Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Buchdoktor
Wohnort: 
Deutschland
Über mich: 
Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 26.02.2017
Großvaters Bäume
Smith, Lane

Großvaters Bäume


ausgezeichnet

Ein kleiner Junge in Latzhosen, der mich an Sempés kleinen Nick erinnert, strolcht durch einen märchenhaften Garten aus Buchsbaumfiguren und sehr alten Bäumen. Einige Buchsbaumfiguren wirken wie Ungeheuer, sie scheinen zu leben und erleben Abenteuer. Ein fit und sehr freundlich wirkender Großvater beschneidet die Buchsbäume. Schon lange muss er diesen Garten gepflegt haben, denn es gibt bereits ein dicht gewachsenes Labyrinth. Der Urenkel erzählt die Lebensgeschichte seines Großvaters und er scheint der kleine Latzhosenträger zu sein. Der Opa wuchs in einer Zeit ohne Fernsehen, Computer und Handys auf und wollte gern Gartenbau studieren. Doch stattdessen musste er in den Krieg ziehen – im Hintergrund sind Hinweise auf Frankreich zu sehen – lernte dort seine Frau kennen und heiratete sie. Inzwischen vergisst der Großvater im Garten mal seinen Hut, mal seine Brille, doch der Urenkel bringt sie ihm stets zurück. Auf einer Doppelseite mit zusätzlichen Klappen ist in vierfacher Breite der Garten auf dem Höhepunkt seiner Pracht zu sehen - grüner, dunkler und märchenhafter als zuvor. Irgendwo im Hintergrund weist der Eiffelturm auf die glückliche Ehe der Großeltern hin.

Die Geschichte, deren Illustrationen mit nur drei Farben auskommen, endet offen. Als Betrachter fühlt man sich versöhnt mit einem Leben, das glücklich war, obwohl der Großvater seinen Traum erst auf Umwegen verwirklichen konnte. Ein starkes Buch, auch als Geschenk für erwachsene Gartenliebhaber empfohlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.02.2017
Fast eine Familie
Clegg, Bill

Fast eine Familie


ausgezeichnet

Am Tag von Lolly Reids geplanter Hochzeit fallen im Litchfield County /Connecticut Braut, Bräutigam, Brautvater und der Liebhaber der Brautmutter einem Brand zum Opfer. Das Unglück macht selbst professionelle Helfer sprachlos. Nur mit dem, was sie auf dem Leib trägt, flüchtet die einzig Überlebende June Reid mit dem Auto aus dem kleinen Ort und findet weit entfernt vom Unglücksort Zuflucht in einem kleinen Motel. Die Zurückgebliebenen versuchen Anteil an der Katastrophe zu nehmen, doch das scheint angesichts der Tragik unmöglich zu sein. Dorfklatsch und Schuldzuweisungen vertiefen bisher verdrängte Gräben zwischen den Dorfbewohnern. Der Ort Wells ist so klein, dass man dort jeden wiedertrifft, der einen einmal gemobbt oder über den Tisch gezogen hat. Einheimische und Zugezogene leben in zwei verschiedenen Welten. Auch June ist früher von Wells aus zur Arbeit nach Manhattan gependelt ...

In zahlreichen, zeitlich versetzten Handlungsfäden entsteht ein fein gewebtes Bild der Familie Reid mit ihren Beziehungen zu den Ursprungsfamilien von Bräutigam Will, Liebhaber Luke und den Motelbesitzern. Das Motel ist nicht nur für June ein Fluchtpunkt, hier laufen schicksalsbestimmende Fäden zusammen. Erzählt wird u.a. von einem halben Dutzend Icherzählern und mit Focus auf rund 20 Personen. Es gibt im Grunde keine Nebenfiguren, jede Perspektive ist für das Gesamtbild wichtig. Für ein Urteil über June wirken die gesammelten Erkenntnisse alles andere als schmeichelhaft. „Wie oft stellt sich heraus, dass man völlig danebenliegt“, sagt Motelbesitzerin Rebecca über ihr Gelegenheits-Hausmädchen Cissy – und so ergeht es auch den Lesern des komplex gestrickten, multiperspektivischen Romans. Die Bezeichnung Familienroman wird Bill Cleggs ambitionierter Konstruktion nicht gerecht. Erwartet hatte ich einen einfach gestrickten und schnell zu lesenden Text. Gerade als US-amerikanischer Roman über ein kompliziertes Familiengefüge hat „Fast eine Familie“ mich positiv überrascht. Das Buch erzählt von durchschnittlichen berufstätigen Menschen, ihren Verstrickungen und zerbrechenden Partnerbeziehungen. Seine Figuren werden von Schicksalsschlägen aus der Bahn geworfen, sie treffen Entscheidungen, deren Folgen sie nicht voraussehen können. Alles dreht sich um das große Wenn. Was wäre geschehen, wenn es die vielen Abzweigungen in ihrem Leben nicht gegeben hätte? Es geht um Glückserwartungen, das Finden ehemaliger und zukünftiger Familien und um Klischees von Familie, die zur Falle werden können.

