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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
78910
Bewertung vom 04.05.2021
Die liegende Frau
Ehemann, Wolfgang

Die liegende Frau


ausgezeichnet

Eschede am 3. Juni 1998. Ich habe die Bilder der Zugkatastrophe, die auf der Strecke Hannover-Hamburg geschah, noch deutlich vor Augen. Im vorliegenden Roman überlebt Barbara Dahlmann das tragische Unglück, liegt aber die folgenden 20 Jahre im Wachkoma. Wolfgang Ehemann versucht in seinem Roman zu ergründen wie Barbara ihre Zeit im Koma erlebt. Zu Beginn ist ihr Sprachvermögen stark beschädigt, ihr Denken schweift mal hierhin, mal dorthin. „Raume und Zeite zu verliean, das waren die Bevor- und Benachteile, wenn man völlig losgelöst leben tut und war ganz gestellt auf sich allein.“ (S.21) „Sie liecht da wie lähmt, aber ihr Kopf wird Clara“ (S. 21). Was mich anfänglich irritiert hat, wich rasch einer großen Faszination und Begeisterung. Gerade durch die fehlerhafte Sprache zu Beginn des ersten Teils stellt der Autor eine große Nähe zu Barbaras Zustand her. Die anfänglichen Sprachstörungen lassen bald nach und Barbara erinnert sich Stück für Stück an ihr Leben vor dem Unfall. Vieles ist in der Schwebe, Traum und Wirklichkeit überlagern sich und Barbara taucht immer wieder in eine Nebelwelt. Gedankenblitze, Erinnerungen, philosophische Gedanken, ganz beiläufiges Denken über Sprache und zahlreiche kluge und poetische Sätze machen diesen ersten Teil zu einem besonderen Leseerlebnis. Der Roman ist außerdem eine Art Chronik wichtiger politischer und gesellschaftlicher Themen der letzten 20 Jahre. Sie verdeutlichen, was in der Welt draußen passiert während Barbara im Koma liegt. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, diese Ereignisse sollten Teil von Barbaras Gedankenwelt sein. Trotz Radio und Fernsehgerät im Krankenzimmer war das für mich nicht glaubwürdig und ich hatte unterschwellig das Gefühl, den Autor und nicht Barbara sprechen zu hören. Dies ist mein einziger Kritikpunkt am Roman.
Im weiteren Verlauf kommt es mehrmals zu überraschenden Entwicklungen, die immer wieder eine neue Denkrichtung erfordern. Der Roman hat mich gefesselt, mir einige Rätsel aufgegeben und viele Gedanken angestoßen. Er gleicht einem komplexen Puzzlespiel, bei dem die Teile immer wieder neu geordnet werden müssen, damit am Ende ein schlüssiges Gesamtbild entsteht. Für mich ist die liegende Frau ein sehr besonderes Buch, das vieles wagt und existentielle Fragen aufwirft. Es wird mir mit Sicherheit im Gedächtnis bleiben und ich kann mir gut vorstellen, es erneut zu lesen. Da ich keine 4,5 Sterne vergeben kann, runde ich hier gerne auf.

Bewertung vom 25.04.2021
Mado
Franßen, Wolfgang

Mado


gut

Mado hat genug von der Kneipe ihrer Mutter, den anzüglichen Bemerkungen der Männer, ihrer Schwester und der Enge ihres Herkunftsortes in der Bretagne. Sie geht nach Paris, um dort frei von ihrer Vergangenheit, fern ihrer Familie ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Doch ihr Freund ist gewalttätig; er beleidigt, missbraucht und vergewaltigt Mado und sperrt sie aus Eifersucht sogar in der Wohnung ein. Mado wehrt sich, schlägt mit einem Pokal zu und glaubt ihren Freund ermordet zu haben. Fluchtartig verlässt sie Paris, kehrt in die Bretagne zurück, vertraut sich ihrer Großmutter an, die verspricht alles in Ordnung zu bringen. Die Großmutter mit krimineller Vergangenheit ist für mich eine der stärksten vielschichtigsten Charaktere der Geschichte. Zu ihr konnte ich beim Lesen ein Bindung aufbauen, was mir bei den meisten anderen Protagonisten nicht gelungen ist.

