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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2022
Meter pro Sekunde
Pilgaard, Stine

Meter pro Sekunde


weniger gut

Mit Mann und Kind zieht die namenlose Ich-Erzählerin nach Westjütland, den Teil Dänemarks, den man vielleicht am besten mit unserem Ostfriesland vergleichen kann, Natur, Meer, bodenständige Menschen, die nicht viele Worte machen. Ihr Mann ist Lehrer an einer Internatsschule, sie selbst hat es eigentlich nicht so eilig, eine Arbeit zu finden, aber da das für die Partner der ortsansässigen Lehrer nicht üblich ist, wird ihr schnell der Posten einer Kummerkastentante für die lokale Zeitung zugewiesen. Und so beginnt sie ihr neues Leben zwischen Kleinkind, Führerschein und Briefen, eckt mit ihrer direkten, auch mal Tabu überschreitenden und chaotischen Art immer wieder an, erhält aber auch viel Unterstützung und Rückendeckung von den pragmatischen Dorfbewohnern.

Und das ist eigentlich schon alles, was man über den Inhalt von „Meter pro Sekunde“ von Stine Pilgaard sagen kann, eine richtige Geschichte mit dramaturgischen Spannungsbogen gibt es nicht. Wir folgen der Protagonistin durch ihre alltäglichen Probleme wie das Zahnen ihres Sohnes, Schlafprobleme und die x. Fahrstunde, und haben Teil an ihrer Kummerkastenkorrespondenz. Auch diese beinhalten Allerweltssorgen, die vermutlich jeder von uns kennt. Und die Ich-Erzählerin beantwortet sie konsequent mit Anekdoten aus ihrem eigenen Leben, die nicht zwangsläufig etwas mit dem eigentlichen Problem zu tun zu haben scheinen, um am Ende dann in einer hübsch verpackten Moral zu enden. Zusätzlich werden uns noch selbstverfasste Liedtexte geboten, gesungen auf bekannte Melodien (der Übersetzer hat sich hier bemüht, dem deutschen Leser bekannte Stücke zu finden, damit einem munteren Mitsingen nichts im Weg steht).

Und das alles ist nett. Die Ich-Erzählerin ist nett, ihr Freund ist nett, ihre Freunde sind nett, alle Dorfbewohner sind nett, die Natur ist nett, die Begebenheiten sind nett, der Schreibstil ist nett. So nett, dass mich nach gut einem Drittel des Buches Gleichgültigkeit und nach einem weiteren eine lähmende Langeweile überfiel. Ich bin mir bewusst (weil es dick auf dem Cover steht), dass dieser Roman der erfolgreichste der letzten Jahre in Dänemark ist. Und ich denke, ich verstehe, warum. Er bietet pures Identifikationsmaterial, fast jeder von uns wird sich irgendwo wiederfinden (junge Mütter noch eher, als andere), und sicher ist es schön, den Stress des eigenen Alltags in amüsanter Verpackung wiederzufinden, an die humorvolle Seite des Lebens erinnert zu werden. Pilgaard schreibt auch nicht schlecht, man kann über das, was sie sagt, nachdenken. Oder es auch einfach schön finden, wie sie es formuliert. Nett sozusagen.

Also, ja, ich verstehe, dass man dieses Buch lieben kann, aber für mich blieb es zu oberflächlich. Denn auch unter dem eigenen Alltag liegen mehr Schichten, und gerade die sind es, die das Leben interessant machen. Oder eben einen guten Roman.

Bewertung vom 11.01.2022
Mein Leben mit Fjodor Dostojewski
Dostojewskaja, Anna

Mein Leben mit Fjodor Dostojewski


sehr gut

1866. Anna Grigorjewna Snitkina ist eine moderne 20jährige, die in einer Zeit, wo es für eine Frau in erster Linie vorgesehen ist zu heiraten, und sich um Heim und Kinder zu kümmern, andere Pläne hat. Sie will selbstständig sein, ihr eigenes Geld verdienen, und belegt daher einen Kurs in Stenografie. Sie ist so erfolgreich, dass ihr Lehrer sie dem bekannten Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski als Assistentin für seinen Roman „Der Spieler“ vorschlägt. Dostojewski ist durch den Tod seines Bruders in Geldnot geraten, und muss sein Werk dem Verlag innerhalb von nur vier Wochen vorlegen.
Während der Zusammenarbeit entwickelt sich eine starke Bindung zwischen Anna Grigorjewna und Fjodor Michailowitsch, die die junge Frau nicht zögern lässt, Dostojewskis Heiratsantrag trotz des Altersunterschieds, der Geldnöte und seiner Krankheit (Dostojewski leidet an Epilepsie und, damit verbunden, an Phasen von Schwermut und Gereiztheit) anzunehmen.