Bewertung vom 14.02.2017
Ein wenig Leben
Yanagihara, Hanya

Ein wenig Leben


gut

Wuchtiger Entwicklungsroman - mit Längen und Schwächen
Jude St. Francis ist ein begabter US-Amerikanischer Anwalt, der als Kind vernachlässigt und schwer sexuell missbraucht wurde. Obwohl sein Freund JB schon früh in ihrer Beziehung mit dem richtigen Instinkt feststellt, dass Jude auf körperliche Berührungen exakt wie ein Missbrauchsopfer reagiert, verbirgt Jude seine monströsen Erfahrungen lange vor seinen Freunden. Die Vier sind einander seit dem College eng verbunden. Willem, der vom Aufwachsen mit einem schwerbehinderten Bruder geprägt ist, hat Riesenerfolg als Schauspieler, JB lebt als Künstler und überwindet in harter Anstrengung seine Drogensucht. Malcolm stammt bereits aus reichem Elternhaus und wird ein weltweit anerkannter Architekt. Alle vier Freunde sind beruflich erfolgreich und können gemeinsam über einen fast schon obszönen Reichtum verfügen. Für Jude scheint sich ein Leben in Armut, voller Scham und körperlicher Schmerzen zu einem märchenhaften Schicksal zu wenden, als das kinderloses Professoren-Ehepaar Harold und Julia ihn als Erwachsenen adoptiert. In Rückblenden wird aufgeblättert, warum Jude sich in schwer vorstellbarer Grausamkeit immer wieder selbst verletzt. Er lebt die klassische Biografie eines Missbrauchsopfers, das sich als Erwachsener wieder in einer Missbrauchsbeziehung verstrickt, das immer wieder daran zweifelt, ob es wirklich liebenswert ist. Das verlassene Kind Jude muss sich immer wieder der Zuneigung anderer versichern und gefährdet durch dieses Verhalten seine Beziehungen. Wenn seine Freunde aufhören würden ihn zu lieben, würde er daran die Schuld tragen, meint Jude, wie er sich an seinen Missbrauchserfahrungen schuldig fühlt. Die Aktivitäten der Freunde zu Judes Betreuung wirken gut gemeint, in der Sache höchst dilettantisch. Sein Arzt, mit dem er zugleich befreundet ist und der keine therapeutische Ausbildung hat, agiert reichlich fragwürdig als Judes Komplize darin, die Fassade zu wahren und einer Therapie mit Schwerpunkt Missbrauch aus dem Weg zu gehen. - Als die Leser Judes Vorgeschichte erfahren haben, sind die Männer Mitte 40 und wirken wie ewige Jugendliche, die sich weder über ihre sexuelle Orientierung noch über ihren Platz im Leben klar sind. Obwohl man als Leser zahlreichen Dialogen folgt, scheinen die Vier wenig miteinander zu sprechen. Einzig eine Betreuerin des jungen Jude hat wirklich mit ihm gesprochen – der Verlust Annas ist eine weitere Verletzung auf Judes katastrophalem Lebensweg. - Hanya Yanagiharas wuchtiger und schonungsloser Bildungs- und Entwicklungsroman zerfällt für mich in einen professionell recherchierten Teil und einen Abschnitt, in dem Figuren der Gegenwart eigenartig laienhaft agieren. Die Darstellung eines Missbrauchsopfers mit all seinen Zwängen, Selbstverletzungen und Widersprüchen finde ich - verfasst von einem psychologischen Laien, der nicht beruflich Missbrauchsopfer betreut - außerordentlich treffend. Für einen Roman, der nicht die therapeutische Versorgung in den USA der 50er zum Thema hat, sondern in der Gegenwart spielt, agieren die befreundeten „Helfer“ meiner Ansicht nach höchst eigenartig. New York hat die höchste Therapeutendichte der Welt. Selbst wenn ein Teil davon nur mittelmäßig qualifiziert wäre (die Bezeichnung ist nicht geschützt), kann ich kaum glauben, dass gebildete Mitglieder der Oberschicht, für die Geld keine Rolle spielt, nicht früher auf die Idee kommen, ein zielgerichtetes Therapieangebot für Jude zu suchen, anstatt ihm verschämt Visitenkarten von irgendwelchen Therapeuten in die Tasche zu schieben. Das Buch kann berühren, es kann sich sicher auch in seinen Lesern festkrallen und sie lange nicht loslassen. Durch den für meinen Geschmack schwachen zweiten Teil und das laienhafte Herumtherapieren der Freunde vergibt der Roman allerdings seine Chancen. Bis auf die Rückblenden und Harolds Sicht der Dinge finde ich „Ein wenig Leben“ sprachlich recht einfach erzählt, mit vielen Dialogen und einigen Wortwiederholungen.

