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sleepwalker

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Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 23.04.2023
Mein rebellisches Leben
Kennedy, Nigel

Mein rebellisches Leben


weniger gut

Vorab möchte ich sagen, dass ich Biografien und Autobiografien sehr gerne lese. Eigentlich. Denn die Autobiografie von Nigel Kennedy fand ich dann doch, wie man neu-deutsch sagt, ein bisschen drüber. „Mein rebellisches Leben“ heißt das Werk und das „Rebellische“ ist darin auch der rote Faden. Allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich. Daher konnte ich dem eher vulgären und chaotischen Buch wenig abgewinnen, es brachte mir den Künstler auch nicht wirklich näher.
Aber von vorn. Oder auch nicht, denn eigentlich ist damit schon alles gesagt.
Nigel Kennedy, einstiges Wunderkind und später Enfant Terrible der Klassik, ein Rebell ohne Grenzen – so könnte man das Leben des Violinisten kurz zusammenfassen. Aus dem kleinen Jungen, der bei den Klavierstunden seiner Mutter unter dem Instrument saß und zuhörte, wurde später der Starschüler von Yehudi Menuhin und dann der berühmte Punk an der Geige, der mit seiner Art versuchte, klassische Musik für alle zugänglich zu machen. Inzwischen ist er Mitte 60 und kein bisschen leiser. Und auch kein bisschen gemäßigter oder auch nur annähernd anständiger. In seiner Autobiografie reiht er wild Interessantes und Wissenswertes an Banales und erzählt Dinge aus seinem Leben, für die sich andere Menschen entleiben würden. So zum Beispiel, wie er als Dreizehnjähriger zum ersten Mal in Paris und dort seine Notdurft statt in die Toilette ins Bidet verrichtet hat.
Und spätestens ab da hatte ich auch ein echtes Problem mit dem Buch. Seine Sprache ist vulgär, seine Art herablassend und mir zu selbstgefällig. Wirklich Spaß hatte ich beim Lesen dadurch nicht und ich habe es auch nur weitergelesen, weil ich hoffte, irgendwann einen Draht zu ihm, seiner Kunst und seiner Person zu finden. Natürlich schreibt er am Anfang des Buchs eine Art Warnung, „Wo ich nun mal vierundsechzig bin, mag meine Ausdrucksweise der heutigen Gedankenpolizei möglicherweise hier und da politisch nicht ganz korrekt erscheinen, vor allem wenn ich witzig zu sein meine. […] Bitte ärgert euch nicht, entspannt euch!“ Witziges fand ich in dem Buch wenig, dafür eine Menge Chaos. Geärgert habe ich mich nicht, aber begeistert hat mich das Buch auch nicht. Für mich ist es ein Wust aus unzusammenhängenden Anekdoten über Treffen mit den Größen des Musikgeschäfts, mehr oder weniger gelungene Auftritte und Fußball dazu, mein persönliches Highlight: seine „Top 10 der Begegnungen mit der Polizei“.
Ja, das Buch ist ein echter Kennedy und ich habe bei der Lektüre gemerkt, dass ich wohl, im Gegensatz zu ihm, aus der Rebellen-Rolle herausgewachsen und erwachsen geworden bin. Mir liegt weder seine Art noch seine Sprache. Von mir zwei Sterne.