Vierzehn Jahre bis zu Dostojewskis Tod dauert diese Ehe, von der Anna Dostojewskaja in ihrem Buch „Mein Leben mit Fjodor Dostojewski“ berichtet. Natürlich muss man sich fragen, ob eine liebende Ehefrau, die ihren Mann (auch nach eigenen Angaben) geradezu vergöttert, die richtige Person ist, ein naturgetreues Bild dieses Menschen abzubilden. Denn tatsächlich ist das ganze Werk eine einzige Hymne, in der Dostojewski nicht nur als genialer Schriftsteller, sondern auch als großzügiger, mitfühlender Mensch und liebevoller Vater und Gatte geradezu in den Himmel gehoben wird. Seine weniger angenehmen Seiten, der Jähzorn, die Spielsucht, die unbändige Eifersucht, mit der er seine Frau einige Male in aller Öffentlichkeit in peinliche Situationen bringt, werden zwar erwähnt, aber eher als liebenswerte Marotten abgetan. Das ganze Buch strahlt Annas Zuneigung und Ergebenheit zu dem Mann aus, um den sich ihr ganzes Leben dreht.

Anna Dostojewskaja hat ihren Mann um 38 Jahre überlebt und ihre Erinnerungen erst kurz vor ihrem eigenen Tod abgeschlossen. Literarisch betrachtet ist die Lektüre kein großartiges Erlebnis. Für jemanden, der nicht nur Jahre an der Seite einer der größten russischen Schriftsteller verbracht, sondern dessen Werk auch wieder und wieder abgeschrieben und später auch verlegt hat, ist ihr Stil erstaunlich laienhaft. Aber das spielt keine Rolle. Was das Buch so liebenswert und lesenswert macht, ist die Nähe zu Dostojewski, die kein anderer Biograf erreichen könnte. Es sind die kleinen Anekdoten, die Beschreibungen von Eigenheiten in Gestik und Mimik, die Erwähnung von Gegenständen des Alltags, die einen ganz nahe heranbringen an Zeit und Geschehen.

Anna Grigorjewna ist die sprichwörtliche starke Frau hinter dem erfolgreichen Mann. Sie ist intelligent, hat einen hervorragenden Geschäftssinn und Mut für neue Wege. Sie hält ihrem Mann nicht nur den Rücken frei, sie bereitet ihm auch den Weg. Es ist diese Mischung aus treuer Hausfrau und beinahe schon Managerin des Erfolgsautors, der sie zu einem interessanten Charakter macht.

„Mein Leben mit Fjodor Dostojewski“ ist sicher kein Buch, das, für sich alleine genommen, dem Leser einen kompletten Überblick über das Leben des großen russischen Schriftsteller vermitteln kann. Dazu ist die Autorin nicht nur zu parteiisch, sondern setzt auch einiges an Vorwissen voraus. Aber als Ergänzung, als berührendes Detail, kann ich diese Erinnerungen jedem Interessierten ans Herz legen.

Bewertung vom 22.12.2021
Nacht der Bestimmung
Ali, Anar

Nacht der Bestimmung


sehr gut

Als Lailat al-Qadr (arabisch [ ]‚ „die Nacht der Bestimmung, die Nacht der Allmacht‘) wird im Islam die Nacht im Monat Ramadan bezeichnet, in der der Koran gemäß islamischem Glauben erstmals offenbart wurde.
- Wikipedia

Es ist das Jahr 1972, als Präsident Idi Amin alle Asiaten aus Uganda ausweisen lässt. Dieses Dekret betrifft auch Mansoor Visram, seine Frau Layla und ihren kleinen Sohn Ashif. Alle drei sind zwar in Afrika geboren, als Nachkommen indischer Vorfahren aber unerwünscht. So sieht sich die Familie gezwungen, ihre gesamte alte Existenz zurückzulassen, und sich in Kanada eine neue aufzubauen.
Mansoor fällt die Umstellung nicht allzu schwer. Er ist seiner neuen Heimat dankbar für die Aufnahme und generell ein ehrgeiziger Mann. Schnell spart er sich genug Geld zusammen, um eine Tankstelle zu übernehmen, und lässt sich auch nicht unterkriegen, als ihm diese während einer Wirtschaftskrise verloren geht. Er arbeitet hart, er hält das Geld zusammen, er nimmt Kredite auf, und versucht, sich weiter nach oben zu arbeiten. Dabei gerät ihm allerdings das Wohl seiner Familie aus dem Blick. Er lässt Layla jeden Penny umdrehen und als Köchin ein Zubrot verdienen, Ashif ist ganz klar dazu bestimmt, sein Nachfolger zu werden, nachdem er Schule und Studium durchlaufen hat. Dass seine Frau darunter leidet, kaum Zeit mit ihrem Mann verbringen zu können, und das Kind fast alleine aufzuziehen, dass sein Sohn andere Veranlagungen und Interessen hat, als das Geschäft, eine künstlerische Seele in ihm wohnt, das sieht Mansoor nicht, will er nicht sehen. Nicht mal, als Ashif zwar BWL studiert, aber so schnell wie möglich die Stadt verlässt, und sich bei einer anderen Firma eine Stelle sucht. Auch nicht, als Layla immer stiller und zurückhaltender wird. Mansoor plant weiter, will sein Unternehmen ganz groß gemeinsam mit dem Sohn ausbauen, lässt sich weder von seiner Familie noch von anderen Hindernissen bremsen. Doch dann kommt Lailat al-Quadr, die Nacht der Bestimmung, in der sich alles verändern wird.