8 von 11 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.02.2017
Operation Rubikon
Pflüger, Andreas

Operation Rubikon


ausgezeichnet

Sophie Wolf arbeitet als Staatsanwältin beim Bundeskriminalamt. Besondere Merkmale: sie ist ehrgeizig und sie ist die Tochter von Richard Wolf, dem Präsidenten des BKA. Zwischen Vater und Tochter herrscht seit Jahren Funkstille. Der alte Wolf war ein klassischer abwesender Vater und Sophie gibt ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter, die an Alkohol- und Medikamentenmissbrauch zugrunde ging. Vater und Tochter treffen bei der Aktion Rubikon aufeinander, von der zu vermuten ist, dass Wolf senior sich in einer rasant verändernden Szene einen grandiosen Abgang verschaffen will. Mit Wolfs Pensionierung fallen zeitlich entscheidende organisatorische Veränderungen beim BKA zusammen. Die Zusammenarbeit der „Dienste“ in ihrer alten Form ist der zunehmend verschwimmenden Grenze zwischen Organisierter Kriminalität und Terrorismus, sowie weltweit der Korruption und Kriminalität bis in höchste Regierungskreise offensichtlich nicht mehr gewachsen. Sophies erster großer Fall findet auf einer Bühne statt, auf der der Verteilungskampf im weltweiten Drogen- und Waffenhandel auf seinen Höhepunkt zusteuert. Es ist ein Krieg der Bosse, bei dem das Fußvolk gnadenlos geopfert wird, wenn es seinen Dienst getan hat. Sophies ungelöster Konflikt mit ihrem Vater könnte für beide gefährliche Folgen haben.

Andreas Pflügers Roman erschien im letzten Regierungsjahr von Bundeskanzler Schröder und lässt neben einem fiktiven Bundeskanzler eine gewaltige Besetzungsliste auftreten. Politiker, Staatsoberhäupter, Mitarbeiter der Geheimdienste, des BND und der Bundesanwaltschaft, Kriminelle aller Schattierungen. Von nahezu jedem ist erst noch zu entdecken, welchen Herren er dient außer der Organisation, die das Gehalt überweist. Die nächste Bundestagswahl mit einem umfangreichen Stühlerücken steht bevor. Die Veränderungen werden sich wie die Ringe im Wasser nach einem Steinwurf auf alle beteiligten Institutionen ausbreiten. Wer nach Wolfs Abgang in Berlin Karriere machen und sich weitere Pfründen sichern will, hat das Messer bereits gezückt.

