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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 186 Bewertungen
Bewertung vom 01.01.2024
Die November-Schwestern
Johnson, Josephine W.

Die November-Schwestern


ausgezeichnet

Josephine Johnson versetzt uns in ihre Zeit und in ihr Land: in das Amerika der 30er Jahre, das durch die Große Depression gebeutelt wird. Ihr erster Satz „Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen. “ zeigt nicht nur das Erzählen aus dem Rückblick, sondern vor allem schon die elegische Grundstimmung, die über dem ganzen Roman liegt.

Im Mittelpunkt steht die Familie Haldmarne: Vater, Mutter, drei Töchter, wobei die mittlere die Ich-Erzählerin ist. Der Vater hat seine Arbeitsstelle und sein Geld verloren und versucht nun, als mittelloser Farmer auf einer vernachlässigten Farm über die Runden zu kommen. Er ist glücklos und oft verzweifelt und dem ständigen Kampf gegen die Tücken des Wetters kaum gewachsen. Die Angst vor dem drohenden Bankrott, die Abhängigkeit von den Marktbedingungen und die Aussichtslosigkeit seiner Lage machen ihn zu einem launischen und mürrischen Menschen.

Darunter leidet vor allem die ältere Tochter Kerrin. Im Unterschied zu ihren Schwestern entzieht sie sich immer wieder der harten Arbeit auf der Farm und auch dem familiären Miteinander. Sie macht ihren glücklosen Vater für die Situation der Familie und vor allem für den Verlust ihrer Zukunftsträume verantwortlich, aber sie findet keine Möglichkeit, ihre Situation zu ändern. Die Anstellung eines Knechts wirkt in dieser gespannten Situation wie ein Katalysator, der unterdrückte Aggressionen freisetzt.

Der Blick der jungen Autorin auf ihre Zeit und die aktuellen Lebensbedingungen ist erstaunlich scharf, trotz ihrer Jugend. Sie schlägt deutliche sozialkritische Töne an, wenn sie zeigt, wie die wirtschaftlichen Bedingungen die Entfaltungsmöglichkeiten eines jungen Menschen verhindern und was der ständige Kampf ums Überleben mit dem inneren Gefüge einer Familie macht.

Dazu kommt, dass die Familie Haldmarne kein Einzelfall ist. Auch ihre Nachbarn befinden sich in einer ähnlichen Situation. Die Lage verschärft sich durch Steuerforderungen, für deren Begleichung die Familie den halben Rinderbestand verkaufen muss und damit weiter in eine Armut rutscht, aus der sie sich kaum mehr selber befreien kann. Die Nachbarn versuchen sich gegenseitig zu helfen, aber ihre Mittel sind beschränkt und wirken nur kurzfristig. Eine grundlegende Hilfe ist nicht in Sicht, im Gegenteil: der Kapitalismus blüht, indem die Landbesitzer immer reicher werden und ihre Pächter ums Überleben kämpfen müssen. Mit eindringlichen Bildern vermittelt Johnson ihrem Leser einerseits die Schönheit der Natur, aber andererseits vor allem die Not der Zeit, die Ausweglosigkeit der Lage, das entbehrungsreiche Leben und den Fatalismus ihrer Zeitgenossen.

Passend zum bäuerlichen Leben organisiert Johnson ihren Roman wie den Kreislauf eines Bauernjahres: ein schöner Kunstgriff!

Im Unterschied zu ihren eher wortkargen Figuren kann sie erzählen und Emotionen vermitteln, sie kann wortgewaltig dramatische Naturereignisse wie Dürre, Sturm und Feuer beschreiben, und so spricht der Roman über die fast hundert Jahre hinweg seine Leser eindringlich und unvermittelt an.

Bewertung vom 22.12.2023
Das rote Buch der Abschiede
Saisio, Pirkko

Das rote Buch der Abschiede


ausgezeichnet

Pirkko Saisio macht es ihrem Leser nicht leicht. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, und so springt sie zwischen den Zeiten hin und her, analog zu ihrer Erinnerung. Sie beginnt zwar in der Gegenwart, aber reiht dann ihre Erinnerungsfetzen aneinander und überlässt dem Leser die Gesamtschau.

Diese Gesamtschau ist jedoch faszinierend. Vor dem Auge des Lesers entsteht das Bild Helsinkis in den 60er und 70er Jahren, penibel beschreibt die Autorin die Wege, die Örtlichkeiten, die Lage der elterlichen Wohnung und vor allem die Kirche, zu der sie eine besondere Beziehung entwickelt. Hier in Helsinki wuchs die Autorin auf, in einem Mietshaus im Arbeiterviertel, in einer kommunistischen Familie, in deren Regalen ausschließlich die Bücher von Stalin und Lenin standen. Damit sind schon die Konstituenten genannt, die das Leben der Autorin bestimmen: ihre Religiösität und ihre kommunistische Ausrichtung.