Das Romandebüt „Nacht der Bestimmung“ der kanadischen Drehbuchautorin Anar Ali war für mich eine ambivalente Lektüre. Der klare, aber teilweise auch durchaus poetische Stil und die gekonnt herausgearbeiteten Figuren haben auf mich einen Sog entwickelt, der mich von der ersten bis zur letzten Seite getragen hat. Trotzdem hat etwas gefehlt, es wurde nicht ganz klar, was Ali erzählen möchte, was ihr Anliegen, ihre Aussage sein soll. So hatte ich, was selten vorkommt, nach der Beendigung des Buches, das Gefühl, in der Schwebe zu hängen, und das, obwohl die Geschichte in sich durchaus rund ist.

Jetzt, mit einigem Abstand, ist vor allem ein tiefes Gefühl des Mitgefühls mit den Figuren geblieben, mit dieser Familie, die eigentlich eine Einheit bildet, die zusammen eine Menge durchgemacht hat, in der letztendlich aber trotzdem jeder in seiner eigenen Welt lebt, und kaum in der Lage ist, die des anderen auch nur wahrzunehmen. Die Tiefe, in die sich die Visrams bei mir eingegraben haben, hat mich überrascht und beeindruckt. Und letztendlich auch meine Leseempfehlung geändert. Wo ich direkt nach der Lektüre noch gezögert hätte, würde ich jetzt nicken. Anar Alis Roman ist reich, reich an Geschichte, reich an Schicksal, reich an Menschlichem. Ich wünsche ihr viele Leser und bin gespannt, wie sie sich in eventuell weiteren Romanen entwickeln wird.

Bewertung vom 13.12.2021
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

Die Kinder von Kosawa sterben. Vor einiger Zeit hat sich der amerikanische Ölkonzern Pexton auf dem Land des afrikanischen Dorfes niedergelassen, um nach Öl zu graben. Seitdem vergiften Gase aus den Fabrikschloten Regen und Trinkwasser, Lecks in den Pipelines zerstören die Ernten.
Als wieder ein Kind seinen Vergiftungen erliegt, beschließen die Männer von Kosawa, etwas zu tun. Fünf von ihnen fahren in die nächste Stadt, um die Regierung um Hilfe zu bitten. Keiner von ihnen kehrt zurück. Einem Suchtrupp wird erklärt, niemand hätte die fünf je gesehen.
Als das Überleben schwieriger und schwieriger wird, kippt eines Tages die Stimmung im Dorf, die Einwohner greifen zur Gegenwehr. Eine Gegenwehr, die in einem schrecklichen Massaker enden wird. Und das ist erst der Anfang eines langen Kampfes um Gerechtigkeit, der den Dorfbewohnern noch bevorstehen wird.

Imbolo Mbues Roman „Wie schön wir waren“ erschüttert vor allem durch seine ewige Aktualität und Realität. Eine Realität, vor der wir, die davon profitieren, gerne die Augen verschließen. Erzählt wird Kosawas Geschichte in alternierenden Kapiteln, in denen abwechselnd „die Kinder“ zu Wort kommen, womit jene Generation gemeint ist, die mit der Zerstörung ihrer Heimat und dem Tod als ständigen Begleiter aufwächst, und von denen sich einige später radikalisieren werden, und die Mitglieder von Thulas Familie. Thula, deren Vater zu den fünf Verschwundenen gehört. Thula, die von einer Hilfsorganisation ein Stipendium für einen Schulbesuch in den Staaten bekommt, dort den Marxismus und Ideen der zivilen Gegenwehr kennen lernt, und diese in langen Briefen mit ihren in der Heimat gebliebenen Altersgenossen teilt.