„Operation Rubikon“ wirkt zuallererst sehr komplex und aufwendig recherchiert. Ein Personenverzeichnis wäre hilfreich gewesen. Mit jedem Kapitel tauchen neue Personen auf, die häufig eine langjährige Bindung zueinander aufgebaut haben, von der wiederum nur sie selbst oder Eingeweihte wissen. Wenn man sich die Handlung als kräftige Kordel vorstellt, entwickeln sich durch die zahlreichen Bündnisse an dieser Kordel dünnere Bögen, die wieder zum Handlungsfaden zurückführen. Schauplätze sind u. a. Krakau, Lissabon, La Paz, Zypern, Berlin und Hamburg. Die Verbindung von Politik, Verbrechen, Geheimdiensten, kurzen atmosphärischen Schilderungen, menschlichen Beziehungen, Drama, Technik und Humor finde ich außerordentlich gelungen, in der Länge von fast 800 Seiten jedoch etwas zu umfangreich. Für einen über 10 Jahre alten Thriller wirkt die Handlung erschreckend aktuell. Von der Frage, ob der Schengen-Raum aus dem Ruder läuft und damit am Ende ist, über den weltweiten Handel von Drogen gegen Waffen bis zur Korruption in höchsten Staatsämtern scheint sich seit der Operation Rubikon wenig geändert zu haben. Im Gegenteil.
(Neuausgabe des Romans von 2004)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.02.2017
Das geträumte Land
Mbue, Imbolo

Das geträumte Land


ausgezeichnet

Jende Jonga scheint in New York das große Los gezogen zu haben. Mit Unterstützung von Freunden findet er eine Stelle als Chauffeur des wohlhabenden Bankiers Clark Edwards. Jende arbeitet, wann immer jemand in der Familie gefahren werden soll, ist loyal, stets zuvorkommend und will unbedingt zeigen, dass er diesen Job verdient hat. Doch seine Arbeitserlaubnis gilt nur bis zur Entscheidung seines Asylantrags. Neni ist mit einem Studentenvisum in den USA, das sie verpflichtet nach dem Examen das Land wieder zu verlassen. Wenn so viele andere es trotz dieser Bedingung mit Tricksen und Täuschen zu einer Greencard gebracht haben, warum sollten Neni und Jende nicht einfach Glück haben? Hilfe erhoffen sie sich von dem windigen Anwalt Bubakar. Ob Bubakar vom Asylrecht etwas versteht, können beide nicht beurteilen.

Da Jende bei den Edwards alle Familienmitglieder fährt, Eltern und Kinder, bleiben ihm die Konflikte der Familie nicht lange verborgen. Reichtum macht nicht glücklich, diese Botschaft war zu erwarten. Wenig überraschend zeigt sich, dass der erfolgreiche und der eingewanderte Vater beide feste Vorstellungen vom Glück ihrer Kinder haben. Clark kennt keine Kompromisse bei der Berufswahl seiner Söhne; Jendes Traum von einem besseren Leben für den kleinen Liomi heißt unbedingt ein Leben in den USA. Die Anpassung an amerikanische Verhältnisse ist nicht leicht. Neni muss schmerzhaft erfahren, dass Menschen in den USA, die sie duzen darf und die sie freundlich behandeln, nicht ihre Freunde sind und sich noch lange nicht wie Freunde verhalten. In der Realität könnten die Jongas, selbst mit unbegrenzter Aufenthaltserlaubnis, in ihrem erträumten Land nicht Fuß fassen solange Jende bei jedem Problem in seinem Heimatdorf Geld nach Kamerun überweist. Nach der Geburt eines zweiten Kindes rückt auch Nenis Modell von Schwarzarbeit als Krankenpflegerin neben ihrem Pharmazie-Studium in weite Ferne. - Mit der Pleite der Lehman Brothers fallen die Angestellten der Clarks gemeinsam mit ihrem Arbeitgeber wie die Domino-Steine. Noch sind Jende und Neni bereit, für ihren Traum vom besseren Leben alles zu tun.

In einer lockeren, jugendlichen Sprache erzählt Imbolo Mbue von einem nicht mehr so jungen Paar aus Kamerun, das für seinen Traum vom Glück in den USA bereit ist hart zu arbeiten. Gespiegelt wird das Einwanderer-Schicksal in der Begegnung mit einer wohlhabenden Familie, deren Wohlstand auf brüchigem Fundament steht. Für Menschen, die arbeiten wollen und für die es – zumindest vor 2008 - Arbeit gab, habe ich natürlich ein gutes Ende erhofft. Nach einer umfangreichen und eher gemächlichen Einführung der beiden Familien geht es nach der Lehman-Pleite im Leben der Jongas und der Edwards in schnellen Schnitten Schlag auf Schlag. Die Entwicklung der Personen ist zwar im Kopf des Lesers nachvollziehbar, wenn man bereit ist, alles über Bord zu werfen, was man bisher über die Figuren dachte, jedoch weniger nachvollziehbar durch eine geschilderte Entwicklung der Figuren. Trotz dieses Ungleichgewichts zwischen den Roman-Teilen besteht die Geschichte der Jongas und der Edwards aus warmherzigen, einfühlsam beobachteten Szenen, die viel über afrikanisches und US-amerikanisches Denken vermitteln können.