Die Liebe zum Buch, zur Literatur und allgemein zur Kunst führt sie von ihrer Familie weg. Sie ist die Erste ihrer Familie, die studiert. Noch entscheidender ist aber ihre Homosexualität, die im Finnland der 70er Jahre noch unter Strafe stand und die zum Bruch mit ihren Eltern führt: „Und so trennt Mutter mich mit einem Seziermesser von meinem Hintergrund."

Das ist nicht der einzige Abschied, den die Autorin thematisiert. Im Zentrum steht der quälende Abschied von ihrer großen Liebe Havva, der ihr Leben aus den Fugen geraten lässt. Noch heute unterteilt sie ihr Leben in die Zeit vor und nach dieser Liebesbeziehung. Kleinere Abschiede gruppieren sich um dieses Zentrum herum. Es sind nicht nur Abschiede von Lebenspartnerinnen, sondern auch der Abschied von beruflichen Plänen und die Neu-Ausrichtung hin zur Schauspielerei, zur Regie und zum Schreiben. Durch diese Abschiede wird das Buch sehr dicht. Der Leser begleitet Pirkko Saision zu ihren sozialistisch-revolutionären Agitprop-Theatervorstellungen, und er bekommt einen Eindruck vom Leben einer jungen lesbischen Frau im Finnland der 70er Jahre. Die Art und Weise, wie sie ihre sexuelle Identität literarisiert, besticht durch die Selbstverständlichkeit und auch Leichtigkeit, mit der sie sie erzählt. Ihre oft szenische Erzählweise, die an ein Drehbuch erinnert, wirkt lebhaft, pointiert und kraftvoll, aber immer poetisch.

Wie eingangs gesagt: Pirkko Saisio macht es ihrem Leser nicht leicht. Sie springt nicht nur zwischen den Zeiten umher, sondern auch zwischen den Erzählinstanzen. Mal erzählt ein Ich, dann wieder eine Sie. Damit schafft die Autorin zwar kunstvoll Nähe und dann wieder Distanz zu ihrer Figur, aber dieser Wechsel führt immer wieder zu Kohärenzproblemen und damit zu Verständnisproblemen.

Ein sprachlich beeindruckendes Zeitdokument!

Bewertung vom 18.12.2023
Der verwunschene Fels
Cather, Willa

Der verwunschene Fels


ausgezeichnet

Willa Cather interessiert sich für Menschen und deren Geschichten, in denen sie wiederkehrende Muster erkennt. Diese Muster erzählt sie in ihren Romanen, und man erkennt sie auch in diesen acht Kurzgeschichten wieder, die Agnes Krup teilweise erstmals übersetzt hat.

Alle Geschichten handeln von Menschen, die sich von ihren umgebenden Mitmenschen unterscheiden, die aus der üblichen Ordnung der Dinge herausfallen, die sich lösen wollen und in Unbekanntes aufbrechen oder, umgekehrt, die in eine bestehende Ordnung hineinkommen und dort für Irritation sorgen.

Zwei Geschichten haben mir besonders gut gefallen: „Pauls Fall“, die bittere Geschichte eines jugendlichen Außenseiters, und „Ein Wagner-Konzert“, die nicht minder bittere Geschichte einer älteren Frau.

„Pauls Fall“: Mit diesem doppeldeutigen Titel erzählt Willa Cather das eine dieser Muster. Es ist die Geschichte eines jugendlichen Außenseiters, der nirgendwo verwurzelt ist, sogar nicht in seiner Familie. Er liebt das Theater und kann mit dem eher bäuerlich geprägten Umfeld wenig anfangen, und mit einer roten Nelke im Knopfloch hebt er sich schon äußerlich von seiner Umgebung ab.

In „Ein Wagner-Konzert“ steht die ältere Tante des namenlosen Ich-Erzählers im Mittelpunkt. Sie ist eine gebildete Frau, aber hat sich mit ihrer Ehe für das entbehrungsreiche, harte Leben einer Pioniersfamilie in der Prärie entschieden. Sie ist verarbeitet und vorzeitig gealtert. Der Ich-Erzähler lädt sie in ein Wagner-Konzert ein. Und bei der Musik – ebenfalls ein Cather-Thema – bricht das große Heimweh der Tante nach Musik und Kultur in ihr auch, sie ist erschüttert bis ins Mark.

