonderen Timbre macht das Hörbuch zu einem Hör-Vergnügen.

Ein Buch zum Nachdenken.

Bewertung vom 31.05.2023
Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3
Horowitz, Anthony

Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3


sehr gut

Horowitz ist ein routinierter Erzähler. Er bedient sich bei A. C. Doyle und gestaltet ein Ermittlerpaar, das Sherlock Holmes und seinem Freund Dr. Watson ähnelt. Auch hier ist der Erzähler der Chronist der spektakulären Fälle, die der geniale Detektiv Hawthorne löst. Allerdings sind die Beiden nicht befreundet, und es kommt immer wieder zu Reibereien, vor allem dann, wenn dem Erzähler die überlegene und auch überhebliche Art des Detektivs sauer aufstößt.

Die Routiniertheit des Autors zeigt sich auch daran, wie gekonnt er Realität und Fiktion miteinander vermischt. Er benennt seinen „Dr. Watson“ nach sich selber und hat dadurch die Möglichkeit, den Literaturbetrieb und seine Merkantilität, speziell das Verlagswesen, mit durchaus kritischen Kommentaren vorzustellen und in die Handlung einzubauen.

Der Autor siedelt seine Handlung in einem Literaturfestival an. Dadurch hat er die Möglichkeit, einen großen Figurenreigen aufzustellen. Der Kreis der Verdächtigen ist also groß, als nach einem gemächlichen, aber nicht langweiligen Beginn endlich der Mord geschieht, der den Detektiv aktiv werden lässt. Jede der Figuren hätte ein Motiv, und Hawthorne kommt in seinen Ermittlungen ihren Abgründen und Geheimnissen auf die Spur.
Ob es allerdings nötig gewesen wäre, mit einer der Figuren die Handlung um Elemente des Agentenromans auszuweiten?

Die Lösung des Falls geschieht ebenfalls eher altmodisch ausschließlich mit Beobachtungs- und Kombinationsgabe. Dazu passt, dass der Roman auf einen spektakulären Aktionismus verzichtet, sondern der Täter wird schließlich eher leise und fern jeder Öffentlichkeit überführt.

Das Hörbuch wird perfekt von Uve Teschner eingelesen.

Eine spannende, humorvolle, sehr ansprechende, kurzweilige Lektüre!

Bewertung vom 29.05.2023
In Schweden stirbt es sich am schönsten
Motte, Anders de la;Nilsson, Måns

In Schweden stirbt es sich am schönsten


sehr gut

„In Schweden stirbt es sich am schönsten“ ist der 2. Band der Österlen-Reihe. Die Bände bauen offensichtlich nicht aufeinander auf, man kann sie ohne Verständnisprobleme einzeln lesen.

Die beiden Autoren sind Routiniers, und das merkt man an vielen Punkten deutlich. Da ist zunächst einmal das Ermittlerduo, das unterschiedlicher kaum sein kann. Tove Esping ist eine junge und ehrgeizige Kommissarin, die endlich ihren ersten eigenen Mordfall eigenständig bearbeiten will. Sie ist eher ein Landei, während Peter Vinston – auf Erholungsurlaub auf dem Lande – als überzeugter Stadtmensch gezeichnet wird, der zudem eine zwanghafte Angst vor Tierhaaren und anderen Fusseleien auf seinen stets korrekten Anzügen hat. Seine Routiniertheit kontrastiert mit ihrer Unerfahrenheit, sodass es gelegentlich im Getriebe knirscht, was der Handlung aber Würze verleiht.

Die Handlung entführt den Leser in die Welt der Antiquitätenhändler und ist recht verschachtelt. Immer neue Erkenntnisse sorgen für überraschende Wendungen, und der Leser begibt sich mit dem Ermittlerduo auf immer neue Spuren. Die Handlung ist kompliziert, aber immer schlüssig. Und es gibt nicht nur den einen Bösewicht, sondern der Mord ist der Gipfelpunkt einer Kette von Gaunereien, an denen mehrere Personen beteiligt sind.

Die Auflösung wird schließlich, wie man es von den Agatha-Christie-Krimis kennt, in Form eines großen Tableaus geboten, bei dem alle Verdächtigen anwesend sind. Nicht nur alle Verdächtigen, sondern auch alle Besucher einer Antiquitätenmesse erleben die Auflösung in aller Öffentlichkeit mit; das hätte ich mir etwas diskreter gewünscht.

Der Krimi verzichtet auf Leichenberge und blutige Quälereien, es gibt keine rasanten Verfolgungsjagden mit Schießereien und dergleichen. Trotzdem ist der Krimi keine Sekunde langweilig.