Mbue schreibt dabei wenig sentimental. Ihre Sprache bleibt unaufgeregt und klar, auch wenn sie auf selbstverständliche Weise mystische Elemente, die ein nicht angezweifelter Teil des Dorflebens darstellen, einarbeitet. Dabei mangelt es ihren Stimmen aber leider an Individualität. Hätte ich das Buch an irgendeiner Stelle aufgeschlagen, ich hätte nicht sagen können, wer gerade das Wort hat. Ob das Absicht ist, um die Einheit der Dorfbewohner zu betonen, vermag ich nicht zu sagen. Mir hätte etwas mehr eigene Charakteristik besser gefallen.

Trotzdem fand ich das Buch ausgesprochen lesenswert und habe es nur selten aus der Hand gelegt. Mbues erster Roman, „Das geträumte Land“, für den sie 2017 den PEN/Faulkner Award gewann, liegt deswegen schon auf meinem Bücherstapel bereit.

Bewertung vom 28.11.2021
Der Schattenkönig
Mengiste, Maaza

Der Schattenkönig


sehr gut

Äthiopien 1935. Italien greift unter Mussolini Äthiopien an, um das Land als Kolonie zu besetzen. Die feindlichen Soldaten dringen so weit vor, dass Kaiser Haile Selassie sich gezwungen sieht, Land und Bevölkerung im Stich zu lassen, und nach Großbritannien zu fliehen. Doch niemand hat mit dem Stolz und dem Kampfeswillen der Äthiopier gerechnet. Besonders die Landbevölkerung steht auf und formiert sich spontan, und auch Frauen greifen, trotz der patriarchischen Struktur, zu den Waffen.
Zu diesen Frauen gehört auch Hirut. Sie ist Teil der kleinen Einheit Kidanes, dessen Magd sie in Friedenszeiten war. Kidanes Frau Aster ist diejenige, die, gegen den Willen und Widerstand ihres Mannes, Waffen besorgt und darauf beharrt, dass auch Frauen kämpfen und nicht nur als Nachhut die Verwundeten versorgen können. Aber es ist Hirut, die letztendlich die Idee mit dem Schattenkönig hat, einem Doppelgänger Selassies, durch dessen Anblick das Volk wieder neuen Mut fassen soll. Der Plan geht auf, aber die Kämpfe sind hart und grausam. Und, wie in jedem Krieg, zahlen alle Seiten einen viel zu hohen Preis.

Fotographien spielen in „Der Schattenkönig“ von Maaza Mengiste eine große Rolle. Sie halten das Geschehen fest, frieren das Grauen ein, sind potentielle Zeugen. Mengistes Stil fühlte sich für mich aber noch detaillierter noch weiter runtergebrochen an, als ein Foto. Ihre Art zu erzählen hat mir mehr Eindrücke vermittelt, als eine geschlossene Geschichte. Ich fühlte mich an den Pointillismus in der Malerei erinnert, in dem die Gemälde aus einzelnen Farbpunkten bestehen, die erst mit Abstand ein Bild ergeben. Auch mit Gegensätzen arbeitet Mengiste viel, hell und dunkel, gut und böse, alles ist sehr visuell und kompakt, verliert in dieser Kompaktheit aber auch ein wenig an Individualität.

Interessant ist der Aufbau des Romans. Zwischen den Kapiteln sind immer wieder Zwischenspiele, in denen wir Haile Selassie in, natürliche fiktiver, Privatheit begegnen, und Chöre, die an antike griechische Dramen erinnern, eingeschoben. Diese Anlehnung an das Theater hat für mich den Abstand zum Geschehen noch mal vergrößert, es wurde künstlicher, weniger real und berührend.

Mengiste versucht, in ihrem Roman viele Themen unterzubringen. Die Geschichte Äthiopiens 1935/36, die Rolle der äthiopischen Bevölkerung und vor allem der Frauen in diesem Kampf, die charismatische Gestalt Kaiser Haile Selassies, aber auch der wachsende Antisemitismus Italiens unter Mussolini, vertreten durch das Schicksal des Kriegsfotografens, der im Laufe des Romans erleben muss, dass er für ein Heimatland kämpft, das sich immer mehr gegen ihn wendet. Das ist ehrgeizig und ging für mich leider nicht ganz auf, denn durch diese vielen wichtigen Schwerpunkte, hat mich keiner wirklich erreicht. Eine Fokussierung hätte dem Roman womöglich gut getan.

Aber trotz all dieser Kritik bleibt Mengistes „Schattenkönig“ lesenswert. Ihr Roman ist eine Art Naturgewalt, die mich zwar mit dem Gefühl zurückgelassen hat, ihn nicht wirklich in seinem ganzen Ausmaß begriffen zu haben, aber Mengiste hat eine beeindruckende Stimme, und kann sicher für viele ein großes Leseereignis und eine Bereicherung der Literaturwelt sein.