Bewertung vom 08.04.2023
Die Totenuhr / Ann Lindell Bd.9
Eriksson, Kjell

Die Totenuhr / Ann Lindell Bd.9


gut

„Die Totenuhr” von Kjell Eriksson war für mich das erste und ganz sicher auch das letzte Buch seiner Reihe um Ann Lindell, die ehemalige Kriminalkommissarin. Der neunte Teil der Serie ist ein atmosphärischer Krimi, das ist für mich aber eines der wenigen positiven Dinge, die ich darüber sagen kann. Selten hat sich ein Buch für mich so zäh und mit so wenig Spannung gelesen und selbst der überraschende Schluss ließ mich völlig unbefriedigt zurück. Immer wieder war ich versucht, quer zu lesen, die verschiedenen Handlungsstränge und die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, hielten mich allerdings davon ab.
Aber von vorn.
Die ehemalige Kriminalpolizistin Ann Lindell hat sich mit ihrem Partner Edvard auf der Insel Gräsö an der schwedischen Küste niedergelassen. Dort möchte sie sich eine Auszeit nehmen, wird aber überraschend mit einem vier Jahre alten Fall konfrontiert. Damals verschwand Cecilia Karlsson von der Insel und ihr Schicksal ist bis heute ungewiss, sie wurde seither nicht mehr gesehen, ihre Leiche wurde allerdings auch nicht gefunden. Da um es bezüglich ihres Verschwindens sehr viele Rätsel gibt, macht Ann sich an die Ermittlungen. Auf einer so kleinen Insel wie Gräsö kennt jeder jeden und praktisch alle Bewohner tragen Geheimnisse mit sich herum. So kam nur einen Monat vor Cecilia deren Freund Casper Stefansson zu Tode und Gerüchten zufolge hatte die junge Frau etwas damit zu tun. Und plötzlich, zur Beerdigung ihrer Freundin Olga, wird Cecilia wieder auf Gräsö gesehen. Und dann überschlagen sich die Ereignisse und im Zentrum stehen Cecilia und ihre Familie.
Ganz ehrlich – an diesem Buch konnte mich außer der bedrückenden Atmosphäre, der angenehmen Sprache und der gelungenen Übersetzung nichts begeistern. Vielleicht wäre es mir leichter gefallen, hätte ich die anderen Teile der Serie gekannt und hätte die Entwicklung der wiederkehrenden Charaktere miterlebt. So fand ich sie aber alle eher platt und farblos. Ann Lindell verkommt zur Nebenfigur und irgendwie hatte die Geschichte für mich keine richtige Hauptfigur. Außerdem ist Ann mir überwiegend auch nicht besonders sympathisch, aber als Ermittlerin scheint sie kompetent und zielstrebig, manchmal fast ein bisschen verbissen. Sie hat, wie alle anderen im Buch auch, mit einigen privaten Problemen zu kämpfen. Sie hat ihre Alkoholsucht überwunden, versucht in ihrem neuen Leben mit Käsemachen Fuß zu fassen, ist aber in den Augen vieler anderer nichts weiter als eine „ausrangierte Bullenfrau“.
Den Spannungsbogen empfand ich als durchgehend eher flach, das Spannungsniveau nicht sehr hoch und die Geschichte über lange Strecken langatmig und langweilig. Für meinen Geschmack dauerte es viel zu lange, bis die Handlung Fahrt aufnahm und ich eine Ahnung davon bekam, wohin die Geschichte mich führen würde. Leider kam für mich die Totenuhr aus dem Titel (ein „klopfender“ Käfer, der zur Paarungszeit seinen Kopf auf Holz schlägt) als Metapher zu wenig zum Tragen. Und auch sonst fand ich die Handlung insgesamt sehr konstruiert und das nicht im positiven Sinne. Zwar führt alles am Ende zu einem stimmigen Schluss, der mich zwar überraschen, aber nicht begeistern konnte. Die psychologischen Elemente kommen für mich zu kurz und werden zu oberflächlich abgehandelt. Dysfunktionale Familien mit Eifersucht, Kontrollwahn und Ehedrama, Rachegelüste, Wirtschaftskriminalität, dazu Mord und Brandstiftung – eigentlich hat das Buch alles, was das Krimileser-Herz begehrt. Für mich hat der Autor das Potential allerdings zu wenig ausgeschöpft und es wäre viel mehr drin gewesen. Daher kommt das Buch für mich nicht über ein „unterhaltsam“ und „okay“ hinaus und ich vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 03.04.2023
Das Zeitalter der Unschärfe
Hürter, Tobias