Wie Willa Cather das Innere ihrer Figuren deutlich macht, ist hohe Kunst. Vieles verbleibt im Indirekten und Nicht-Gesagten, Willa Cather beherrscht die Kunst des Auslassens in Perfektion. Und trotzdem erhält der Leser einen Einblick in die Seelen der Figuren. Wie die Autorin beobachtet er sie aus der Distanz, und zugleich rücken sie ihm emotional sehr nahe.

Immer wieder geht es um die Sehnsucht nach dem Fernen, um Träume des zukünftigen Lebens und um Hoffnungen, aber es geht auch um den Verlust dieser Träume, um Desillusionierung und Bescheidung. Es geht auch konkret um die Liebe zur heimatlichen Prärie Nebraskas, die Willa Cather in wunderschönen knappen Schilderungen feiert. Und über allen Geschichten liegt der Zauber einer versunkenen Zeit.

Ein außerordentlicher Lese-Genuss!

Bewertung vom 14.12.2023
Unsereins (MP3-Download)
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins (MP3-Download)


ausgezeichnet

„Und wäre dies das Ende eines Films, so würde die letzte Einstellung aus der Perspektive einer Drohne gedreht“, heißt es am Ende des Romans. Und genau so beginnt auch der Roman: mit der Perspektive einer Drohne. Da wird der Weg eines Regentropfens verfolgt, der sich von oben her dem „kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs“ nähert und seinen Weg sucht und findet, nämlich das Haus des Rechtsanwaltes Lindhorst und seiner Familie. Und auch wie von oben werden weitere Figuren anvisiert und dann herangezoomt, die in einer Verbindung zu dieser Familie stehen. Mit diesen Nebenfiguren – sind es wirklich Nebenfiguren? – entfaltet die Autorin die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Problemfelder der Zeit um die Jahrhundertwende: Sozialdemokratie, Antisemitismus, Homosexualität, Pauperismus, merkantile Krisen, Nationalismus, gesellschaftliche Umbrüche.

Zugleich zoomt sie sich bis in das Innerste der Figuren hinein.

Da ist z. B. Georg, Sohn eines Bankrotteurs, von den Klassenkameraden verachtet und isoliert. Hier erfährt der Leser etwas über die gesellschaftliche Rangordnung der Zeit: oben stehen die ostelbischen Großgrundbesitzer, dann das Patriziat der Hansestadt, und hinter jedem Schülernamen wird die Position des Vaters aufgeführt: Senator, Konsul oder doch zum mindesten Bürgerschaftsmitglied. Da ist für einen Jungen wie Georg kein Platz vorgesehen.

Oder Ida, eine der weiblichen Figuren. Sie will ihrem Schicksal des Dienstmädchens entfliehen und zum Bürofräulein aufsteigen. In vielen Abendstunden lernt sie mühsam das Stenografieren, um dann zu erkennen, dass sie auch die Schreibmaschine beherrschen muss. Und als sie sich diese Kenntnisse angeeignet hat, wird sie ausgebremst durch ihre arthritischen Hände. Sie bleibt gefangen in ihrer Schicht, jeder Aus- und Aufstieg bleibt ihr verwehrt.

Die Parallelen zu den „Buddenbrooks“ sind unübersehbar. Die Autorin ahmt den Ton sehr geschickt nach, und sie spielt mit dem bekannten Personal, das sie ausweitet auf die unteren Schichten. Sie spielt auch mit dem Roman „Buddenbrooks“ selber, der als eine Art gesellschaftliches Ratespiel in der Lübecker Bürgerschaft mit Häme und Schadenfreude entschlüsselt wird. Und hier macht die Autorin eine einfach überzeugende und sehr witzige Volte: denn genau dieses Entschlüsselungsspiel spielt auch der Leser mit ihrem Roman.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Julia Nachtmann. Von einer verwirrend falschen Betonung abgesehen ( Monàco statt richtig Mònaco): eine rundum angenehme Stimme, ihr interpretierendes Vorlesen ist gut durchdacht.

Bewertung vom 25.11.2023
Zauber der Stille
Illies, Florian

Zauber der Stille


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

„Auf dem Segler“: ein junges Paar auf einem Segler, der Wind bläht die Segel, das Paar hält sich an den Händen und schaut in die Fahrtrichtung, wo das Ziel dieser gemeinsamen Reise liegt: eine Stadtsilhouette zeigt sich in irrisierendem Licht. Mit diesem Bild des Covers führt der Autor seine Leser sofort mitten in die Malerei Caspar David Friedrichs ein.