Bewertung vom 30.01.2017
Sein blutiges Projekt
Burnet, Graeme Macrae

Sein blutiges Projekt


ausgezeichnet

Im Jahr 1869 soll der 17-jährige Kleinbauernsohn Roderick Macrae den Nachbarn der Familie und zwei weitere Personen erschlagen haben. Auf Wunsch seines Verteidigers Sinclair schreibt Roderick im Gefängnis von Inverness seine Lebenserinnerungen nieder, während er auf seinen Prozess wartet. Roderick folgt diesem Wunsch aus Achtung gegenüber seinem Rechtsbeistand, der nahezu der Einzige ist, der den Jungen wie einen Menschen behandelt. Roderick stammt aus einem Dorf mit 9 Häusern, das in Sichtweite der Isle auf Skye an der schottischen Küste liegt. Die Bauern sind Pächter eines Großgrundbesitzers, dem sie Hand- und Spanndienste zu leisten haben, der von ihnen jedoch sonst nicht weiter behelligt werden will. Die Gerichtsbarkeit wird von einem Constable ausgeübt, der Gemeinschaftsarbeiten organisieren und Konflikte schlichten soll. In Culduie übt Lachlan Mackenzie dieses Amt mit gnadenloser Härte aus. Speziell Rodericks Vater John wird in eine aussichtslose Situation getrieben, aus der es keinen Ausweg geben kann. Die unselige Verknüpfung von Großgrundbesitz und Ausbeutung ist so verfahren und durch Gleichgültigkeit der Herrschenden gestützt, dass es selbst der cleveren Carmina Murchison vor Gericht schwerfallen wird, die Vorgeschichte der Ereignisse in Worte zu fassen. Da Roderick sich schuldig an der Situation seiner Familie fühlt, tötet er Lachlan, um seinen Vater von den Widrigkeiten zu befreien, die er durch den Mann erleidet.

Graeme Macrae Burnet legt im Kostüm eines True-Crime-Romans eine messerscharf formulierte Sozialstudie der Lebensbedingungen schottischer Kleinbauern vor. Dabei entlarvt er den Rassismus der zur damaligen Zeit herrschenden Klasse, der im Windschatten vorgeblicher Wissenschaftlichkeit auftritt. Ebenso wird die fragwürdige Rolle der Kirche demaskiert, die die feudalen Zustände stützte und einer verhungernden Bevölkerung nicht mehr zu bieten hatte als Kritik an ihrer mangelnden Gläubigkeit. Die Zeugenaussagen, die der Autor zusammenstellt, entlarven eher deren Urheber und ihre Schwächen, als dass sie zum Persönlichkeitsbild von Roderick beitragen. Die Begutachtung von Rodericks Zurechnungsfähigkeit wirkt wie purer Sarkasmus, wenn zu Zeiten eines ausgeprägten Aberglaubens das Mitglied einer Familie mit Verbindungen zur „Anderen Welt“ darauf untersucht wird, ob es über Dinge spricht, die nicht zu sehen sind.

Der Roman besteht formal aus einem Vorwort von Macrae Burnet als Herausgeber, Rodericks Erinnerungen, Zeugenaussagen, der ärztlichen und psychiatrischen Begutachtung des Gefangenen und Zeitungsartikeln zum Prozess. Zusammen mit Fußnoten und einer Karte des Dorfes wirkt der Text dadurch sehr authentisch und glaubwürdig. Ehe ich herausfand, wie der Verteidiger Sinclair seine Verteidigungsstrategie aufgebaut hat, konnte ich der Erzählperspektive lange nicht trauen. Lese ich einen Psychothriller, einen historischen Krimi oder doch die Dokumentation eines realen Falles?, habe ich mich gefragt. Das Rätseln, ob ein einfacher Bauernjunge Rodericks Text geschrieben haben kann und was Sinclair mit dem Bericht bezweckt, sorgte für eine so hohe Spannung, dass ich das Buch mit einer kurzen Pause in einem Zug gelesen habe. Der raffinierte Plot, Rodericks feine Beobachtungsgabe und Burnets sozialkritischer Unterton ergänzen sich zu einem herausragenden, äußerst spannenden Roman.