Mado glaubt schwanger zu sein, tanzt, betrinkt sich, dröhnt sich zu, hat Geldnöte und lässt sich mit Thierry als Notlösung ein. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf und Mado leidet auch unter der Last, einen Menschen umgebracht haben zu können. Ihr Leben ist von einer großen Leere, Trost- und Perspektivlosigkeit geprägt. Den einzigen Halt findet sie in ihrer Großmutter. Immer mal wieder blitzt der Wunsch nach Veränderung auf. Mado möchte sich kein Leben vorschreiben lassen. Aber wie kann ein Leben aussehen, dem es an Pespektive, Inhalt, Sinnhaftigkeit mangelt? Wie kann ein Mensch Ziele entwickeln, wenn Unterstützung und Vorbilder fehlen? Die Geschichte ihrer Mutter scheint sich bei Mado zu wiederholen - von Generation zu Generation - ein Entrinnen ist schwierig. Die schnörkellosen, eher kurzen, manchmal derben Sätze passen sehr gut zum Inhalt. Der Roman lässt Protagonisten zu Wort kommen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurden und zeigt, wie schwierig es ist andere Wege zu gehen. Ich lese häufig Bücher, die harte Kost sind und verlasse literarisch gerne meine Komfortzone, um andere Lebensrealitäten kennenzulernen. Thematisch hat mich Mado sofort angesprochen. Leider war mir der Mittelteil viel zu lang, brachte die Geschichte nicht voran und alles drehte sich im Kreis. Dieses nicht vom Fleck kommen hätte bestimmt auch kürzer dargestellt werden können. Insgesamt ein guter Roman, der sein Potential nicht voll ausschöpft.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.02.2021
»Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten« und »Einladung zum Klassentreffen« (eBook, ePUB)
Schörle, Martin

»Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten« und »Einladung zum Klassentreffen« (eBook, ePUB)


sehr gut

Vorhang auf für eine Achterbahn der Gefühle

Das Buch von Martin Schörle enthält zwei sehr unterschiedliche Theaterstücke. Den kabarettesken Monolog „Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten“ und den eher ruhigeren, sehr emotionalen Dialog „Einladung zum Klassentreffen“.

1. Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten
Vollblutverwaltungsgenie Hans Fredenbek lässt uns in diesem Stück an seiner Gefühls- und Gedankenwelt teilhaben. Fredenbek redet sich regelrecht in Rage, wenn er über den richtigen Ablageort eines Radiergummis und über die lang erprobten Vor- und Nachteile unterschiedlicher Radiergummiarten sinniert. Er gibt alles für seinen Beruf, achtet penibel darauf, möglichst keine Anrufe zu erhalten, grübelt über Sinn und Unsinn von Verordnungen, lässt uns an seinen Gedanken über politische, gesellschaftliche und private Themen teilhaben. Selbst im Urlaub kann er seiner Beamtenhaut nicht entkommen. Sehr zum Bedauern seiner Ehefrau eröffnet er während des jährlich gemeinsamen Italienurlaubs sein Büro auf einer öffentlichen Toilette. Fredenbeks Gedankengänge treffen oftmals den Nagel auf den Kopf, zumeist sind sie aber so verworren und grotesk, dass ich aus dem Lachen und Kopfschütteln nicht mehr herauskam. Durchaus interessant sind auch die Einblicke, die er uns in die Interaktion mit seiner Kollegin und seinem Kollegen gewährt. Das Stück hat mir in großen Teilen richtig gut gefallen und ich kann es mir sehr gut auf der Bühne vorstellen. Es gibt allerdings einige diskriminierende Passagen, die mir bitter aufgestoßen sind. Ich erwarte von Fredenbek nicht, dass er sich politisch korrekt äußert. Dass seine Kommentare teilweise sexistisch und rassistisch sind, passt zu seinem engen und verschrobenen Weltbild. Mir waren diese Szenen jedoch zu lang und ausführlich und meiner Meinung nach hätte es dem Stück gut getan, diese Szenen drastisch zu kürzen und teilweise sogar ganz zu streichen. Ohne diese Abschnitte, hätte ich den Monolog absolut grandios gefunden.

2. Einladung zum Klassentreffen
Im zweiten Stück nimmt Carsten zu seiner ehemaligen Klassenkameradin und Ex-Freundin nach 20 Jahren telefonisch Kontakt auf. Er möchte als Initiator des Klassentreffens auch Marina einladen.
Marina sitzt während des Telefonanrufs im Zug und es entwickelt sich ein Dialog, in dem vor allem auch die gescheiterten Liebesbeziehungen von Carsten und Marina bei beiden ein Wechselbad der Gefühle auslösen. Das Telefongespräch, in dem es um romantische Vorstellungen und Wünsche geht, dreht sich immer auch um die gemeinsame Vergangenheit und um die Frage, ob die beiden sich wieder treffen wollen. Marinas Gespräch mit Carsten wird neugierig von anderen Zugreisenden verfolgt und kommentiert. Diese Beobachtungsebene durch Mitreisende hat mir persönlich sehr gut gefallen.
Das zweite Stück ist wesentlich ruhiger, aber auf seine Arte sehr unterhaltsam und nachdenklich stimmend. Fredenbeks Monolog hat mir mit Ausnahme der bereits genannten Kritikpunkte besser gefallen, was sicherlich an meinem Faible für Skurriles und Groteskes liegt.
Insgesamt hatte ich einen anregenden Theaterbesuch zuhause, bei dem ich mir die Protagonisten, das Bühnenbild und die dazugehörige Musik sehr gut vorstellen konnte. Danke dafür!

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