Ein liebendes Paar auf seiner Lebensreise, umgeben von den Elementen Wind und Wasser, das Element Erde als Ziel vor ihren Blicken: das ist der Maler mit seiner jungen Frau Caroline auf dem Weg von Greifswald, Friedrichs Heimatstadt, zurück nach Dresden. Das vierte Element, das des Feuers, verortet Illies in Friedrichs glühender Liebe zu seiner Frau. D a knirscht der Bezug zwar etwas, und solche kurzen Knirscher wird es immer wieder geben, aber immerhin: Illies hat ein Ordnungsprinzip für sein Buch gefunden, nämlich die vier Elemente.

Das erste Kapitel „Feuer“ bricht unverhofft mit der Idylle des Coverbildes und beschreibt den Brand des Glaspalastes 1931 in München, dem unter anderem neun Werke von Friedrich zum Opfer fallen. Dieser gewaltige Brand ist nicht der einzige Brand, der Gemälde unrettbar vernichtet, es folgen kriegsbedingte und andere Brände, z. B. in der väterlichen Kerzenzieherei, der Brand im Dresdner Taschenberg-Palais oder der Brand im Bunker Friedrichshain am Ende des II. Weltkriegs. Und allmählich versteht man als Leser, wieso C. D. Friedrich so lange Zeit in Vergessenheit geraten konnte: zu viele Bilder waren zerstört worden, und die erhaltenen waren wegen der fehlenden Signatur nicht zuzuordnen.

Schon im 1. Kapitel zeigt sich Illies Vorgehen. Er verzichtet auf die Chronologie, sondern konzentriert sich auf durchgängige Erscheinungen. Er beschreibt z. B. einige Bilder, zunächst eher vordergründig, aber geht dann der Geschichte dieser Bilder durch die Jahrhunderte nach und erzählt von abenteuerlichen Diebstählen, von raffinierten Kunsthändlern und Museumsdirektoren, von Einflüssen und Querverbindungen.

Die ungeheure Recherchearbeit des Autors ist nicht zu übersehen. Das Buch hat aber keinerlei Schwere. Illies bringt seine Kenntnisse und diese unglaublich vielen Zusammenhänge eher plaudernd und auch mit persönlichen Kommentaren an den Leser heran. Der Leser holpert also nicht schwerfällig in einem wissenschaftlichen Karren einen steinigen Weg entlang, sondern er unternimmt mit dem Autor eine, wie es der Untertitel schon sagt, eine temporeiche und kurzweilige Reise durch die Zeiten. Der Sprecher trägt mit seinem leichten Plauderton das Seine dazu bei.

Alles lernt der Leser schließlich kennen: den künstlerischen Werdegang, seine Traumatisierung durch den Tod des Bruders, der ihn vor dem Ertrinken rettete, seine lebenslange Schwermut, seine tief religiöse Grundhaltung, seine Familie, seinen Dresdner Freundeskreis, seine Ablehnung des klassischen Kunstideals („Erinnerungen, nichts als kalte, tote Erinnerungen“), sein schwieriges Verhältnis zu Goethe, sein Verhältnis zur Natur, seine Kunstauffassung, seine Montage-Technik, seine finanzielle Not, sein Wesen und so fort.

Die Reise geht aber weiter z. B. zu Friedrichs Einfluss auf Walt Disney und dessen „Bambi“-Film, aber immer wieder stockt sie in der Zeit des Nationalsozialismus. Caspar David Friedrich war ein Mensch, der zutiefst seine Heimat liebte („Erde“) und der in der Zeit der napoleonischen Besatzung mit den Waffen kämpfte, die er zur Verfügung hatten nämlich seiner Kunst: er malte Hünengräber und Landschaften mit mächtigen Eichen, d. h. er beschwor die „Kräfte der Vergangenheit“, wie Illies es nennt. Und genau das dient den Nationalsozialisten zum Vorwand, diesen schwermütigen, traumverlorenen Maler zu einem germanischen Helden umzustilisieren.

Sehr ausführlich widmet sich Illies besonders zwei Bildern. „Gescheiterte Hoffnung“ (1842) ist das eine, und Illies hebt deutlich den persönlichen Hintergrund des Malers hervor, dessen Hoffnung auf eine besser bezahlte Stelle eines Ordentlichen Professors in Dresden sich zerschlagen hatte. Seine Bilder seien „zu trübsinnig“.
Das andere ist das radikalste und wohl modernste Bild: „Mönch am Meer“. Ein Bild, das einen Menschen in seiner Verlorenheit vor der mächtigen Natur zeigt und Kleist zu der Bemerkung veranlasste, es sei, als ob einem die Augenlider weggeschnitten seien. Kleist erschoss sich wenige Tage später.

Illies‘ Begeisterung für den Maler springt auf den Leser über. Was mir aber über alle Maßen gut gefällt, ist die Tatsache, dass Illies den Maler aus seiner Vergangenheit herausholt und in unsere Zeit stellt. Vergangenheit und Gegenwart werden durch die vielen Bezüge miteinander verflochten.