Bewertung vom 25.01.2017
Freie Geister
Le Guin, Ursula K.

Freie Geister


ausgezeichnet

Neuübersetzung. Titel der älteren Ausgaben: Planet der Habenichtse, Die Enteigneten

Shevek ist Physiker auf dem Planeten Anarres (Der Name Anar-res spielt auf Anarchie an, die Herrschaftslosigkeit als soziale Ordnung). In einer Rahmenhandlung befindet Shevek sich als Passagier eines Raumschiffs im Anflug auf den Raumhafen von Anarres, der wie eine Quarantänestation durch eine Mauer vom restlichen Planeten abgetrennt ist. Je nachdem wo man sich befindet, ist man selbst hinter dieser Mauer eingesperrt oder blickt aus dem Universum auf diese Enklave. Wer mit der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland aufgewachsen ist, trifft schon im ersten Kapitel auf vertraute Strukturen des Kampfs unterschiedlicher politischer Systeme. Anarres ist die Rohstoffkolonie des Planeten Urras, auf den sich nach einer Revolution vor 200 Jahren eine kleine Gruppe von Aufständischen zurückgezogen hat, um einen alternativen Lebensentwurf zu leben. Anarres wirkt wie ein kleiner proletarischer Nachbar des wirtschaftlich erfolgreicheren Hauptplaneten. - In Rückblenden folgt man als Leser der Entwicklung Sheveks vom Kind, über den Liebhaber bis zum promovierten Forscher. Ursula LeGuin beschreibt Sheveks Sozialisation aus seinem beinahe kindlichen Staunen heraus über für ihn befremdliche Lebensgewohnheiten auf Urras, für dessen Bewohner Besitz und Status sehr wichtig sind. In der Shevek bekannten alternativen Lebensformform gibt es keine Kleinfamilien und kein Privateigentum mehr; Hierarchien sind ihm fremd. Paare leben nicht miteinander, Kinder treffen zwar ihre Eltern, schlafen nachts jedoch in eigenen Schlafhäusern. ... Obwohl hochqualifiziert, erfährt Shevek leidvoll, dass er in der ihm fremden Staatsform völlig hilflos ist, als andere sich seiner Forschungsergebnisse zum Zeitverlauf bedienen und das politische System seine Wissenschaft für sich vereinnahmt. Sheveks Forschung ist Voraussetzung für Reisen mit Lichtgeschwindigkeit. Auch Wissen ist Besitz, der hier nicht automatisch der Gemeinschaft dient. Shevek erkennt, dass Intellektuelle in ihrem Elfenbeinturm die größten Egoisierer sein können, wie Volkes Stimme zu Recht kritisiert. Shevek gehört durch seine Bildung einer Elite an und stellt allein durch seine Existenz das Gedanken-Gebäude der alternativen Lebensweise infrage, in der er aufgewachsen ist. - Die Form des Entwicklungsromans mit wechselndem Schauplatz ermöglicht es, Sheveks Erkennen der Schattenseiten des heimatlichen Systems zu folgen. Die zufällige und „demokratische“ Verteilung anfallender Arbeiten ist nicht produktiv, sondern eine gigantische Verschwendung von Fähigkeiten. Shevek selbst nimmt als Abwechslung von seiner Forschungsarbeit gern mal eine Schaufel in die Hand. Um sich weiter unterordnen zu können, muss er verdrängen, dass ein Volk in der unwirtlichen Landschaft von Anarres sich Verschwendung von Wasser, Lebensmitteln oder Arbeitskraft nicht leisten kann. Weil Shevek mit seiner Forschung die selbstgesetzten Grenzen des Systems (und damit den geistigen Horizont der Herrschenden) überschreitet, wird er in beiden Systemen zum Außenseiter, zum erklärten Verräter, auf den die Bewohner mit klassischer Fremdenfeindlichkeit reagieren.