Bewertung vom 02.11.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Schottland in den 1980ern, die Zeit Margaret Thatchers, der Schließungen der Kohlegruben, Arbeitslosigkeit und Armut. Auch Shuggie Bains Kindheit könnte schöner sein. Seine Mutter Agnes hat ihren ersten Mann mit den beiden gemeinsamen Kindern für den weniger zuverlässigen und eher umtriebigen Taxifahrer und Vater von Shuggie, Hugh „Shug“ Bain. verlassen, und lebt nun mit ihm und den drei Kindern bei ihren Eltern. Als dieses Arrangement immer enger und belastender wird, überredet Hugh Agnes, in ein eigenes Haus umzuziehen. Aber kaum dort angekommen, stellt er fest, dass er so doch nicht leben kann, und verlässt Frau und Kinder. Agnes kommt mit der neuen Situation nicht zurecht und rutscht in den Alkoholismus ab. Ihre beiden Älteren, überfordert von der Situation, verlassen ihr Zuhause und sie so schnell wie möglich, so dass schließlich Shuggie alleine mit der Mutter zurück bleibt.

Douglas Stuarts Debütroman „Shuggie Bain“ ist tatsächlich vor allem auf meiner Leseliste gelandet, weil er den Booker Prize 2020 gewonnen hat und in den Medien so präsent war. Ich habe ein etwas zwiespältiges Verhältnis zum Booker Prize, manche der nominierten Bücher finde ich großartig, bei anderen habe ich Probleme, sie überhaupt auszulesen… zwischen diesen beiden Polen liegt selten etwas. Auch mit „Shuggie Bain“ hatte ich Startschwierigkeiten. Da war zum einen die Übersetzung des Glasgower Dialekts, der gerade zu Beginn als Berlinerisch wiedergegeben wird. Eigentlich eine Kleinigkeit, aber mich hat das irritiert und meinen Lesestrom unterbrochen. Doch im Laufe der Geschichte verwandelt sich dieser Dialekt in ein nicht mehr so leicht zuzuordnendes hingerotztes Deutsch, das viel besser passt und einen schon eher glauben lässt, dass man sich in der Hauptstadt Schottlands befindet.
Dann dreht sich die Handlung über eine sehr lange Strecke vor allem um Agnes. Im Prinzip kein Problem, aber da meine Erwartung durch den Titel eine andere war, sah ich meine Erwartungen für den Moment enttäuscht.
Am meisten hat mich aber die Stimmung des Romans gestört, eine runter ziehende Hoffnungslosigkeit, die mir sinnfrei und selbstgemacht vorkam, und die ich vor allem als anstrengend und unproduktiv empfunden habe.

Aber im Laufe der Seiten hat Stuart es geschafft, einen Sog zu entwickeln, und ich habe mich immer mehr in seine Protagonisten und die Situation hineinfühlen und Aspekte aus neuen Perspektiven betrachten können. Gerade der Anschein von Sinnlosigkeit, der am Anfang mein größter Kritikpunkt war, wurde jetzt zur überzeugenden Stärke. Selten habe ich die Realität von vielen Millionen Menschen - in Teilaspekten wohl von uns allen - so realistisch abgebildet erlebt. Ohne Pomp und Melodrama wird dem Leser das Herz gebrochen…

Was schließlich großartig gerät, ist die Entwicklung Shuggies. Gerade das, was mir am Anfang zu sehr in den Hintergrund geriet, gelingt Stuart in überzeugender Subtilität. Shuggie ist und bleibt Shuggie, ein besonders sensibles Kind, das nicht in die Welt zu passen scheint, in die es hineingeboren wurde. Ein Junge, der von seiner Umwelt geprägt und verwundet wird, keine Wunder erlebt, keine unglaubliche Metamorphose durchmacht. Aber ein Kind, dass seinen Weg findet, letztendlich, weil ihm nicht viel anderes übrig bleibt. Das seine Lage annimmt, daraus Konsequenzen zieht und schließlich Entscheidungen trifft, die weit über sein Alter hinausgehen.

Vorgelesen wird die deutsche Version von Mark Waschke. Waschke ist keiner der ganz Großen, wie Hans Paetsch oder Gert Westphal, aber er macht seine Sache gut, besonders, wenn er den Bewohnern der Siedlung ihre eigenen Nuancen gibt, stattet er diese mit einer wunderbaren Lebendig- und Greifbarkeit aus, die mich oft zum Lachen gebracht hat.

