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sleepwalker

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Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 25.05.2023
Ein Hof und elf Geschwister
Frie, Ewald

Ein Hof und elf Geschwister


ausgezeichnet

Niemals hätte ich gedacht, dass mich ein Buch über die Entwicklung der Landwirtschaft im Münsterland so begeistern könnte, vor allem, da es in meiner Familie seit mehreren Generationen keine Landwirte mehr gab. Aber Ewald Fries Herangehensweise an das Thema hat mich wirklich beeindruckt und ich habe sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ sehr gern gelesen. Der Historiker hat seine eigene Familiengeschichte, die des Hofs Horst Nr. 17 bei Nottuln im katholischen Münsterland, in die allgemeine Geschichte des Wandels eingeflochten und eingeordnet, wodurch Zeitgeschichte ein Gesicht bekommt (die Namen seiner Familienangehörigen hat er anonymisiert, ihre Geburtsjahrgänge sind allerdings authentisch). Als Rahmen dient ihm eine Sammlung transkribierter Interviews, die er mit seinen Geschwistern geführt hat, seine Eltern sind inzwischen verstorben und kommen nur aus zweiter Hand zu Wort. Sein ältester Bruder ist im Jahr 1944 geboren, die jüngste Schwester 25 Jahre später, von zwölf Kindern haben elf überlebt – auch im 20. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit.
Ging das bäuerliche Leben in der Nachkriegszeit zu Ende? Man könnte es so oder so sehen. Es wandelte sich auf jeden Fall grundlegend. Ehemals hochangesehen, haben die Bauern lange auf die Bewohner der Siedlungen hinabgesehen – die Hierarchien innerhalb der Gemeinschaft waren klar. Und dann wurde plötzlich alles anders, denn auf einmal wurden Bauern als ungebildet, ärmlich und rückständig angesehen, da halfen auch alle Modernisierungen nicht. Die Betriebe veränderten sich natürlich, aber auch das Leben der Menschen, die die Höfe führten und auf ihnen lebten. Die Zeiten der kleinen Höfe ging zu Ende, die meisten Höfe spezialisierten sich auf ein bestimmtes Gebiet (die Familie des Autors auf die Zucht rotbunter Rinder und Kühe, sein ältester Bruder Hermann später auf Schweine und Ferkel), aus den Höfen wurden „Einmannbetriebe“. Arbeitspferde wurden durch Traktoren ersetzt, oft verfolgten die Kinder der Bauern andere Lebensentwürfe und manchem mögen die Eltern sogar mit der Zeit peinlich geworden sein. Tatsächlich haben auch in Fries Familie die meisten Kinder die Landwirtschaft verlassen. Nach einhelliger Aussage aller Geschwister standen ihnen die Eltern bei der Berufswahl nie im Weg, nein, vor allem die Mutter bestärkte sie darin, ihren eigenen Weg zu gehen. Vor allem für die Töchter sah sie eine Heirat nie als Lebensziel an.
Den Wandel im bäuerlichen Leben gab es überall, dennoch empfand ich das, was Frie beschreibt als etwas völlig anderes als das, was ich beispielsweise aus dem Schwarzwald oder der Eifel kenne. Vor allem, so scheint es, war Ewald Fries Vater gegenüber dem Fortschritt eher offen. Der Hof wurde in den 1960er-Jahren vom Pferd auf den Traktor umgestellt, elektrische Haushaltsgeräte wurden angeschafft und der Hof bekam eine Heizung. Das Leben wurde ein wenig einfacher und schlicht anders. Heute sind die Erinnerungen der Geschwister an die Eltern und ihre Kindheit geprägt von einer Mischung aus Respekt und Dankbarkeit. Die Söhne erinnern sich zwar daran, dass es eine Plackerei war, dass es nicht einfach war, mit dem Vater zusammen zu arbeiten und die Töchter, dass sie sich schon früh um die kleineren Geschwister kümmern mussten. Sie erinnern sich aber auch daran, dass die aufrechte Haltung ihrer Mutter ein Zeichen dafür war, dass sie sich trotz der harten Arbeit nicht „krumm“ schuften musste.
In Ewald Fries Brust scheinen zwei Herzen zu schlagen. Das des Historikers Frie und das des Bauernsohns. Und so schafft er ein mehrdimensionales Werk, in dem er Hofgeschichte, Lebensgeschichte und Zeitgeschichte miteinander verflicht, zusammen einordnet und alles in allem ein interessantes und informatives Werk schafft, das mich in seiner Intensität und Dichte begeistert hat. Von mir fünf Sterne.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2023
Das Leben hat kein Geländer (eBook, ePUB)
Redl, Christian

Das Leben hat kein Geländer (eBook, ePUB)


sehr gut

Christian Redl kenne ich hauptsächlich als Kommissar Krüger aus den „Spreewald-Krimis“ im ZDF, aber auch als Darsteller kauziger und undurchsichtiger Charaktere in anderen Filmen. Jetzt hat der preisgekrönte Schauspieler, Musiker und Hörbuchsprecher mit „Das Leben hat kein Geländer“ eine Art Autobiografie veröffentlicht, ein Buch, das mich sehr zwiegespalten zurücklässt.

Aber von vorn.