„Freie Geister“ erfordert hohe Konzentration beim Lesen, weil die entscheidenden Wendungen in Sheveks Innerem stattfinden ihm selbst nicht unbedingt bewusst sind. ... Allein stilistisch ist das Buch in seiner zeitlosen Sprache ein Klassiker. Phantasiewelten halten einem den Spiegel vor, schreibt die Übersetzerin Karen Nölle über die Neuausgabe der „Dispossessed“. Alternative Welten lassen einen die Begrenztheit der eigenen Sehgewohnheiten erkennen und ermöglichen darüber hinauszudenken. Ein Buch, von dem ich mir wünsche, dass auch meine Enkel es noch lesen werden.

Bewertung vom 25.01.2017
Epilog mit Enten
Friedrich, Sabine

Epilog mit Enten


ausgezeichnet

Im Jahr 2013 trägt die Icherzählerin Sylvie ihren Exmann und Vater ihrer Tochter nach schwerer Krankheit zu Grabe. Für sie und ihre Tochter ist Gabos von ihm jahrelang angekündigter Tod eine langersehente Befreiung. Als sie Gabo 1976 in Berlin begegnete, war sie 18 und folgte gemeinsam mit ihrer Cousine dem Drang aus der fränkischen Provinz in die geteilte Stadt. Coburg war damals an drei Seiten von der Grenze zur DDR umgeben, ein Wochenendtrip durch die „Zone“ nach Berlin eine aus heutiger Sicht komplizierte Aktion, für die man einen Reisepass benötigte. 1976 war das Jahr, in dem sich die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof das Leben nahm, in dem Der Herr der Ringe auf Deutsch erschien und in dem Sylvie und ihre Clique Musik von Yes hörten. Sylvies Eltern stammten aus kleinen Verhältnissen, die Mutter wurde als Flüchtlingskind gewohnheitsmäßig ausgegrenzt, der Großvater hatte noch eine lupenreine Arbeiterbiografie. Als Lebensentwurf für Frauen war bis dahin nur die Ehe mit einem Partner „aus gutem Hause“ denkbar. Sylvie entdeckt, dass Rollenbilder aus Romanen nicht auf sie passen. Sie hat im Jahr vor ihrem Abitur exakt drei Vorsätze: sie sucht ihren Prinzen, will ein Buch schreiben und auf dem Landweg nach Indien reisen. Aus Indien sind gerade ein paar ältere Jungen ihrer Clique zurückgekehrt, pünktlich zum Semesterbeginn.
...
Sabine Friedrichs Roman setzt sich aus mehreren Ebenen zusammen, Reiseerlebnissen, einer erstickenden Partnerbeziehung, dem historischen Hintergrund der späten 70er (ein Jahrzehnt, das in Rückblenden aus heutiger Sicht hinter den magischen 80ern ins Hintertreffen zu geraten scheint), und der Entwicklung der Icherzählerin zur Autorin. Die Erzählerin richtet sich in ihrem Rückblick streckenweise direkt an Gabo, schafft Distanz, indem sie aus der Handlung heraustritt und von „der Frau“ und „dem Kind“ schreibt. Sie betrachtet aus dem Off heraus die ferne Neunzehnjährige, die sie damals war. Sylvie weist darauf hin, dass ihre Tagebücher nicht die Ereignisse nacherzählen, sondern ein eigenes Medium darstellen. Es sind unzuverlässige Quellen, deren Existenz verdeutlicht, dass Friedrichs Roman Fiktion ist, auch wenn die biografischen Eckpunkte im Leben der Autorin und ihrer Icherzählerin einige Gemeinsamkeiten zeigen. Die Bilder dieser Reise und die Landkarte von Sylvies Leben erhalten erst in der Erinnerung Substanz. Einige Erinnerungen lassen sich jedoch nachträglich nicht mehr verifizieren.

Mich hat stets verblüfft, dass Länder oder Städte, die man mit 19, 20 Jahren bereist, häufig zu Lieblingsorten oder Herzensstädten werden. Sylvies magisches Alter für prägende Eindrücke hat mich in diesem Roman deshalb besonders interessiert. Die Verknüpfung von Reiseerzählung, Entwicklungsgeschichte und Analyse der Beziehung zu einem unverbesserlichen Narzissten hat mich hier äußerst positiv überrascht.