Insgesamt eine spannende und flüssig zu lesende Geschichte, leicht erzählt und leicht zu lesen.
Ein sommerlicher Lesespaß!

Bewertung vom 28.05.2023
Die Wikingerin
Glaesener, Helga

Die Wikingerin


gut

Die Autorin versetzt ihren Leser in die Zeit der Wikinger-Raubzüge am Ende des 9. Jhdts n. Chr.
Die Wikinger wurden zwar nicht, wie Glaesener schreibt, als „die Geißel Gottes“ bezeichnet; dieser Beiname gebührt dem Hunnenkönig Attila. Trotzdem: der Name passt. Die Wikinger wurden aufgrund ihrer blitzartigen Überfälle vom Wasser aus von den betroffenen Siedlungen durchaus als Geißel Gottes erlebt.

Die Protagonistin ist Solveigh, die Tochter Haralds, der durch seinen Sieg im Havrsfjord im Jahre 872 zum ersten Mal einen zusammenhängenden Machtbereich schuf, der sich später zum Königreich Norwegen entwickelte. Die zärtliche Liebe des Königs zu seiner Tochter schlägt um in einen so tiefen Hass, dass er einen Preis auf ihren Kopf aussetzt und sie damit zur Flucht zwingt. Die Begründung dieses plötzlichen und tödlichen Hasses überzeugt nicht ganz, auch der Vernichtungswille gegenüber seinen anderen Kindern wird nicht nachvollziehbar begründet.

Dramaturgisch gesehen ist er allerdings notwendig, denn so bringt die Autorin die Handlung in Gang und kann ihre junge Protagonistin auf eine große Reise schicken, die sie von ihrer norwegischen bzw. dänischen Heimat über England und Irland bis nach Paris kommen lässt.

Diese Reise mutet an wie eine Räuberpistole. Die Autorin bietet alles: Freundschaft, Fürsorge, Hass, Mord, Folter, Verrat, Liebe, Unwetter, Flucht, Intrigen, Eifersucht, Druidenzauber, Christianisierung, Hinrichtungen, Fürstenhöfe, Bordleben, Grausamkeiten, Listen etc.

Dazu kommen unglaubliche Zufälle, sodass Solveigh schließlich eine neue Heimat findet und diese Heimat vor den Wikingern rettet.

Eines muss man der Autorin lassen: sie baut die historischen Ereignisse – hier ist es v. a. die Belagerung von Paris – und die dazugehörigen Figuren wie Graf Balduin von Flandern, Graf Odo von Paris, den zögerlichen Frankenkaiser Karl d. Kahle u. a. geschickt und überzeugend in ihren Roman ein. Auch bietet sie ihrem Leser ein authentisches Bild der Kampftechnik der Wikinger. Und ein weiteres muss man ihr lassen: sie kann erzählen, spannend und bunt.

Bewertung vom 12.05.2023
Dickens und Prince
Hornby, Nick

Dickens und Prince


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Dickens und Prince? Eine erstaunliche Kombination! Was ist es, was diese beiden Künstler gemeinsam haben? Und über die Jahrhunderte hinweg verbindet? Eine Gemeinsamkeit haben sie auf alle Fälle: sie werden vom Autor verehrt, und zwar so sehr, dass ihre Portraits wie Ikonen über seinem Schreibtisch hängen, wie er am Schluss seines Essays zugibt.

Hornby begibt sich quasi auf Spurensuche und stellt die beiden Ausnahmekünstler anhand von Schwerpunkten vor. Er hat penibel recherchiert und findet tatsächlich einige erstaunliche Parallelen. Er beginn bei der traumatischen Kindheit, die beide hatten: eine harte Jugend, die von bitterer Armut und Verlassenheit geprägt war. Beide waren gezwungen, früh auf eigenen Beinen zu stehen, und beide waren schon als junge Erwachsene sehr erfolgreich. Trotz oder wegen ihres außerordentlichen Erfolges hatten beide großen Ärger mit ihrem Agenten bzw. Verleger, der sie sehr verbitterte: Prince bekriegte sich jahrelang sehr plakativ mit seiner Plattenfirma Warners, während Dickens das Recht auf geistiges Eigentum einforderte und gegen seine Plagiatoren ausgiebig (und vergeblich) prozessierte.

Interessant ist eine weitere Gemeinsamkeit, auf die Hornby ausführlich eingeht: Sowohl Dickens als auch Prince finden ihre Lösung darin, neue mediale Wege auszuprobieren. Dickens entscheidet sich für das Format der Fortsetzungsromane und Prince nutzt die medialen Möglichkeiten des Internets, und beide erkennen, dass es nicht ausreicht, zu komponieren und zu dichten, sondern dass sie ihre Werke entsprechend vorstellen müssen. Und so werden sie beide zu Performern: Prince in seinen aufwändigen Bühnenshows, und Dickens bei seinen theatermäßig gestalteten Lesungen, die ihm viel Geld einbrachten.