Der inzwischen 75jährige Christian Redl blickt auf ein bewegtes (Berufs-)Leben zurück. Aufgewachsen in der Nachkriegszeit mit einem kriegstraumatisierten alkoholkranken Vater, dessen Depressionen und Sucht das Familienleben und alle Familienmitglieder prägten. Da er auf dem Gymnasium nicht zurechtkam, besuchte er eine Waldorfschule, wo er zum ersten Mal mit dem Schauspiel in Berührung kam. Gegen den Willen der Eltern machte er nach dem Abschluss eine Ausbildung zum Schauspieler. In den folgenden Jahren arbeitete er mit großen Regisseuren wie Luc Bondy, Claus Peymann und Peter Zadek zusammen, unter anderem an Schauspielhäusern in Hamburg, Bremen und Frankfurt. Er sammelte Erfahrungen in den unterschiedlichsten Rollen und mit den verschiedensten Menschen, auf manche hätte er wohl verzichten können.

Trotz einiger Erfolge suchte er lange nach dem Glück und der richtigen Frau. Alkohol spielte in seinem Leben eine viel zu große Rolle, dazu kamen mentale Probleme, Bühnenangst machte ihm das Arbeiten immer mehr zur Qual, denn zur Freude. Musik half ihm durch die schweren Zeiten, er spielte Gitarre und schrieb eigene Stücke. Zwischenmenschlich stürzte er sich in eher komplizierte Frauengeschichten. Zahlreiche Affären, eine unglückliche Ehe (mit Marlen Diekhoff) und eine sehr schwierige Beziehung (mit Maja Maranow) später fand er mit über 60 Jahren die Frau fürs Leben. Mit den Spreewaldkrimis spielte er sich in die Herzen der Fernsehzuschauer und seine Interpretation des Müllermeisters in der „Krabat“-Verfilmung von 2008 sorgte dafür, dass ich den Film nicht bis zum Ende anschauen konnte.

„Christian Redl hat sein Leben aufgeschrieben - ehrlich, aufrichtig, ungeschönt“ – steht im Klappentext. Was nicht drinsteht ist, dass seine Lebenserinnerungen, so interessant, bewegend und berührend sie auch sein mögen, schlecht lektoriert sind, außerdem sind in dem Buch viel zu viele ärgerliche Rechtschreib- und Grammatikfehler. Auch sprachlich hätte ich von jemandem, der auf der Bühne mit den Texten der größten Schriftsteller umzugehen weiß, mehr erwartet. Was für ein Jammer, da hätten der Autor und seine Geschichte, aber auch die Leserschaft etwas Besseres verdient! Manche Episoden aus dem Leben von Christian Redl brachten mich zum Schmunzeln, manche eher zum Kopfschütteln oder machten mich traurig. So viele Weggefährten musste er schon beerdigen – unter anderem Ulrich Wildgruber, seinen Bruder Wolf Redl und nicht zuletzt seine ehemalige Lebensgefährtin Maja Maranow.

Außer den persönlichen Aspekten gibt Christan Redl auch einen großartigen Einblick in die Welt des Theaters, ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen mit zum Teil äußerst selbstherrlichen Regisseuren und begnadeten Schauspielern. Er nimmt seine Leserschaft mit in seine eigene Sturm und Drang Zeit, eine Zeit der Selbstfindung, einen wilden Ritt und erlaubt einen tiefen Blick in die Seele eines empfindsamen Schauspielers mit allen Höhen und Tiefen. Er erzählt offen von seinen Abstürzen und dem Hang zum Alkohol und wie er sich nach vielen Irrwegen dann doch mehr oder weniger selbst gefunden hat, denn das Leben hat tatsächlich kein Geländer, wie der Titel so treffend den österreichischen Schriftsteller Hermann Bahr zitiert.

Für mich als Biografie-Fan, der Christian Redl gern im Fernsehen sieht, war das Buch abgesehen von den vielen ärgerlichen Fehlern eine interessante Lektüre und ich vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 11.05.2023
Dreivierteltot
Stein, Christina