Bewertung vom 17.01.2017
Rain Dogs
McKinty, Adrian

Rain Dogs


ausgezeichnet

Nach irischer Zeitrechnung ist das Jahr 1987 das 19. Jahr der Troubles, des gewaltsamen Konflikts zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. Polizeiseargent Sean Duffy lebt als Katholik privat in Carrickfergus in einem rein protestantischen Wohngebiet. Nach der Trennung von seiner aktuellen Partnerin ist Duffy wieder Single. Er scheint seit dem vorigen Duffy-Band noch misanthropischer und zynischer geworden zu sein. Die Bedrohung der Polizei durch die militante IRA wird durch die tägliche Routine jedes Polizisten symbolisiert, vor dem Starten stets zuerst unter dem Auto nach einer Bombe zu suchen. Im Jahr 1987 werden 20 Polizisten in Nordirland im Dienst ums Leben kommen, eine der höchsten Todesraten im Polizeidienst weltweit.

Duffy hat aktuell in einem verdächtigen Todesfall zu ermitteln. Eine junge britische Journalistin wird morgens tot in der Burg von Carrickfergus gefunden. Der Verwalter versichert, dass er das Gelände am Abend zuvor wie immer sorgfältig abgesucht und verschlossen hat und außer ihm niemand Zugang zum Gelände gehabt haben kann. Die Außenmauern werden über Nacht angestrahlt und liegen im Aufnahmebereich der Überwachungskamera anderer Gebäude. Für Duffy und sein Team stellt sich die Frage, ob die junge Lily Bigelow sich das Leben genommen hat oder ob hier jemand einen Selbstmord inszenieren wollte. Wie kam Lily in die Burg, wer hätte die Gelegenheit gehabt, sie zu töten und vor allem mit welchem Motiv. Die Autopsie der Toten trägt eher zur Verwirrung der Ermittler bei als zur Aufklärung der Todesumstände. Da Duffy bereits in „Die verlorenen Schwestern“ in einem Locked-Room-Fall ermittelt hat, fragt er sich natürlich, wie wahrscheinlich es sein kann, dass ein Polizist im Laufe seiner Berufstätigkeit mit zwei derart ähnlich gestrickten Fällen konfrontiert wird.

Wie in Adrian McKintys Nordirland-Krimis gewohnt, ist der Tod der jungen Frau nur die Spitze des Eisbergs. Hinter der Tat verbergen sich Verstrickungen einflussreicher Kreise aus Politik und Wirtschaft und die Entschlossenheit dieser Kreise, die Ermittlungen mit allen Mitteln zu verhindern. Duffys Arbeit wird zudem nicht nur durch ineffektive Strukturen innerhalb der Polizei ausgebremst, sondern auch durch die spezielle Situation behindert, dass die Burg und das darin beschäftigte Personal als ehemaliges Militärgelände britischen Behörden untersteht. Über Duffys aktuellen Fall soll nicht mehr erzählt werden, um die Spannung nicht zu verderben. Nur so viel: der Autor greift einen erst kürzlich bekannt gewordenen Fall aus jener Zeit auf, über den zum damaligen Zeitpunkt im katholischen Irland der Mantel des Schweigens gebreitet wurde und zu dem bis heute noch nicht alle Akten für die Öffentlichkeit freigegeben wurden.

„Office. Window. Lough. Coal Boats. Rain.“ Adrian McKinty setzt auch hier Wetter- und Landschaftsbeschreibung als stilistisches Mittel ein, mit denen er im Februar-Schneeregen Nordirlands eine Melancholie verbreitet, die zusammen mit Duffys psychischer Verfassung bei manchem Leser eine Winterdepression auslösen könnte. Seine Handlung wird von stichwortartigen Regieanweisungen eingeleitet, sowie neben der genannten Wetterspur auch von der Tonspur aus Duffys Musikkonsum begleitet.

Fazit
Ein atmosphärisch starker Krimi mit raffiniertem Plot, sympathischen Figuren und einer intelligent gewählten Aha-Situation, die Duffy auf die Lösung des Falls bringt.