Mit „Shuggie Bain“ wurde mir also ein Booker Prize Gewinner geschenkt, für den ich mich, wenn auch anfangs zögerlich, begeistern konnte. Ein Roman über ein Stück Zeitgeschichte Großbritanniens, aber gleichzeitig über die universellen und zeitlose

Bewertung vom 01.11.2021
Mitgift
Ahrens, Henning

Mitgift


ausgezeichnet

1962. Seid Jahrzehnten ist Gerda Derking für die Verstorbenen in ihrem Dorf zuständig, hat sie gewaschen und zurecht gemacht, sich Kummer, Zorn und Verzweiflung der Hinterbliebenen angehört. Jetzt ist sie über 60 und hat genug. Zu viel hat sie gesehen, die Belastung wiegt schwer. Doch dann steht ihr Nachbar Wilhelm Leeb Senior vor der Tür. Auf seinem Hof ist etwas schreckliches passiert und er bittet Gerda im Namen ihrer Freundschaft und gemeinsamen Vergangenheit, ein letztes Mal ihrer Aufgabe nachzukommen.

In „Mitgift“ führt uns Henning Ahrens, angelehnt an seine eigene Familiengeschichte, durch sieben Generationen der Familie Leeb und ihres Hofes in der Nähe von Peine. Dabei folgt er keiner chronologischen Ordnung, sondern springt durch die Jahrhunderte, gewährt uns oft nur kurze Einblicke, gerade genug, um zu begreifen, was sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte zieht. Natürlich bringt jede Generation seine eigenen Individuen hervor, die ihre Träume und Wünsche und auch Talente mit sich tragen. Da ist August Wilhelm, der sich zu einem geistlichen Leben berufen fühlt, Carl Wilhelm, in dem eher ein wissenschaftlicher Geist lebt, Wilhelm, der sich vom Nationalsozialismus und von Gerda angezogen fühlt. Aber am Ende werden es immer das Wohl des Hofes und die Tradition sein, die siegen, hinter denen man seine eigenen Ansprüche zurückstellt. Man wird Bauer, wie die Vorfahren, man heiratet die Frau, die Land mitbringt, nicht die, die man liebt. Die Bande sind zu stark, um sie zu brechen.

Henning Ahrens schreibt einfach und nüchtern, passend zu dem norddeutschen Wesen seiner Figuren. Und trotzdem schafft er es, im Leser starke Bilder und Gefühle zu erzeugen. Natürlich weiß man nicht, wie viel Realität und wie viel dramaturgische Freiheit seinen Roman ausmachen, aber seine Zeilen strahlen eine schonungslose Ehrlichkeit aus, die beeindruckt.

Meinem ganz persönlichen Lesegeschmack hätte es besser gefallen, wenn Ahrens die Geschichte chronologisch erzählt und weiter ausgeholt hätte. Aber seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2021 freut mich, ich habe das Buch nicht nur sehr gerne gelesen, sondern auch schon weiterempfohlen. Sicher werde ich noch mehr von diesem Autor lesen und die Bilder aus „Mitgift“ lange in mir tragen.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.10.2021
Frau Shibatas geniale Idee
Yagi, Emi

Frau Shibatas geniale Idee


sehr gut

Eigentlich ist es nur ein spontaner Einfall, ein kurzer Impuls, der Frau Shibata dazu bringt, einen Kollegen zu bitten, den Abwasch des letzten Meetings für sie zu übernehmen, da sie schwanger sei und es ihr nicht gut ginge. Sie hat es satt, als einzige Frau der Abteilung mit größter Selbstverständlichkeit das Mädchen für alles zu sein, den Kaffee zu kochen, Post und Süßigkeiten zu verteilen, hinter den Kollegen her zu räumen. Ihre fiktive Schwangerschaft vollbringt da zwar kein Wunder, aber immerhin wird ein jüngerer Kollege in die Kunst des Kaffeekochens eingeweiht und Frau Shibata darf jeden Tag pünktlich nach Hause gehen, anstatt die in Japan erwarteten Überstunden abzuarbeiten. Genug Motivation, um ihre Lüge fortzusetzen. Sie lädt sich eine App runter, in der sie den Wachstum eines Babys verfolgen kann, meldet sich zu einem Aerobic-Kurs für werdende Mütter an, und geht schließlich so weit, sich die Kleider auszustopfen, um einen Babybauch vorzutäuschen. Während der Termin der zu erwartenden Geburt immer näher rückt.

„Frau Shibatas geniale Idee“ ist der erste Roman der japanischen Schriftstellerin Emi Yagi und man kann ihm einen gewissen Charme nicht absprechen. Ihre Sprache ist einfach gehalten, und da sie ihre Protagonistin als Ich-Erzählerin agieren lässt, verführt das dazu, dass man dazu neigt, auch diese als simpel und vielleicht auch geistig etwas befremdlich zu betrachten, besonders wenn man mitverfolgt, wie sie sich Woche um Woche (die Kapitel sind nach der jeweiligen Schwangerschaftswoche benannt) weiter in ihre Lüge hinein lebt, wo doch sowohl ihr, als auch dem Leser, klar ist, dass eine Schwangerschaft nur begrenzt zu fingieren ist. Gerade das macht aber auch einen großen Teil der Spannung des Buches aus, die Frage, wann und vor allem wie sie sich aus der Affäre ziehen wird.