Dreivierteltot


ausgezeichnet

Ich hätte nie im Leben gedacht, dass mich ein Jugendthriller jemals so richtig begeistern könnte. Ich dachte auch, „Dreivierteltot“ von Christina Stein wäre eine nette Lektüre für nebenher, mehr aber auch nicht. Aber da lag ich vollkommen falsch. Das Buch hat mich nach kurzer Zeit mitgerissen und das Ende so überrascht, dass ich erst einmal nach Luft schnappen musste.
Aber von vorn.
Kim und Jon haben gerade ihr Abitur gemacht und wollen vor Beginn des Studiums noch einen gemeinsamen Urlaub machen. Kim ist eigentlich kein Wander-Typ ist, macht sie sich aber ihrem Freund zuliebe auf den 160km langen West Highland Way in Schottland. Schließlich läuft Jon Halbmarathon und liebt Sport. Schon zu Anfang ihrer Tour hängt bei den beiden aber der Himmel eher voller Wolken als voller Geigen, sprich: sie streiten sich sehr viel. Denn Jon, der Kim wegen ihrer roten Haare so gerne Lotti Karotti nennt und ihre Sommersprossen liebt, will nicht in Mainz studieren, sondern nach München ziehen. Dahin, wo auch seine ex-Freundin Anna lebt. Und er kann Kims beste Freundin Emma nicht leiden. Und dann taucht auch noch Sky, ein äußerst gutaussehender geheimnisvoller Fremder, samt Hund auf und läuft denselben Weg wie sie. Obwohl Kim und Jon unterwegs sehr vielen Menschen begegnen, treffen sie immer wieder auf Sky. Sie wandern – Sky ist ebenfalls irgendwo auf der Strecke. Sie übernachten im Hostel – Sky ist da. Und selbst als die beiden am Abend im nächsten Hostel mit anderen Wanderern etwas trinken und Kim auch mal an deren Joint zieht – Sky und sein Hund Oskar sind ebenfalls da. Aber als Kim am nächsten Morgen auf der Wanderung eine schreckliche Entdeckung macht, ist sie plötzlich allein. Und auf einmal weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann.
Das Buch ist zwar ein Jugendthriller, aber ich (als „fortgeschrittener“ Jugendlicher) fand es sehr spannend, wenn auch auf eine eher unterschwellige Art. Die Spannung ist wie ein ständiges ungutes Gefühl im Magen ständig vorhanden. Wie bei einer Wanderung habe ich mich beim Lesen immer gefragt, was mich wohl hinter der nächsten Kurve (also im nächsten Kapitel) erwarten würde. DIESEN Schluss hätte ich allerdings nie im Leben erwartet, Hut ab vor der Autorin. Da hat sie selbst mich als alten Hasen völlig überrascht.
Die Haupt-Charaktere im Buch sind sehr detailreich ausgearbeitet, wenn auch sehr Teenager-typisch, denn Äußerlichkeiten spielen immer eine sehr große Rolle. Bei den Nebencharakteren beschränkt sich die Autorin dann doch eher auf Stereotype (der Texaner trägt einen Cowboyhut und fällt hauptsächlich durch seinen Akzent auf, die Einheimischen durch rote Haare, etc.). Auch die Landschaft kommt ein bisschen kurz, allerdings ist das für einen Thriller angemessen, es ist ja kein Reiseführer. Sprachlich ist das Buch für die Zielgruppe passend, den wenigsten werden die vermeidbaren Fehler auffallen, die ich gefunden habe.
Alles in allem lässt sich das Buch zügig lesen, die kurzen Kapitel steigern die Spannung und diese sorgt auch dafür, dass man es nicht aus der Hand legen möchte, bevor man nicht weiß, wie es ausgeht. Der Schluss war für mich ein Paukenschlag und führte dazu, dass ich es, mit dem Wissen aus dem Ende, komplett noch einmal gelesen habe – das führt zu einer völlig anderen Sichtweise auf alles. Ein gelungener Jugendthriller, der durch seine unterschiedlichen psychologischen Komponenten durchaus auch für Erwachsene geeignet ist. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 04.05.2023
The Afghanistan Papers
Whitlock, Craig; The Washington Post

The Afghanistan Papers


ausgezeichnet

Am 7. Oktober 2001 begannen die USA damit, Afghanistan zu bombardieren und starteten damit den längsten Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Militäreinsatz dort dauerte länger als die Beteiligung an beiden Weltkriegen und der komplette Vietnamkrieg zusammen, nämlich ganze 20 Jahre. Dass dieser Krieg ein einziges Fiasko war und wie es dazu kommen konnte, hat der Investigativjournalist Craig Whitlock in seinem Buch „Die Afghanistan Papers. Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg“ zusammengetragen. Ein bedrückender Zusammenschnitt über Kämpfe, Illusionen, Lügen, Drogen und viel zu viele Tote auf allen Seiten. Eine Chronik des politischen Versagens auf ganzer Linie.
Drei aufeinanderfolgende Präsidenten der Vereinigten Staaten (Bush, Obama und Trump) haben gemeinsam mit ihren militärischen Befehlshabern die gesamte Öffentlichkeit über den Afghanistankrieg belogen. Punkt. Sie haben die Welt glauben lassen, ihr Einsatz sei zielgerichtet, verfolge einen Plan und werde früher oder später zum Erfolg führen. Dabei wussten sie selbst nicht einmal, wie dieser Erfolg aussehen würde! In der völlig konfusen Mission wusste selbst der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nicht einmal sicher, wer eigentlich die Bösen waren. Ein namentlich nicht genannter hochrangiger Mitarbeiter des State Department nannte die Mission sinngemäß „Amerika zieht in den Krieg, ohne zu wissen, was es tut“ – und damit fasst er das ganze Debakel hervorragend zusammen. Was folgte war der längste und teuerste Krieg, an dem die USA jemals beteiligt waren. Ziel war es, das Land erst zu verlassen, wenn Stabilität gewährleistet wäre.
Das bedeutete, das Land müsste eine stabile Regierung nach amerikanischem Vorbild haben, dazu demokratische Wahlen, ein funktionierendes Oberstes Gericht, eine Korruptionsbekämpfungsbehörde, ein Frauenministerium und ein öffentliches Schulsystem mit Tausenden neuen Schulen und einem modernen Lehrplan. Schöne Worte. Denn im Endeffekt ging es darum, „die Überbleibsel der Taliban“ zu „bombardieren und versuchen, sie zu töten. Genau das haben wir getan, und es hat funktioniert. Sie sind weg. Und dem afghanischen Volk geht es jetzt sehr viel besser.“ Dieser ach so „gerechte Krieg“ sollte so lange dauern, bis „al-Qaida die gerechte Strafe erhalten hat. Es kann morgen so weit sein, es kann in einem Monat so weit sein, es kann ein oder zwei Jahre dauern. Aber wir werden uns durchsetzen.“ Die Geschichte hat alle eines Besseren belehrt. Das Buch endet mit dem offiziellen „Kriegsende“ und dem Abzug der Truppen im August 2021, seither ist noch vieles geschehen. Auf einen konfusen Feldzug folgte ein ebenso konfuser Abzug, Kabul fiel innerhalb kürzester Zeit an die besiegt geglaubten Taliban zurück, die sich systematisch auf diesen Augenblick vorbereitet hatten. Afghanistan ist heute instabiler denn je. Der Krieg war ein Fiasko auf ganzer Linie.
Das Buch beinhaltet eine immense Recherchearbeit des investigativen Journalisten Craig Whitlock, der seinen Text mit zahllosen Fußnoten untermauert. Das ist auch nötig, denn die Fakten und vor allem die vielen Personen erschlagen einen beim Lesen fast. Seine Faktensammlung fußt überwiegend auf den „Lesson Learned“-Dokumenten, bestehend aus mehr als 2000 Seiten an bis dahin unveröffentlichten (von der Behörde redigierten) Gesprächsniederschriften. Sprachlich und konzeptionell ist das Buch fast ein Krimi oder gar ein Thriller, bestehend aus einem Wust an strategischen Fehlentscheidungen und politischer Schönfärberei. Ja, stellenweise ist es etwas reißerisch, das tut seiner Qualität keinen Abbruch. Die Sprache des Autors ist die eines Journalisten, mal sachlich, mal flapsig, aber immer nah an der Leserschaft. Konzeptionell geht er chronologisch vor und schafft damit eine ebenso lohnende und aufklärende wie deprimierende Lektüre. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 02.05.2023
Die dritte Quelle
Köhler, Werner