Das Zeitalter der Unschärfe


ausgezeichnet

„Die wichtigsten grundlegenden Gesetze und Tatsachen der Physik sind entdeckt und daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand durch neue Entdeckungen ergänzt, äußerst gering.“ – diese Aussage des amerikanischen Physikers Albert Michelson stammt aus dem Jahr 1899. Für ihn war die Physik also „vollendet“. Wie falsch er lag, kann man in Tobias Hürters Buch „Das Zeitalter der Unschärfe nachlesen, denn die „glänzenden und die dunklen Jahre der Physik“ sollten erst noch kommen. Was mit Henri Becquerel und Marie Curie und der Entdeckung der Radioaktivität begann, mit dem Bohrschen Atommodell und den Relativitätstheorien weiterging und zur Quantentheorie und der Quantenmechanik führte, revolutioniert Wissenschaft, wissenschaftliches Denken und die ganze Welt – und endet mit den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Tobias Hürter geht in seinem Buch gleichermaßen auf die Biografien derjenigen ein, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben haben, wie auch auf ihre Forschungen. Er streift Marie Curies Kindheit und Jugend, ihre Studien in Frankreich und den Tod ihres Mannes und Forschungspartners Pierre. Er schreibt locker und anschaulich über Menschen wie Albert Einstein, Niels Bohr, Max Planck, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger (der tatsächlich nie eine Katze hatte!) und über ihre wissenschaftliche Arbeit. Die Leserschaft kann chronologisch die Entwicklung von Becquerels ersten Forschungen an Uran zu Curies Entdeckung von Radium und Polonium miterleben (letztere prägte auch den Begriff Radioaktivität), das Werden vom Bohrschen Atommodell bis hin zum Bau der ersten Atombombe.
Dabei schafft der Autor es immer, den wissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit (ohne Telefon oder gar Internet musste viel brieflich erledigt werden und es wurde auch eine Menge gereist) lebhaft und anschaulich zu schildern. Man erlebt als Leser:in fruchtbare und angeregte, manchmal sogar hitzige Diskussionen zwischen wissenschaftlichen Kapazitäten, die die Wissenschaft weiterbrachten, als jemals jemand hätte erwarten können. Diese Diskussionen können so oder so ähnlich gewesen sein, Fakt ist auf jeden Fall, dass sie stattgefunden haben. Auch die Straßenbahnfahrten von Niels Bohr und Albert Einstein durch Kopenhagen, bei der die beiden so angeregt diskutiert haben, dass sie immer wieder ihre Haltestelle verpassten, gab es wirklich.
Natürlich ist es kein Physikbuch, streng genommen vielleicht noch nicht einmal ein Sachbuch. Aber es ist ein hervorragender populärwissenschaftlicher Überblick über die Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Relation zur Zeitgeschichte, launig und erfrischend einfach geschrieben. Neben der Physik spielt natürlich auch die Politik eine Rolle, schließlich führte die damalige Forschung im Endeffekt zur Atombombe und dem Ringen um ebendiese.
Da komme ich auch zum großen und einzigen Kritikpunkt an dem Buch. Wegen der Bombardierung Berlins verlegten die Forscher um Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker ihren Versuchsreaktor 1944 nach Haigerloch. So weit so gut, meine Großmutter wohnte damals in Sichtweite des Felsenkellers, in dem das Herz des Uranprojekts untergebracht wurde. Ich selbst bin ich Haigerloch aufgewachsen, was schon seit 1231 Stadtrechte besitzt und daher damals schon kein Dorf war und ebenfalls ganz sicher nicht auf der Schwäbischen Alb liegt.
Aber abgesehen von diesem Fauxpas, hat mich das Buch in seinen Bann gezogen. Selbst ich, der ich Physik zu Schulzeiten verabscheut habe, habe viele Anreize bekommen, mich näher mit der Materie (den Menschen und ihren Forschungen) zu befassen, im Anhang ist dazu eine Liste mit weiterführender Literatur. Denn eines ist klar: auch heute noch liegt Albert Michelson falsch. Zwar ist die Forschung sehr viel weiter als zu Anfang des 20. Jahrhunderts, aber immer noch gibt es eine Menge zu entdecken und Forschung wird nie „vollendet“ sein, das wissenschaftliche Weltbild kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Von mir fünf Punkte.

Bewertung vom 20.03.2023
Zerstört / Rachejagd Bd.3
Stevens, Nica;Suchanek, Andreas