Illies lässt die Bilder Caspar David Friedrichs über die Jahrhunderte hinweg zu uns sprechen. Und eine solche Belebung der Geschichte finde ich in den aktuellen Zeiten von Geschichtsvergessenheit wichtiger denn je.

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.11.2023
Das Nachthaus
Nesbø, Jo

Das Nachthaus


sehr gut

Herr Nesbo, Sie treiben da ein irres Spiel mit meinen Vorstellungen von Wirklichkeit!

Zwei Jungen, einer davon der Ich-Erzähler Richard, treiben Unfug am Telefon und rufen eine willkürlich herausgesuchte Nummer an – und zum Schrecken des Ich-Erzählers und auch des Lesers wird der Freund in den Telefonhörer hineingesogen und verschwindet. Soll man als Leser diese Geschichte glauben? Sicher nicht. Erzählt Nesbo uns hier einen Horror-Roman?

Ein zweiter Freund verschwindet ebenfalls auf eine unwirkliche Art: er mutiert zum Käfer. Aha, denkt der Leser, das ist eine Kafka-Adaption! Hatte Nesbo nicht vor Jahren bei dem sog. Shakespeare-Projekt mitgemacht und eine geniale Adaption von „Macbeth“ geschrieben? Wo er den düsteren mittelalterlichen Stoff in das genauso düstere zeitgenössische Kriminellen-Milieu von Edinburgh verlegte? Also wäre das hier eine Adaption von Kafkas „Die Verwandlung“? Richard, der Ich-Erzähler schlägt zwar mit einem Kafka-Band nach dem Insekt, aber damit ist diese Parallele schon erschöpft. Keine Adaption. Was dann?

Ein Jugendroman mit Horror-Elementen? Der Leser gibt die Hoffnung nicht auf, dass sich das Geschehen auf irgendeine Weise real und glaubhaft auflöst. In dieser Hoffnung wird er auch immer wieder vom Erzähler bestärkt – bis der nächste verwirrende Dreher kommt. Was ist denn nun wahr? Kann ich Richards Erzählung glauben? Der Leser erlebt die Handlung ausschließlich aus Richards Sicht, und sogar Richard zweifelt gelegentlich, ob seine Wahrnehmungen der Realität oder Alpträumen entstammen. Dazu kommt, dass man meistens in Romanen dieser Art durch die Reaktionen und Handlungen der anderen Figuren eine Fremdperspektive auf den Protagonisten erhält. Und das vermeidet der Autor. Er sorgt dafür, dass der Leser keinerlei Außenperspektive erhält, weder durch Beschreibungen noch durch die Gespräche Richards mit anderen. Damit entfällt ein mögliches Korrektiv, und die Verwirrung des Lesers hält an. Der Leser bleibt quasi gefangen in Richards Kopf und in dessen Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Nesbo spielt hier souverän ein Katz-und-Maus-Spiel mit seinem Leser! Stimmungsvolle Naturbeschreibungen, Aufbau von Spannung, das Erstellen dreidimenionaler Figuren - das alles beherrscht Nesbo, und das setzt er gekonnt ein. Trotzdem: der 3. Teil hat einige Längen, aber immerhin: das Verwirrspiel wird gelöst.

Der Sprecher David Nathan erzählt diese verwirrende Geschichte sehr ansprechend. Allerdings störte mich häufiger seine Satzmelodie, die am Ende des Satzes nach oben ging, was dem Satz einen unpassenden ironischen Unterton verleiht. Wen das nicht stört, wird Vergnügen haben an der sinnbetonten, temporeichen Lesung.

Bewertung vom 12.11.2023
Sobald ihr mich erkennt
Lodge, Gytha

Sobald ihr mich erkennt


sehr gut

Der Krimi ist der 5. Band der Jona-Sheens-Serie. Wer die vorhergehenden Bände gelesen hat, tut sich sicher leichter mit der Fülle an Personen und Amtsbezeichnungen, mit der der Krimi startet. Hier steht auch nicht Jona Sheens im Mittelpunkt, sondern eher Juliette Hanson, die zusammen mit ihren Kollegen mit der Ermittlung betraut wird.

Der Krimi beginnt plakativ und sehr spannend: mit dem Fund einer Frauenleiche, die auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die Spannung wird noch dadurch gesteigert, dass die Autorin ein neues Verfahren in ihrem Buch vorstellt: das der forensischen Genealogie. Mit dieser Methode kann aufgrund von DNA-Vergleichen die Zahl der Verdächtigen eingegrenzt werden. Auch wenn der DNA-Vergleich vor Gericht nicht als Beweis anerkannt ist, beschleunigt er dennoch die Polizeiarbeit.