Die dritte Quelle


ausgezeichnet

Hand aufs Herz: wer kennt die Galapagos-Affäre? Ich schätze, die wenigsten. Denn so ging es mir auch, bevor ich Werner Köhlers Roman „Die dritte Quelle“ gelesen habe. Denn der Autor lässt seinen Protagonisten Harald Steen eine reale Geschichte aus den 1930er Jahren nachspüren. Der etwas schrullige Hamburger sucht auf Floreana, einer der Inseln der Inselgruppe, nämlich nichts Geringeres als seine Wurzeln. Und damit nimmt er die Leserschaft mit auf ein wildes Abenteuer, das mich beim Lesen mit seiner Spannung überrascht hat.
Aber von vorn.
Am 31. August 1999 beginnt der Hamburger Harald Steen auf der Suche nach seinen Wurzeln eine Reise in seine Vergangenheit. Der 64jährige Frührentner ist bei Pflegeeltern aufgewachsen, ist sich aber sicher, dass seine leiblichen Eltern einen Teil ihres Lebens auf Floreana verbracht haben. Diese Insel hatte in den 1930er Jahren überwiegend deutschen Aussteiger angelockt, die sich dort niedergelassen haben. Steen setzt alles daran, eine ähnliche Reise wie seine vermeintlichen Eltern zu machen. Er reist mit Frachtschiffen, wie die Auswanderer, die in den 1930er Jahren auf die Galapagos-Insel gekommen waren, um sich dort anzusiedeln. Er trifft auf Floreana auf Einheimische, Nachfahren der damaligen Siedler und mit der inzwischen 96-jährige Margret Wittmer die letzte Überlebende der „Galapagos Affäre“. Was genau 1934/35 passiert ist, ist bis heute ungeklärt, Fakt ist nur, dass sechs Menschen starben oder verschwanden. Steen erkundet die Insel, die Geschichte und die Menschen, lebt in der Einöde und findet nach und nach sich selbst.
Mit Mitte 40 hatte ich ja gedacht, ich sei aus Abenteuerromanen rausgewachsen. Weit gefehlt, allerdings hätte ich nie gedacht, dass mich ein ebensolcher so dermaßen fesseln könnte. Aber die Charaktere des Buchs haben mich ebenso in ihren Bann gezogen, wie die Insellandschaft, in der es spielt. Den Aufbau des Romans fand ich interessant. Harald Steen, Freund der klassischen Musik, besucht ein Konzert eines Jugendorchesters. Mahlers Fünfte begeistert ihn und der Roman erinnert mich in seinem Konzept an eine Sinfonie. Er besteht ebenfalls aus vier Teilen, die unterschiedlich schnell erzählt werden. Auch das Buch beginnt mit einem eher schnellen Teil mit sehr vielen neuen Eindrücken für den anfangs eher naiven Eigenbrötler, dann folgen seine Ankunft und Akklimatisierung auf der Insel und mit seinem Treffen auf Mayra und der Suche nach der dritten Quelle steuert die Geschichte auf ein rasantes Ende zu. Sind es anfangs noch wunderschöne Naturbetrachtungen, wird der Roman gegen Ende immer schneller und undurchsichtiger und die Handlungen des Protagonisten irrationaler.
Bei diesem Buch passte für mich eigentlich alles. Die Sprache ist eine wilde und doch stimmige Mischung aus Distanziertheit und Offenheit, dazu gleichermaßen hölzern und bildhaft. Anfangs tat ich mich allerdings damit schwer, dass der Autor gänzlich auf Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede verzichtet. Die Charaktere sind gut und detailreich ausgearbeitet. Vor allem der Protagonist ist sehr ambivalent und vereint alle möglichen Merkmale allein in sich: der ehemalige Bankangestellte ist anfangs sehr konservativ, ängstlich, unbeholfen, naiv, eigenbrötlerisch und braucht einige Zeit, um offener zu werden. Die größte Offenheit zeigt er robinson-artig seinem „Freitag“, seinem Hund „Herr Hund“. Damit gibt es im Buch auch wenig inneren Monolog, da Steen überwiegend sein Seelenleben mit Herrn Hund „bespricht“. Das Buch vereint Spannung, Landschaftsbeschreibung, psychologische Komponenten und Abenteuer. Der Schluss bleibt weitgehend offen und die Leserschaft kann die eigenen Schlussfolgerungen ziehen – oder auch nicht. Denn was tatsächlich in den 1930ern auf Galapagos passiert ist, ist bis heute ungeklärt. Für Harald Steen scheint es allerdings am Ende auch nicht mehr so wichtig, denn er findet etwas viel Wichtigeres als seine Wurzeln, er findet sich selbst.
Von mir für dieses überraschende Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 23.04.2023
#DerApotheker für alle Fälle
#DerApotheker