Zerstört / Rachejagd Bd.3


ausgezeichnet

Was für ein Finale!
Mit "Zerstört" geht die „Rachejagd“-Trilogie von Andreas Suchanek und Nica Stevens zu Ende. Und was für ein Ende es ist! Spannend, brutal und vor allem: völlig überraschend! Ein gelungener Schlusspunkt für eine durch und durch gelungene Serie.
Aber von vorn.
Als hätten die Journalistin Anna Jones und der FBI-Agent Nick Coleman nicht schon genug gelitten und als wären nicht schon genug Menschen gestorben! Freunde und Weggefährten von Nick und Anna sind zu Tode gekommen, aber auch Menschen, die Jagd auf die beiden gemacht haben. Im Auftrage eines psychopatischen Puppenspielers, dessen Identität sie immer noch nicht kennen. Jetzt taucht er wieder auf und es wird wieder lebensgefährlich. Denn der geheimnisvolle Serienkiller ist weiterhin auf seinem Rachefeldzug und Leichen pflastern seinen Weg. Dabei ist es ihm egal, ob durch Giftgas jede Menge Menschen sterben oder ob ein Opfer durch Schuss- oder Stichverletzungen stirbt. Für ihn ist nur eines wichtig: so viele Menschen aus dem direkten Umfeld von Anna und Nick, und natürlich zuletzt natürlich auch die beiden, zu töten. Das Spinnennetz, das der psychopathische Serienkiller strickt, ist auch in diesem Teil unglaublich. Unglaublich geschickt. Unglaublich kompliziert. Und unglaublich grausam. Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, hetzt er mehr oder weniger aufeinander und meistens kommt jemand zu Tode. Dabei war Edward Harris, Annas Entführer, durch den in Band 1 alles ins Rollen kam, nur die Spitze des Eisbergs. Und als Anna und Nick dahinterkommen, wer der Kopf hinter alldem ist, ist es beinahe zu spät.
Wow, was für eine Achterbahnfahrt! Ich lese ja schon sehr lange Krimis und Thriller und ich war mir sicher, mich könnte nichts mehr überraschen. Da lag ich falsch. Die Rachejagd-Trilogie war für mich ein absolutes Highlight. Zwar fehlt mir aus unverständlichen Gründen der mittlere Teil der Trilogie, was aber für das Verständnis kein Problem war. Alles, was man wissen muss, wird im letzten Teil in Rückblicken erwähnt, so dass keine Lücken bleiben. Der Spannungsbogen ist konstant extrem hoch und setzt sich aus den ersten beiden Teilen nahtlos fort. Die Irrwege, auf die das Autoren-Duo ihr Publikum schickt, sind unfassbar gut konstruiert und selbst ich als alter Hase bin ständig auf die Finten reingefallen und wusste bis zum Schluss nicht, wer der Killer ist.
Die Charaktere werden weiter ausgebaut, neue kommen dazu, von einigen liebgewonnenen muss man sich verabschieden (so beginnt das Buch mit der Beerdigung der Profilerin Lynette, die Nick und Anna mit ihrer ruhigen und kompetenten Art durch die ersten beiden Teile begleitet hat). Aber alle sind in sich stimmig und gut konzipiert und gekonnt ausgearbeitet. Die Geschichte an sich erinnerte mich an die Schnitzeljagden aus der Kindheit, wo ein Hinweis auf den nächsten hinweist. So spielt dieser Teil in mehreren Zeitebenen, dem Jetzt und Hier und in der Vergangenheit, beginnend „15 Jahre zuvor“. Beide Zeitachsen verlaufen linear und am Ende werden beide vereint. So ist man als Leser:in den Ermittlern (oder Gejagten) immer einen Schritt voraus, denn man erfährt sehr viel über den Täter und seine Motive.
Alles in allem fand ich das Buch rasant spannend, sprachlich gut und locker geschrieben, daher sehr flüssig zu lesen. Ich habe es sehr bedauert, dass es „nur“ eine Trilogie war, ich hätte noch ewig so weiterlesen können. Aber sei’s drum: ein fulminantes Finale für eine fantastische Miniserie. Eine absolute Lese-Empfehlung und fünf Sterne von mir.

Bewertung vom 20.03.2023
Gequält / Rachejagd Bd.1
Stevens, Nica;Suchanek, Andreas