Hornby hebt die unglaubliche und nie nachlassende Kreativität und Produktivität dieser beiden Künstler hervor, die allerdings v. a. bei Dickens auch auf wirtschaftlichem Druck beruhte. Trotzdem: beide sind ungeheuer fleißig, sie verbrennen quasi, und sie hinterlassen ein gewaltiges Werk.

Was macht ein Genie zum Genie? Welche Eigenschaften sind es, die Dickens und Prince so erfolgreich machten? Hornby hat einige Ratgeber befragt und stellt fest, dass Dickens und auch Prince offenbar alles verkehrt gemacht haben. Sie haben nicht jahrelang geübt, und, ganz wichtig, beide hatten keine Zeit zum Perfektionieren ihrer Werke: sie „wollten kreieren, nicht grübeln.“

Es geht aber nicht nur um Dickens und Prince, sondern Hornby räsonniert auch über sein eigenes Schaffen, und damit bekommt dieser Essay einen sehr persönlichen Anstrich.

Der Essay wird eingelesen von Thomas Nicolai, und es gelingt ihm hervorragend, mit seiner modulationsstarken Stimme den Witz und Humor dieses launigen und kurzweiligen Essays wiederzugeben.

Bewertung vom 11.05.2023
Dorf an der Grenze
Valangin, Aline

Dorf an der Grenze


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Ein kleines Tessiner Dorf direkt an der italienischen Grenze, abgelegen, in einer unzugänglichen Natur: das ist der Schauplatz dieses Romans. Eine Idylle, denkt man, und das ist es auch, wenn man sich mit dem Blick von außen begnügt. Und genau den hat Aline Valangin nicht. Sie ist Schweizerin und sie schaut genau hin, und ihr Blick legt bitterböse und gnadenlos die Scheinheiligkeit dieser Idylle frei.

Die Geschichte spielt während des II. Weltkrieges. Die Nachricht vom Ausbruch des Krieges berührt die Bewohner weiter nicht. Allerdings horten sie Mehl und haben damit ihrer Meinung nach ihre Pflichten erfüllt. Und ansonsten? „Der Krieg, der tobte draußen, wo die Berge flach werden“ (S. 23). Für das Dorf hat er keine Schrecken. Im Gegenteil: alle Dörfler beteiligen sich an dem schwunghaften Handel einer Schmugglerbande mit Reis, Käse, Safran. Butter, Schinken etc. Dabei verdienen alle so gut, dass ein Kino installiert werden kann und die Bauernmädchen in Seidenstrümpfen zur sonntäglichen Messe gehen können.

Aber die Idylle wird bedroht. In kleinen Schritten rücken der Krieg und seine Grausamkeiten näher. Zunächst vereinzelt, dann immer häufiger tauchen aber Flüchtlinge an der Grenze auf, entkräftet und verhärmt. Es sind jüdische Familien, die vor der Deportation fliehen, desertierte Soldaten und politische Flüchtlinge – aber das Dorf darf noch weitgehend passiver Zuschauer bleiben, weil die Grenzsoldaten angewiesen sind, alle Flüchtlinge zurückzuweisen. Die oft verzweifelte Bitte um Asyl in der neutralen Schweiz rührt sie zwar menschlich, aber das Gesetz hat Vorrang und wird durchgesetzt.
Partisanen berichten von den Zuständen jenseits der Berge: von Flucht, Vertreibung, Lynchjustiz, vom allgemeinen Hunger und dem Tod von Kindern, von Gräueltaten der Faschisten und der Besatzer. So rückt der Krieg immer näher an die Dörfler heran und sprengt schließlich ihre Idylle und zugleich verlebte Traditionen.

Wie Aline Valangin diese Geschichte erzählt, hat mir sehr gut gefallen. Sie wahrt streng die Perspektive der Dörfler, und als Leser muss man sich die politischen Zustände selber zusammenreimen. Ihr Erzählton bleibt immer freundlich und ruhig, oft humorvoll-ironisch, wenn sie ihre Figuren in deren überholten Traditionen vorstellt. Und was mir besonders gut gefallen hat: kein einziger Satz findet sich, in dem die Kritik der Autorin an der Schweiz direkt formuliert wird: an ihrer Asylpolitik und ihrer Kunst, am Elend der Anderen Geld zu verdienen. Es ist allein die Handlung, aus der der Leser das herauslesen kann, wenn er mag.

Die Schweizer konnten es jedenfalls; der Roman aus dem Jahre 1944 durfte erst 1982 (!) erscheinen.