#DerApotheker für alle Fälle


ausgezeichnet

„Wer – wie – was – warum“ – das kennen viele sicher aus der Sesamstraße. #DerApotheker beginnt jedes Kapitel seines zweiten Buchs „#derApotheker für alle Fälle“ mit einem dieser Fragewörter und beantwortet dann jede Menge Fragen rund um Medikamente. Wie schon beim ersten Buch habe ich sehr viel Neues erfahren und eine Menge dazugelernt. Eine wirklich lohnende Lektüre!
Aber von vorn.
#derApotheker ist vielen aus den sozialen Medien bekannt, wo er täglich Fragen beantwortet. In seinem neuen Buch hat er eine Reihe seiner Antworten zusammengestellt und sie in Anekdoten aus seinem beruflichen Alltag gepackt. Darin geht er auf Themen wie „Warum man mit den Z-Substanzen Zolpidem und Zopiclon zwar besser schläft, sie aber nicht unbedenklich sind“, „Was bei einer Blasenentzündung hilft und was nicht“ oder „Wie man Durchfall am besten behandelt und ob Racecadotril es mit Loperamid aufnehmen kann“ ein. Außerdem klärt er in seiner gewohnt sachlichen Art über „echte“ Medikamente und Pseudo-Medizin auf. Er erklärt, wieso Plazenta-Globuli Humbug sind, was man generell über Pseudomedizin wie Homöopathie, Schüßler-Salze, Bach-Blüten und die anthroposophische „Medizin“ wissen sollte und wieso die Annahme vieler, pflanzliche Arzneimittel und Naturkosmetik sei besser für den Menschen, weil sie natürlich sei und deshalb „keine »böse« Chemie enthält“ komplett falsch ist. Einerseits ist nämlich alles auf der Welt Chemie und vor allem Pflanzen enthalten sehr viele chemische Verbindungen. Andererseits stecken vor allem in Naturkosmetika unter anderem allergieauslösende Stoffe wie ätherische Öle oder Arnika.
Im Buch enthalten sind reichlich interessante wissenschaftliche Fakten. Aber neben einer Menge Chemie- und Pharmazietheorie gibt es eine Menge praktische Information. „Wie man Trockensäfte richtig zubereitet und was man über Penicilline wissen sollte“ ist beispielsweise das zweite, „Was alles in eine Hausapotheke gehört“ ist das letzte Kapitel des Buchs. Dazwischen gibt #DerApotheker seiner Leserschaft auch Wissenswertes für den Alltag mit. Man erfährt, warum die Panik vor Aluminium in Deos genauso wenig angebracht ist, wie die vor Fluorid in der Zahnpasta, was die Gefahren von Antihistaminika als Schlafmittel sind und was der Unterschied zwischen Opiaten und Opioiden ist. Und auch CDB-Öl, Ginkgo-Präparate oder Melatonin lässt er nicht aus. Die Mittel, die aktuell in den einschlägigen Zeitschriften, auf vielen Websites oder auch beim Kaffeekränzchen diskutiert und angepriesen werden („Meine Freundin, die Irmela, hat mir gesagt, dass sie dadurch viel besser einschlafen kann. Also muss es ja wohl wirken.“), werden von ihm unter die Lupe genommen und sachlich in ihre Einzelteile zerlegt und ihre Wirksamkeit gleich mit.
Alles in allem ist das Buch eine gelungene Mischung aus wissenschaftlichen und alltagstauglichen Informationen, in gewohnt locker-flockiger Sprache. Gut, manches hätte er (beziehungsweise seine Kollegin Anna) sich sparen können. Alltagsnahe Sprache hin oder her, aber etwas wie „»What the f**k“ bräuchte das Buch meiner Meinung nach wirklich nicht. Sei’s drum. Für mich war das Buch ein echtes Lesevergnügen, ich habe wieder eine Menge dazugelernt und bei einigem habe ich mich gefreut, bislang bei der Einnahme alles richtig gemacht zu haben.
Am 27.10.2023 erscheint das nächste Buch von #derApotheker, in dem er zusammen mit dem Toxikologen Dr. Carsten Schleh über „Die Wahrheit über unsere Drogen“ schreibt. Ich freue mich jetzt schon drauf und vergebe für „#derApotheker für alle Fälle“ fünf Sterne.