Besonders beeindruckend fand ich die Entwicklung Frau Shibatas, wie sie selbst erst durch ihre eigene Erfindung merkt, was ihr fehlt, sich langsam bewusst wird, wie die Firma ihr Leben bestimmt und wie einsam sie eigentlich ist, wenn sie nach der Arbeit in ihre kleine Einzimmerwohnung zurückkehrt. Im Laufe der Geschichte entwickelt sie eine Vielschichtigkeit, die sich auch in dem Facettenreichtum meiner Einstellung zu ihr widergespiegelt hat.

Ich habe viel darüber nachgedacht, ob Yagis Roman auch funktioniert hätte, wenn er nicht in Japan, sondern z.B. in Deutschland gespielt hätte. Abgesehen davon, dass alle Bücher, die den Weg aus der japanischen in die deutsche Übersetzung finden, diesen ganz eigenen Hauch von Surrealem zu haben scheinen, sind die vorrangigen Themen - die immer noch existierende patriarchische Ordnung in der Arbeitswelt, die Einsamkeit in unserer modernen Gesellschaft - natürlich kein japanisches Phänomen. Auch ich kann mich nicht erinnern, je einen der sich in deutlicher Überzahl befindenden männlichen Mitarbeiter aus einem anderen Grund in der Firmenküche gesehen zu haben, als sich etwas vom Buffet zu schnappen. Und dass Menschen vor allem in Großstädten mehr und mehr vereinsamen, ist auch nicht neu. Aber trotzdem glaube ich, die Geschichte hätte, würde sie in einem westlichen Setting spielen, nicht den selben Eindruck hinterlassen. Durch die hohe Wertschätzung von Höflichkeit und die extreme Arbeitsmoral in der japanischen Gesellschaft scheinen die weitverbreiteten gesellschaftlichen Schwachstellen gleichzeitig subtiler als auch stärker hervorzutreten.

„Frau Shibatas geniale Idee“ ist vielleicht kein Highlight des Jahres, aber ein Buch, das ich gerne gelesen habe und in dem ich mehr finden konnte, als ich auf den ersten Blick erwartet hatte. Ich würde es durchaus weiter empfehlen und bin gespannt, was Emi Yagi uns noch bringen wird.

Bewertung vom 06.10.2021
Mai bedeutet Wasser
Mpoyi, Kayo

Mai bedeutet Wasser


sehr gut

Ende der 1980er Jahre. Adi lebt mit ihren Eltern und der älteren Schwester Dina im Diplomatenviertel von Daressalam, Tansania. Ein neues Baby, Mai, ist unterwegs, vier ältere Geschwister in der Heimat Zaire geblieben. Eine weitere Schwester, Tshadi, nach der Adi benannt wurde, ist schon als Kleinkind gestorben, ein Verlust, der die Familie tief prägt. Adis Eltern sind streng, haben an ihre Kinder hohe, in der Tradition verwurzelte Ansprüche. Die Kinder dagegen, besonders Dina, haben einen moderneren Blick auf die Welt, eine Welt, in der man seinen eigenen Wünschen und Zielen folgen kann. Als zwei der älteren Kinder vor den Zuständen in Zaire zu ihren Eltern flüchten und ihre eigenen Zukunftsideen und Ansichten mitbringen, gerät das Gleichgewicht der Familie endgültig ins Schwanken und sie droht, an diesem Konflikt zu zerbrechen.

Kayo Mpoyi, die, selbst in der Demokratischen Republik Kongo geboren und in Tansania aufgewachsen, mit zehn Jahren nach Schweden kam, erzählt in „Mai bedeutet Wasser“ die Geschichte von Kabongo Mukendi und seiner Familie komplett aus der Sicht der zu Beginn des Buches etwa 5jährigen Adi, einem Kind, in dessen Familie nicht viel kommuniziert wird, und dass darum gezwungen ist, die Ereignisse auf Grund ihres eigenen Wissens und ihrer Beobachtungen zu interpretieren… und der Leser ist es automatisch auch. Wenig wird konkret ausgesprochen, vieles können wir nur erahnen oder auf Grund unseres größeren Erfahrungswertes besser oder zumindest anders einordnen, als Adi es tut. Und gerade dadurch, durch Adis Unschuld gepaart mit unserem Wissen, sind die Geschehnisse oft schwerer zu ertragen, zum Beispiel, wenn Adi wiederholt von einem Nachbarn im Tausch gegen ein paar Bonbons missbraucht wird, ohne wirklich verstehen zu können, was mit ihr passiert. Dabei bedient sich Mpoyi einer Sprache, die, eher poetisch als kindlich, trotzdem auf beeindruckende Weise immer glaubwürdig bleibt.