In diesem Krimi führt der DNA-Vergleich zu einer sehr belastenden Situation. Die alleinerziehende Aisling Cooley wird nämlich mit der Tatsache konfrontiert, dass der Verdacht der Ermittler sich auf ihre nächsten Anverwandten bezieht, u. a. auch auf ihre beiden Teenager-Söhne.

Die Suche nach dem Mörder gestaltet sich daher auch als Reise in die familiäre Vergangenheit, und der Leser erlebt die Sorgen Aislings, er begleitet die Arbeit des Teams bei ihren Vermutungen, er folgt den verwundenen Spuren, erlebt die Fehlschläge mit und schließlich auch die Entdeckung einer verwickelten und problematischen Familiengeschichte.

Gytha Lodge gestaltet hier – was mir den Krimi sympathisch macht - keinen genialischen Ermittler, der im heldenhaften Alleingang den Bösewicht in einem rasanten Show-down zur Strecke bringt, sondern sie gestaltet ein Team. Jedes Mitglied dieses Teams hat sein Profil, und gelegentlich fließen auch seine privaten Freuden und Kümmernisse in den Krimi ein. Diese mehr privaten Dinge werden von der Autorin geschickt zugleich als Cliffhanger genutzt, um die Spannung des Lesers auf den nächsten Band der Serie anzufeuern.

Lese-Empfehlung!

Bewertung vom 03.11.2023
Echtzeitalter
Schachinger, Tonio

Echtzeitalter


ausgezeichnet

Der 10jährige Till besichtigt mit seiner Mutter seine künftige Schule, ein traditionsreiches Wiener Gymnasium, das stolz auf seine Geschichte und seine Absolventen ist. Die hohe Mauer fällt ihm auf, die das Institut umgibt, aber noch ist er zu jung um zu erkennen, dass diese Mauer Schule und Schüler vom Leben draußen abtrennt.

Innerhalb dieser Mauern ist nämlich die Welt noch in Ordnung, jedenfalls nach Meinung der Schulleitung: man pflegt die konservativen Werte und lehnt die Sozialdemokratie und andere Verirrungen ab, die sich außerhalb der Mauer breitmachen. „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte“, heißt es so herrlich sarkastisch im Roman, und einem dieser „Wahnsinnigen“ wird Till ausgesetzt sein: seinem Klassleiter Dolinar. Dolinar hat rückwärtsgewandte pädagogische Konzepte, die auf Unterordnung abzielen, und sein Literatur-Unterricht besteht im Auswendiglernen sinnentleerter Details. Till aber rebelliert nicht, sondern er passt sich an, was sich bei Schachinger so liest:

„Sie sagen Egipten, weil der Dolinar überzeugt ist, dass Ägüpten falsch sei, und als er mit jemandem spricht, der ihn vom Gegenteil überzeugt, und daraufhin festlegt, dass ab jetzt Ägüpten die richtige Aussprache sei, folgen sie ihm, und als der Dolinar nach zwei Wochen zurückrudert und verlauten lässt, dass seine Quelle nicht zuverlässig gewesen sei, sagen sie eben wieder Egipten.“

Till geht den Weg des geringsten Widerstandes, er will lediglich die Schulzeit überleben, was ihn aber nicht vor den willkürlichen Strafaufsätzen des Lehrers Dolinar schützt. Till findet aber eine Fluchtmöglichkeit: er wird Gamer. Er vertieft sich in die Welt eines Echtzeit-Strategiespiels und feiert dort große Erfolge, und dem Leser kommt es so vor, als ob Till in seinem echten Leben einer seiner Spielfiguren gleicht.

Der chronologisch, also eher altmodisch erzählte Roman begleitet Till bis zum Abitur. Der Tod des Vaters, Freundschaften erste Liebe, Kontakte zu den Reichen, Schönen und Bornierten, Wettbewerbe und die Zeitgeschichte – all das prägt Till. Die Beschreibungen der Spiele sind gelegentlich langatmig, aber trotzdem interessant auch für einen Nicht-Gamer. Ausgesprochen witzig und ironisch-bösartig sind Schachingers Beschreibungen des täglichen Schul-Lebens. Die Schüler gehören alle einer privilegierten Schicht an, der kein Schulverweis und auch keine schlechten Noten etwas anhaben können: ihr Weg nach oben ist von Geburt an vorgezeichnet und gesichert. Alle sind „akademisch mittelmäßig, ambitionslos, aber trotzdem eingebildet“, meint Schachinger, und passen daher hervorragend zu Österreich.