Bewertung vom 23.04.2023
Mein rebellisches Leben
Kennedy, Nigel

Mein rebellisches Leben


weniger gut

Vorab möchte ich sagen, dass ich Biografien und Autobiografien sehr gerne lese. Eigentlich. Denn die Autobiografie von Nigel Kennedy fand ich dann doch, wie man neu-deutsch sagt, ein bisschen drüber. „Mein rebellisches Leben“ heißt das Werk und das „Rebellische“ ist darin auch der rote Faden. Allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich. Daher konnte ich dem eher vulgären und chaotischen Buch wenig abgewinnen, es brachte mir den Künstler auch nicht wirklich näher.
Aber von vorn. Oder auch nicht, denn eigentlich ist damit schon alles gesagt.
Nigel Kennedy, einstiges Wunderkind und später Enfant Terrible der Klassik, ein Rebell ohne Grenzen – so könnte man das Leben des Violinisten kurz zusammenfassen. Aus dem kleinen Jungen, der bei den Klavierstunden seiner Mutter unter dem Instrument saß und zuhörte, wurde später der Starschüler von Yehudi Menuhin und dann der berühmte Punk an der Geige, der mit seiner Art versuchte, klassische Musik für alle zugänglich zu machen. Inzwischen ist er Mitte 60 und kein bisschen leiser. Und auch kein bisschen gemäßigter oder auch nur annähernd anständiger. In seiner Autobiografie reiht er wild Interessantes und Wissenswertes an Banales und erzählt Dinge aus seinem Leben, für die sich andere Menschen entleiben würden. So zum Beispiel, wie er als Dreizehnjähriger zum ersten Mal in Paris und dort seine Notdurft statt in die Toilette ins Bidet verrichtet hat.
Und spätestens ab da hatte ich auch ein echtes Problem mit dem Buch. Seine Sprache ist vulgär, seine Art herablassend und mir zu selbstgefällig. Wirklich Spaß hatte ich beim Lesen dadurch nicht und ich habe es auch nur weitergelesen, weil ich hoffte, irgendwann einen Draht zu ihm, seiner Kunst und seiner Person zu finden. Natürlich schreibt er am Anfang des Buchs eine Art Warnung, „Wo ich nun mal vierundsechzig bin, mag meine Ausdrucksweise der heutigen Gedankenpolizei möglicherweise hier und da politisch nicht ganz korrekt erscheinen, vor allem wenn ich witzig zu sein meine. […] Bitte ärgert euch nicht, entspannt euch!“ Witziges fand ich in dem Buch wenig, dafür eine Menge Chaos. Geärgert habe ich mich nicht, aber begeistert hat mich das Buch auch nicht. Für mich ist es ein Wust aus unzusammenhängenden Anekdoten über Treffen mit den Größen des Musikgeschäfts, mehr oder weniger gelungene Auftritte und Fußball dazu, mein persönliches Highlight: seine „Top 10 der Begegnungen mit der Polizei“.
Ja, das Buch ist ein echter Kennedy und ich habe bei der Lektüre gemerkt, dass ich wohl, im Gegensatz zu ihm, aus der Rebellen-Rolle herausgewachsen und erwachsen geworden bin. Mir liegt weder seine Art noch seine Sprache. Von mir zwei Sterne.