Gequält / Rachejagd Bd.1


ausgezeichnet

Andreas Suchanek war für mich bislang immer eher der Garant für unterhaltsame Kinder-Fantasy-Geschichten (ich mag seine Flüsterwald-Reihe sehr). Jetzt hat er allerdings im Duett mit Nica Stevens mit „Rachejagd – Gequält“ einen atemberaubend spannenden Krimi vorgelegt. Das Buch ist der erste Teil einer in rascher Abfolge erschienenen Trilogie, die beiden weiteren Teile sind ebenfalls schon veröffentlicht. Im Mittelpunkt stehen neben sehr viel blutiger Gewalt die Journalistin Anna Jones und ihr ehemaliger Freund und FBI-Agent Nick Coleman, die sich im Zentrum einer wilden Racheaktion befinden, deren Initiator sie selbst nicht einmal kennen, von seinen Gründen ganz zu schweigen. Mit dem ersten Teil beginnt eine rasante Jagd-Flucht-Geschichte, denn Anna und Nick sind sowohl die Gejagten als auch die Jäger.
Aber von vorn.
Drei Jahre ist es her, dass die Journalistin Anna Jones zusammen mit ihrer besten Freundin Natalie Walsh entführt wurde. Beide wurden während ihrer Gefangenschaft von ihrem Entführer Edward Harris gequält und gefoltert, bevor Anna die Flucht gelang. Bevor sie Natalie retten konnte, brachte ihr Peiniger sie um. Anna überlebt, wird aber von Schuldgefühlen geplagt. Und jetzt, drei Jahre später, scheint Harris aus seinem Versteck gekrochen zu sein, denn Anna erhält anonyme Briefe, in denen Dinge stehen, die nur sie und ihr Entführer kennen. Zudem schickt er ihr Gegenstände mit Bezug auf die Entführung, aber auch Dinge aus ihrem jetzigen Leben, die ihr klarmachen, dass er stets in ihrer Nähe ist. Annas Jugendliebe, FBI-Agent Nick Coleman lässt sich für den Fall abordnen und versucht, gemeinsam mit ihr, ihrem Kollegen Zane Newton, der Profilerin Lynette McKenzie herauszufinden, was Harris vorhat. Eine wilde Jagd beginnt, bei der immer neue Verdächtige auftauchen und als sie merken, dass sie besser niemandem vertrauen sollten, ist die Lage für alle lebensgefährlich.
Wow. Was für ein Buch! Der Krimi hat mich durch seine actionreiche Handlung, aber auch durch die düstere, fast klaustrophobische Atmosphäre direkt gepackt. Der Spannungsbogen ist von Anfang an fast konstant sehr hoch. Die vielen Cliffhanger an den Kapitel-Enden, die rasante Erzählweise, die Perspektivwechsel, die knackig-prägnante Sprache – das alles trieb für mich die Spannung in Fingernägel-Abknabber-Höhen. Die Sprache ist bildhaft, bei den vielen Szenen voller Blut und Gewalt vielleicht für manche zu bildhaft. Die Charaktere sind gut und gründlich ausgearbeitet. Das Handlungsgerüst ist zwar nicht immer hundertprozentig logisch gestrickt, aber dennoch gekonnt konstruiert und besticht durch rasante Action und eine hervorragend eingearbeitete psychologische Komponente. So spielen in der Geschichte unter anderem Trauma, Schuldgefühle, panische Angst und tiefsitzende Rachegelüste große Rollen, das Autoren-Duo spielt aber auch mit der Leserschaft und den Ur-Ängsten der Menschen. Ich zumindest bekam bei der Lektüre durchaus eine Art Verfolgungswahn und Beklemmungen. Hinter jeder Tür rechnet man mit dem psychopathischen Entführer und man kann die Angst der Protagonistin fast körperlich spüren. Was allerdings tatsächlich ein bisschen kurz kommt, ist wirkliche Polizeiarbeit. Von Seiten der Ermittler erfolgen fast ausschließlich Reaktionen auf Aktionen des Täters, was hauptsächlich in wilden Verfolgungsjagden gipfelt und manchmal hilft ihnen auch der Zufall auf die Sprünge.
Natürlich hat das Autoren-Duo Stevens& Suchanek das Rad nicht neu erfunden, die Geschichte hat jeder Thriller-Fan so oder so ähnlich schon Dutzende Male gelesen. Aber sei’s drum. Alles in allem hat mich das Buch gefesselt und begeistert. Jetzt freue ich mich auf den nächsten Band, denn der erste Teil der Serie hat zwar ein (für mich sehr überraschendes) Ende, aber keinen wirklichen Schluss und macht mit einem Cliffhanger Lust auf mehr. Von mir daher fünf Sterne und eine Lese-Empfehlung für alle, die rasante, actionreiche und blutige Thriller mit viel Gewalt mögen.