Schachingers Freude an humorvollen, ironischen Szenen ist unübersehbar und macht die Lektüre zu einer leichten und vergnüglichen Angelegenheit. Mag sein, dass ein Lehrer wie Dolinar aus der Zeit gefallen ist und überzeichnet ist, aber kann es sich nicht auch so verhalten, dass hinter der abwehrenden Mauer der Schule solche Relikte einer rechtslastigen schwarzen Pädagogik überleben können? Schachingers Erzählung ist einerseits scharfzüngig, pointiert und witzig, aber andererseits zeigt er Mitgefühl mit seinen Figuren und ihren menschlichen Kümmernissen.

Die Freude am Buch wird gesteigert durch einen perfekten Sprecher, der den Wiener Tonfall wunderbar in sein Vorlesen integriert. Ein ganz großes Vergnügen!

Fazit: ein absolut lesenswerter/hörenswerter Roman, weniger ein Schul- oder ein Adoslezenz-Roman als ein breit angelegter Gesellschaftsroman.

Bewertung vom 02.11.2023
Bis wir Wald werden
Mattausch, Birgit

Bis wir Wald werden


gut

Babulya, eine Russlanddeutsche, verlässt mit ihrer nur wenige Monate alten Urenkelin ihre Heimat und übersiedelt wie viele andere auch nach Deutschland, der Heimat ihrer Vorfahren. Diese Russlanddeutschen sind keine Flüchtlinge und keine Vertriebenen, auch wenn vielen das Schicksal der Vertreibung durch die Politik Stalins vertraut ist; sie sind Umsiedler bzw. Spätaussiedler, die im Zuge der Ostpolitik vor allem in den 80er Jahren in die Bundesrepublik wechselten.

Babulyas neue Heimat besteht aus einer Wohnung in einem Hochhaus an der städtischen Peripherie, in der sie zusammen mit anderen Russlanddeutschen lebt. Ihre Küche ist das Zentrum des Zusammenlebens mit ihrer Enkelin Nanush und auch das Zentrum für Begegnungen mit den anderen Bewohnern. Hier werden die Geschichten erzählt, die Babulya bewahrt hat und weitergibt und die mit diesem Buch dem Vergessen entrissen werden.

Die Geschichten Babulyas beschwören eine Vergangenheit herauf, die von Entbehrungen, Hunger, staatlicher Willkür, Verschleppungen und persönlichen Tragödien gekennzeichnet ist. Ihre Geschichten erzählen aber auch von Geheimnissen, phantastischen und ins Mythische überhöhten Ereignissen, von Traditionen, von Essgewohnheiten, Familienzusammenhalt und Zukunftsträumen.

Babulya und ihre Ur-Enkelin Nanush sind in fast symbiotischer Liebe miteinander verbunden. Inzwischen ist Babulya alt und pflegebedürftig, sodass sich ihre Rollen vertauschen. Nun ist es Nanush, die sich mit Hingabe um ihre Urgroßmutter kümmert, auch wenn sie dabei immer wieder an ihre Grenzen kommt.

Durch die Ich-Erzählerin Nanush erfährt der Leser auch die Gegenwart der russlanddeutschen Wohngenmeinschaft, z. B. ihre Puzzle-Bilder an der Wand, die Vorliebe für Plastikblumen, die Liebe zu den traditionellen kleinen Kopftüchern und zu eingelegten Salzgurken, ihren altertümlichen Dialekt, ihre beruflichen Träume und das häufige Platzen dieser Träume.

Die Autorin wählt für ihren Roman eine Sprache, die den Erzählungen Babulyas angepasst ist. Realität und Traumvorstellungen vermengen sich miteinander; Menschen verwandeln sich, und auch das Haus verwandelt sich zu einem Nadelbaum, der seine Äste in den Himmel streckt. Der Wald wird zu einem Bild des Todes, dem sich Babulya zum Zeitpunkt der Erzählung annähert, und die Krähen, die Todesbotinnen, warten bereits auf sie. Dazu passen auch die poetischen „Beschreibungen“ der Personen, die dem Leser nicht immer Konkretes bieten, aber doch einen Eindruck vermitteln. Vieles bleibt in Andeutungen stehen wie z. B. die Tatsache, dass Nanush bei der Umsiedlung auf die Begleitung ihrer Mutter verzichten musste. Auch die Erzählungen sind oft eher Fragmente und wirken wie schlaglichthafte Erinnerungen. Ein wenig mehr Ausgesprochenes hätte dem Roman mehr Konturen verliehen.