Bewertung vom 08.04.2023
Die Totenuhr / Ann Lindell Bd.9
Eriksson, Kjell

Die Totenuhr / Ann Lindell Bd.9


gut

„Die Totenuhr” von Kjell Eriksson war für mich das erste und ganz sicher auch das letzte Buch seiner Reihe um Ann Lindell, die ehemalige Kriminalkommissarin. Der neunte Teil der Serie ist ein atmosphärischer Krimi, das ist für mich aber eines der wenigen positiven Dinge, die ich darüber sagen kann. Selten hat sich ein Buch für mich so zäh und mit so wenig Spannung gelesen und selbst der überraschende Schluss ließ mich völlig unbefriedigt zurück. Immer wieder war ich versucht, quer zu lesen, die verschiedenen Handlungsstränge und die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, hielten mich allerdings davon ab.
Aber von vorn.
Die ehemalige Kriminalpolizistin Ann Lindell hat sich mit ihrem Partner Edvard auf der Insel Gräsö an der schwedischen Küste niedergelassen. Dort möchte sie sich eine Auszeit nehmen, wird aber überraschend mit einem vier Jahre alten Fall konfrontiert. Damals verschwand Cecilia Karlsson von der Insel und ihr Schicksal ist bis heute ungewiss, sie wurde seither nicht mehr gesehen, ihre Leiche wurde allerdings auch nicht gefunden. Da um es bezüglich ihres Verschwindens sehr viele Rätsel gibt, macht Ann sich an die Ermittlungen. Auf einer so kleinen Insel wie Gräsö kennt jeder jeden und praktisch alle Bewohner tragen Geheimnisse mit sich herum. So kam nur einen Monat vor Cecilia deren Freund Casper Stefansson zu Tode und Gerüchten zufolge hatte die junge Frau etwas damit zu tun. Und plötzlich, zur Beerdigung ihrer Freundin Olga, wird Cecilia wieder auf Gräsö gesehen. Und dann überschlagen sich die Ereignisse und im Zentrum stehen Cecilia und ihre Familie.
Ganz ehrlich – an diesem Buch konnte mich außer der bedrückenden Atmosphäre, der angenehmen Sprache und der gelungenen Übersetzung nichts begeistern. Vielleicht wäre es mir leichter gefallen, hätte ich die anderen Teile der Serie gekannt und hätte die Entwicklung der wiederkehrenden Charaktere miterlebt. So fand ich sie aber alle eher platt und farblos. Ann Lindell verkommt zur Nebenfigur und irgendwie hatte die Geschichte für mich keine richtige Hauptfigur. Außerdem ist Ann mir überwiegend auch nicht besonders sympathisch, aber als Ermittlerin scheint sie kompetent und zielstrebig, manchmal fast ein bisschen verbissen. Sie hat, wie alle anderen im Buch auch, mit einigen privaten Problemen zu kämpfen. Sie hat ihre Alkoholsucht überwunden, versucht in ihrem neuen Leben mit Käsemachen Fuß zu fassen, ist aber in den Augen vieler anderer nichts weiter als eine „ausrangierte Bullenfrau“.
Den Spannungsbogen empfand ich als durchgehend eher flach, das Spannungsniveau nicht sehr hoch und die Geschichte über lange Strecken langatmig und langweilig. Für meinen Geschmack dauerte es viel zu lange, bis die Handlung Fahrt aufnahm und ich eine Ahnung davon bekam, wohin die Geschichte mich führen würde. Leider kam für mich die Totenuhr aus dem Titel (ein „klopfender“ Käfer, der zur Paarungszeit seinen Kopf auf Holz schlägt) als Metapher zu wenig zum Tragen. Und auch sonst fand ich die Handlung insgesamt sehr konstruiert und das nicht im positiven Sinne. Zwar führt alles am Ende zu einem stimmigen Schluss, der mich zwar überraschen, aber nicht begeistern konnte. Die psychologischen Elemente kommen für mich zu kurz und werden zu oberflächlich abgehandelt. Dysfunktionale Familien mit Eifersucht, Kontrollwahn und Ehedrama, Rachegelüste, Wirtschaftskriminalität, dazu Mord und Brandstiftung – eigentlich hat das Buch alles, was das Krimileser-Herz begehrt. Für mich hat der Autor das Potential allerdings zu wenig ausgeschöpft und es wäre viel mehr drin gewesen. Daher kommt das Buch für mich nicht über ein „unterhaltsam“ und „okay“ hinaus und ich vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 03.04.2023
Das Zeitalter der Unschärfe
Hürter, Tobias

Das Zeitalter der Unschärfe


ausgezeichnet

„Die wichtigsten grundlegenden Gesetze und Tatsachen der Physik sind entdeckt und daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand durch neue Entdeckungen ergänzt, äußerst gering.“ – diese Aussage des amerikanischen Physikers Albert Michelson stammt aus dem Jahr 1899. Für ihn war die Physik also „vollendet“. Wie falsch er lag, kann man in Tobias Hürters Buch „Das Zeitalter der Unschärfe nachlesen, denn die „glänzenden und die dunklen Jahre der Physik“ sollten erst noch kommen. Was mit Henri Becquerel und Marie Curie und der Entdeckung der Radioaktivität begann, mit dem Bohrschen Atommodell und den Relativitätstheorien weiterging und zur Quantentheorie und der Quantenmechanik führte, revolutioniert Wissenschaft, wissenschaftliches Denken und die ganze Welt – und endet mit den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Tobias Hürter geht in seinem Buch gleichermaßen auf die Biografien derjenigen ein, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben haben, wie auch auf ihre Forschungen. Er streift Marie Curies Kindheit und Jugend, ihre Studien in Frankreich und den Tod ihres Mannes und Forschungspartners Pierre. Er schreibt locker und anschaulich über Menschen wie Albert Einstein, Niels Bohr, Max Planck, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger (der tatsächlich nie eine Katze hatte!) und über ihre wissenschaftliche Arbeit. Die Leserschaft kann chronologisch die Entwicklung von Becquerels ersten Forschungen an Uran zu Curies Entdeckung von Radium und Polonium miterleben (letztere prägte auch den Begriff Radioaktivität), das Werden vom Bohrschen Atommodell bis hin zum Bau der ersten Atombombe.
Dabei schafft der Autor es immer, den wissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit (ohne Telefon oder gar Internet musste viel brieflich erledigt werden und es wurde auch eine Menge gereist) lebhaft und anschaulich zu schildern. Man erlebt als Leser:in fruchtbare und angeregte, manchmal sogar hitzige Diskussionen zwischen wissenschaftlichen Kapazitäten, die die Wissenschaft weiterbrachten, als jemals jemand hätte erwarten können. Diese Diskussionen können so oder so ähnlich gewesen sein, Fakt ist auf jeden Fall, dass sie stattgefunden haben. Auch die Straßenbahnfahrten von Niels Bohr und Albert Einstein durch Kopenhagen, bei der die beiden so angeregt diskutiert haben, dass sie immer wieder ihre Haltestelle verpassten, gab es wirklich.
Natürlich ist es kein Physikbuch, streng genommen vielleicht noch nicht einmal ein Sachbuch. Aber es ist ein hervorragender populärwissenschaftlicher Überblick über die Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Relation zur Zeitgeschichte, launig und erfrischend einfach geschrieben. Neben der Physik spielt natürlich auch die Politik eine Rolle, schließlich führte die damalige Forschung im Endeffekt zur Atombombe und dem Ringen um ebendiese.
Da komme ich auch zum großen und einzigen Kritikpunkt an dem Buch. Wegen der Bombardierung Berlins verlegten die Forscher um Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker ihren Versuchsreaktor 1944 nach Haigerloch. So weit so gut, meine Großmutter wohnte damals in Sichtweite des Felsenkellers, in dem das Herz des Uranprojekts untergebracht wurde. Ich selbst bin ich Haigerloch aufgewachsen, was schon seit 1231 Stadtrechte besitzt und daher damals schon kein Dorf war und ebenfalls ganz sicher nicht auf der Schwäbischen Alb liegt.
Aber abgesehen von diesem Fauxpas, hat mich das Buch in seinen Bann gezogen. Selbst ich, der ich Physik zu Schulzeiten verabscheut habe, habe viele Anreize bekommen, mich näher mit der Materie (den Menschen und ihren Forschungen) zu befassen, im Anhang ist dazu eine Liste mit weiterführender Literatur. Denn eines ist klar: auch heute noch liegt Albert Michelson falsch. Zwar ist die Forschung sehr viel weiter als zu Anfang des 20. Jahrhunderts, aber immer noch gibt es eine Menge zu entdecken und Forschung wird nie „vollendet“ sein, das wissenschaftliche Weltbild kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Von mir fünf Punkte.