Bewertung vom 06.03.2023
Der kleine Buddha auf der Reise nach Hause
Mikosch, Claus

Der kleine Buddha auf der Reise nach Hause


gut

„Der kleine Buddha auf der Reise nach Hause“ war mein erstes Buch, oder besser gesagt, Büchlein, von Claus Mikosch. Da mich das Thema persönlich stark beschäftigt, war ich wirklich gespannt, wie der Autor es aufarbeitet. Tatsächlich bin ich ein bisschen zwiegespalten, denn im Endeffekt mäandert das Buch für mich zwischen Kalendersprüchen, Küchentisch-Philosophie und einigen wenigen echten philosophischen Gedankengängen hin und her. Allerdings hat es mich sehr kurzweilig und gut unterhalten.
Aber von vorn.
Den keinen Buddha beschäftigt die Frage nach Heimat. Wo ist man Zuhause und ist es etwas anderes, sich zuhause zu fühlen? Er macht sich auf die Reise, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Dabei begegnet er einigen sehr unterschiedlichen Personen und bekommt durch sie einen sehr differenzierten Einblick. So trifft er auf seiner Reise zur Insel, auf der die Schriftstellerin lebt, die er sucht, unter anderem ein junges, sehr verliebtes Paar auf der Hochzeitsreise, eine herzliche Gewürzhändlerin und einen tauben Leuchtturmwärter. Durch die Begegnungen mit dem Menschen, die ihm ihre Geschichten, aber Parabeln, erzählen, sieht der kleine Buddha immer mehr Facetten der Heimat und kommt zum für sich einzig möglichen Schluss: Wenn er sich vollkommen zuhause fühlen wollte, musste er mit ganzem Herzen den gegenwärtigen Moment lieben.
Es ist sehr interessant, wie und wo man sich zu Hause finden kann. Diese Aspekte beleuchtet der Autor gut, wenn auch nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Woran liegt das? Einerseits lag mir die sprachliche Umsetzung der Geschichte nicht hundertprozentig. Sie ist einfach gehalten, was das Buch zwar sehr schnell und leicht lesbar macht, dem Ganzen aber einen kindlich-naiven Duktus gibt und alles ständig Gefahr läuft, ins Seichte und Platte abzurutschen. Da ich den kleinen Buddha vorher nicht kannte, fand ich ihn etwas schwierig. Ihm fehlte für mich die buddhistische Ruhe und Gelassenheit, er „menschelt“ sehr, vor allem seine Gedanken über das verliebte Paar fand ich zwar teilweise nachvollziehbar aber irgendwie störend.
So kommt das Buch leider nicht an Geschichten wie etwa „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry heran, obwohl die Gedanken dahinter sicherlich ähnlich sein dürften. Dafür fehlte mir aber die Dichte und im Endeffekt auch die Weisheit. Stellenweise plätschert die Erzählung in den kurzen Kapiteln vor sich hin und wirkt etwas langatmig. Und der Schluss, so philosophisch angehaucht er auch sein mag, ist keine Überraschung: Heimat ist für jeden etwas anderes. Für den einen die Gegenwart und Umarmung des geliebten Menschen, für andere das Meer oder gar, wie für die Schriftstellerin, ein leeres Blatt Papier.
Für mich selbst konnte ich aus dem Buch für die Suche nach meinem Zuhause nicht viel mitnehmen, da hilft es nur insofern weiter, als dass man selbst eines finden muss und nicht auf andere hören soll. Denn das EINE Zuhause gibt es nicht. Oder um es mit den Worten des dänischen Musikers Michael Falch zu sagen: „Det at føle sig hjemme er et andet ord for kærlighed“ (sich zu Hause zu fühlen ist ein anderes Wort für Liebe) – Liebe zu einem Ort, einem Menschen, einem Gegenstand oder gar einer Jahreszeit. DIE Heimat gibt es nicht, sie ist nicht an einen Ort gebunden, sondern ein Gefühl und sie kann heute etwas anderes sein als sie es gestern war oder morgen sein wird.
Leider fand ich das Buch zu schwach und mir fehlte der Tiefgang. Daher kommt es für mich über ein „ganz nett“ und „unterhaltsam“ nicht hinaus. Drei Punkte.