Die stets lyrische Sprache hat durchaus ihren Reiz. Sie wird verstärkt durch eingeschobene rechtsbündige Texte, durch eine Vielzahl von Metaphern und eigenwillige Satzstrukturen. Aber nicht alle Ereignisse sind wohl dazu geeignet, in einem poetischen Schwebezustand gehalten zu werden. Wenn z. B. der Junge Vitali, auf Aufforderung seiner Mutter hin, ein anderes Kind so zusammenschlägt, „bis der Boden vor unserem Haus rot war von Blut“, dann kommt die Poetik an ihre Grenzen. „Und Momes Wald. Reh Wolf Bär unsre Freunde. Das Licht uns golden im Haar“ – solche staccato-artigen Sätze und auch der Einsatz vieler stilistischer Mittel sind unbestritten kunstvoll, aber die Häufung wirkte auf mich nur maniriert und zu gewollt.
Bei aller Liebe zur Lyrik: mir war es zuviel.

Bewertung vom 30.10.2023
Lieder aller Lebenslagen
Pilgaard, Stine

Lieder aller Lebenslagen


ausgezeichnet

Ein junges Paar zieht in ein genossenschaftliches Mehrfamilienhaus. Von dieser alltäglichen Situation geht die Autorin aus, und Kapitel für Kapitel lernt der Leser nun die anderen Mitbewohner kennen, die der Zufall hier zusammengebracht hat: Singles, Paare, Familien, alle in unterschiedlichen Lebensphasen und mit unterschiedlichen Sorgen und Nöten belastet. Das Dachgeschoss entwickelt sich zu einem gemeinsamen Treffpunkt der Wohngemeinschaft, hier kreuzen sich die Wege, werden Neuigkeiten ausgetauscht und die Gemeinschaft wird lebendig gehalten.

Die namenlose Ich-Erzählerin, aus deren Perspektive wir die Hausgemeinschaft erleben, ist eine junge Frau, Ende 20, die sich nach ihrem Studium mit dem Schreiben von Horoskopen für eine Zeitschrift durchschlägt. Passend dazu teilt die Autorin ihren Roman in 12 Kapitel auf, je eines für je ein Sternzeichen im Jahresverlauf. Die einzelnen Kapitel ähneln sich vom Aufbau her. Immer steht ein Horoskop am Anfang, das in seiner verschwurbelten Sprache alles und nichts besagt. Aber die Schlagworte des Horoskops werden im Kapitel aufgegriffen, sodass das Horoskop weniger als Vorhersage denn als Ideen-Steinbruch bzw. Assoziationsspeicher für den Fortgang des Kapitels dient, der wiederum aus einzelnen „Liedern“ besteht: „Lied von der Hygge“, „Lied vom Pärchenabend“, „Lied vom Duschabzieher etc.

Hier erfahren wir dann Einzelheiten zur Wohngemeinschaft. Der Roman folgt dabei keinem Handlungsverlauf, sondern geht eher anekdotisch vor. Manchmal holt die Ich-Erzählerin weiter aus, etwa wenn sie die anrührende Geschichte der lesbischen Großmutter und ihrer Gefährtin Ruth erzählt. Andere Personen werden nur in Schlaglichtern vorgestellt, bei anderen Figuren wieder erkennt der Leser plötzlich das große Leid, das das Leben der Figur bestimmt. Auch für Skurrilität ist gesorgt mit der Figur der Lisa, einer verbohrten, aber liebenswerten Mediävistin, die die Welt mit den Weisheiten altnordischer Sagas retten will. Ihre Tochter Gudrun sieht das allerdings anders. Gudrun leidet unter ihrem Saga-Namen, sie möchte lieber Emma oder Laura heißen so wie alle, worauf die Mutter in aller Ernsthaftigkeit kontert: „Es hätte ja noch viel schlimmer kommen können, sagt Lisa, Torod Digtstump oder Torbjörg Skudebrust“.

Es ist aber nicht nur dieser Humor, der den Roman so lesenswert macht, sondern eher diese Mischung aus Skurrilem, Traurigem, Besonderem und Alltäglichem. Der Blick der Ich-Erzählerin auf ihre Mitmenschen ist freundlich, niemals belehrend, sondern immer verständnisvoll. Niemals erhebt sie den moralischen Zeigefinger oder wird besserwisserisch, sondern sie betrachtet auch die Unzulänglichkeiten ihrer Mitbewohner freundlich und wohlwollend. Und auch wenn sie mit ihren unberechenbaren Assoziationen und sprachlichen Kapriolen für Verblüffung beim Leser sorgt und dort eigene Assoziationen freisetzt, bleibt sie dieser grundsätzlichen Menschenfreundlichkeit treu.

Das letzte Kapitel, „Lied vom Dessert des Lebens“ endet mit dem „Lied über die Liebe“, und mit diesem liebe- und verständnisvollen Blick auf ihre Mitmenschen endet dieser originelle Roman.
LESENSWERT!