Bewertung vom 20.03.2023
Zerstört / Rachejagd Bd.3
Stevens, Nica;Suchanek, Andreas

Zerstört / Rachejagd Bd.3


ausgezeichnet

Was für ein Finale!
Mit "Zerstört" geht die „Rachejagd“-Trilogie von Andreas Suchanek und Nica Stevens zu Ende. Und was für ein Ende es ist! Spannend, brutal und vor allem: völlig überraschend! Ein gelungener Schlusspunkt für eine durch und durch gelungene Serie.
Aber von vorn.
Als hätten die Journalistin Anna Jones und der FBI-Agent Nick Coleman nicht schon genug gelitten und als wären nicht schon genug Menschen gestorben! Freunde und Weggefährten von Nick und Anna sind zu Tode gekommen, aber auch Menschen, die Jagd auf die beiden gemacht haben. Im Auftrage eines psychopatischen Puppenspielers, dessen Identität sie immer noch nicht kennen. Jetzt taucht er wieder auf und es wird wieder lebensgefährlich. Denn der geheimnisvolle Serienkiller ist weiterhin auf seinem Rachefeldzug und Leichen pflastern seinen Weg. Dabei ist es ihm egal, ob durch Giftgas jede Menge Menschen sterben oder ob ein Opfer durch Schuss- oder Stichverletzungen stirbt. Für ihn ist nur eines wichtig: so viele Menschen aus dem direkten Umfeld von Anna und Nick, und natürlich zuletzt natürlich auch die beiden, zu töten. Das Spinnennetz, das der psychopathische Serienkiller strickt, ist auch in diesem Teil unglaublich. Unglaublich geschickt. Unglaublich kompliziert. Und unglaublich grausam. Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, hetzt er mehr oder weniger aufeinander und meistens kommt jemand zu Tode. Dabei war Edward Harris, Annas Entführer, durch den in Band 1 alles ins Rollen kam, nur die Spitze des Eisbergs. Und als Anna und Nick dahinterkommen, wer der Kopf hinter alldem ist, ist es beinahe zu spät.
Wow, was für eine Achterbahnfahrt! Ich lese ja schon sehr lange Krimis und Thriller und ich war mir sicher, mich könnte nichts mehr überraschen. Da lag ich falsch. Die Rachejagd-Trilogie war für mich ein absolutes Highlight. Zwar fehlt mir aus unverständlichen Gründen der mittlere Teil der Trilogie, was aber für das Verständnis kein Problem war. Alles, was man wissen muss, wird im letzten Teil in Rückblicken erwähnt, so dass keine Lücken bleiben. Der Spannungsbogen ist konstant extrem hoch und setzt sich aus den ersten beiden Teilen nahtlos fort. Die Irrwege, auf die das Autoren-Duo ihr Publikum schickt, sind unfassbar gut konstruiert und selbst ich als alter Hase bin ständig auf die Finten reingefallen und wusste bis zum Schluss nicht, wer der Killer ist.
Die Charaktere werden weiter ausgebaut, neue kommen dazu, von einigen liebgewonnenen muss man sich verabschieden (so beginnt das Buch mit der Beerdigung der Profilerin Lynette, die Nick und Anna mit ihrer ruhigen und kompetenten Art durch die ersten beiden Teile begleitet hat). Aber alle sind in sich stimmig und gut konzipiert und gekonnt ausgearbeitet. Die Geschichte an sich erinnerte mich an die Schnitzeljagden aus der Kindheit, wo ein Hinweis auf den nächsten hinweist. So spielt dieser Teil in mehreren Zeitebenen, dem Jetzt und Hier und in der Vergangenheit, beginnend „15 Jahre zuvor“. Beide Zeitachsen verlaufen linear und am Ende werden beide vereint. So ist man als Leser:in den Ermittlern (oder Gejagten) immer einen Schritt voraus, denn man erfährt sehr viel über den Täter und seine Motive.
Alles in allem fand ich das Buch rasant spannend, sprachlich gut und locker geschrieben, daher sehr flüssig zu lesen. Ich habe es sehr bedauert, dass es „nur“ eine Trilogie war, ich hätte noch ewig so weiterlesen können. Aber sei’s drum: ein fulminantes Finale für eine fantastische Miniserie. Eine absolute Lese-Empfehlung und fünf Sterne von mir.