Wer ein größeres Bild von Daressalam oder gar Tansania erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Das Geschehen beschränkt sich weitestgehend auf das Haus und den Hof der Familie und spart auch dort mit genaueren Beschreibungen, so dass vor meinem inneren Auge keine deutlicheren Bilder entstanden sind. Zwar bieten die Geschichten der Vorfahren, die immer wieder eingeflochten werden, weitere Perspektiven, allerdings ebenfalls eher nebulöser Natur. Generell hat mir eine gewisse Greifbarkeit der Vorgänge gefehlt. Durch den Erzählstil bleibt vieles ungenau, in der Schwebe, was auf der einen Seite sicher so gewollt und gut umgesetzt ist, mir persönlich aber nicht gereicht hat.

In Schweden hat Kayo Mpoyi für „Mai bedeutet Wasser“ den Katapultpriset für das beste Debüt des Jahres 2020 erhalten. Alleine dafür, dass sie gleich in ihrem ersten Roman eine eigene Stimme gefunden hat, verdient. Aber auch die Ambivalenz des Lebens zwischen Moderne und Tradition und was diese mit Familiengefügen macht, fand ich ohne Vorschlaghammer und trotzdem anschaulich umgesetzt. Ich bin, trotz der Kritikpunkte, gespannt auf weitere Werke der Autorin.

Bewertung vom 20.09.2021
Ist es nicht schön hier
Chen, Te-Ping

Ist es nicht schön hier


sehr gut

Eine Gruppe von Menschen wird monatelang von der Regierung in einer U-Bahnstation festgehalten. Züge können aus bautechnischen Gründen nicht fahren, Ausgänge gibt es nicht und Eingänge… na, Eingänge sind eben Eingänge, keine Ausgänge, da kann man nichts machen.
Ein Bauer kreiert eine neue Obstsorte, die aus jedem, der sie verzehrt, das Beste herausholt. Leider nur im erste Erntejahr, im zweiten wird sich der Effekt umdrehen.
Eine Blumenverkäuferin lässt den teuren Kugelschreiber eines Kunden, in den sie sich ein wenig verliebt hat, mitgehen und entwickelt eine Obsession.
Das sind nur drei der zehn Szenarien, in die uns Te-Ping Chen in ihrer Kurzgeschichtensammlung „Ist es nicht schön hier“ entführt. Nicht alle sind skurril, einige schlagen auch leise Töne an. Sie spielen in den Vereinigten Staaten oder in China und decken die ganze Bandbreite von Chinesen, über chinesische Auswanderer, Amerikanern mit chinesischen Wurzlen bis zu Partnern von chinesischen Auswanderern ab, wobei China als Ursprungsland aber nicht zwangsläufig eine Rolle spielt. Sie erzählen von Singles, von (Ehe-)Partnern, Jugendlichen und Rentnern, Menschen, die ihren Weg finden, und solchen, die sich verirren oder verlieren, von Mitläufern und Alleinkämpfern.

Eigentlich bin ich kein Freund von Kurzgeschichten. Ich tauche lieber über einen längeren Zeitraum in eine Welt ein, lerne die Figuren tiefer kennen, bevorzuge auch durchaus einen runden Abschluss. Kurzgeschichten berühren mich oft nicht, lassen mich meistens unzufrieden zurück und ich habe bisher nur wenige Autoren gefunden, bei denen das nicht galt. Aber Te-Ping Chen ist so eine Ausnahmeerscheinung. Die junge amerikanische Journalistin mit chinesischen Vorfahren hat das Talent, auch auf wenigen Seiten eine kompakte und packende Welt aufzubauen, die einen mühelos in das Geschehen rein holt und nur selten unbefriedigt entlässt. Ihre Geschichten hallen auf ungewohnte Weise in einem nach, wie ein Erlebnis, das das Gehirn nicht einzuordnen vermag, das auf die Gefühle aber einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Ich habe lange überlegt, was die Geschichten verbindet, ob es ein gemeinsames Thema, eine geteilte Botschaft gibt, so divers sie auch sind. Was ich auffallend fand, ist, dass sie alle – jedenfalls für mein Gefühl – eine große Einsamkeit ausgestrahlt haben, auch wenn dieses Thema nie explizit angesprochen wurde. Was aber auch wieder ein universales Thema ist, und keinen konstanten Bezug zu China erfordert hätte.

Wie dem auch sei, habe ich dieses Buch sehr gerne gelesen empfehle es eben so gerne weiter und bin gespannt, ob und was uns noch aus der Feder dieser Autorin erwartet.