Bewertung vom 22.02.2023
Enna Andersen und die verlorene Zeit
Johannsen, Anna

Enna Andersen und die verlorene Zeit


sehr gut

„Meine Eltern wurden vor vierundzwanzig Jahren brutal ermordet. Ein Mann ist dafür verurteilt worden und saß lange im Gefängnis. Inzwischen gibt es erhebliche Zweifel, dass er tatsächlich der Täter war. Ich suche jetzt den wahren Mörder.“ Darum dreht sich der fünfte Teil von Anna Johannsens Serie um Hauptkommissarin Enna Andersen. „Enna Andersen und die verlorene Zeit“ heißt das Buch und nimmt die Leserschaft mit auf eine wilde Achterbahnfahrt und entdeckt Geheimnisse, die sie (und auch ich als Leser) nicht erwartet hätte.
Aber von vorn.
Seit Aaron Bernard in Ennas Leben getreten ist, zweifelt Enna Andersen an der Schuld des wegen des Mordes an ihren Eltern verurteilten Ronald Grothe. Aaron ist nicht nur inzwischen ihr Lebensgefährte geworden, sondern vertritt Grothe nach wie vor in seinem Kampf um ein Wiederaufnahmeverfahren, denn der Mann bestreitet seine Schuld vehement. Enna nimmt sich drei Wochen frei und ermittelt auf eigene Faust, heimlich unterstützt von Kollegen und Privatermittlern. Die Spuren führen sie in alle möglichen Richtungen, allerdings scheinen die meisten Fäden beim ehemaligen Arbeitgeber ihres Vaters, einer Hamburger Anwaltskanzlei, zusammenzulaufen. Und als Enna und ihre Mitstreiter dahinterkommen, wer welchen Dreck am Stecken hat, ist es schon fast zu spät.
Wow. Das ist ja mal ein Chaos aus Spuren und Verdächtigen, das Anna Johannsen ihrer Leserschaft präsentiert! Tatsächlich kann ich es nicht empfehlen, mit diesem Buch in die Serie einzusteigen. Zwar gibt sich die Autorin redlich Mühe, alles Wissenswerte und Notwendige noch einmal aufzugreifen, aber hätte ich die anderen Teile nicht gelesen, hätte ich vermutlich größere Verständnisprobleme gehabt. So war das Buch für mich aber trotz der Vielzahl an Charakteren und der vielen Ausflüge ins Privatleben aller Ermittler gelungen, wenn auch nicht so gut wie erwartet. Insgesamt ist der Spannungsbogen stellenweise leider nur mäßig hoch, die Auflösung war für mich einerseits stimmig, andererseits fand ich ihn etwas an den Haaren herbeigezogen. Der historische Hintergrund (leider kann ich aus Spoiler-Gründen darauf nicht näher eingehen) ist allerdings wirklich gut eingearbeitet und logisch verknüpft.
Das Pärchengedöns zwischen Enna und Aaron, Pia und Alina und Paulsen und Katja ist zwar nett aber unspannend und bringt dem Krimi an sich keinen Mehrwert. Wer die anderen Teile der Serie kennt, kann aber die Entwicklung der Charaktere nachvollziehen, vor allem auch die Umstände, wie die jeweiligen Paare zueinander fanden, hatte ich immer vor Augen. Die vielen Verdächtigen und Spuren machten das Buch für mich manchmal ein bisschen unübersichtlich und überladen. Ab und zu beschlich mich das Gefühl, dass die Autorin das Buch gewollt in die Länge zieht, um die Seiten zu füllen. Den Epilog fand ich sehr gelungen und wichtig, denn darin wird der komplette Fall inklusive aller Verdächtigen noch einmal rekapituliert. So erfährt die Leserschaft auch, wie es mit den jeweiligen Personen weiterging.
Sprachlich ist das Buch wie gewohnt ansprechend. Es ist leicht zu lesen, die Sprache ist alltagsnah und kommt ohne übermäßige Kraft- und Fäkalausdrücke aus. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich und eine Wohltat. Ich habe das Buch auf jeden Fall sehr gerne gelesen und vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 21.02.2023
Amerikas Gotteskrieger
Brockschmidt, Annika

Amerikas Gotteskrieger


ausgezeichnet

Selten hat ein Buch mich so lange beschäftigt, wie Annika Brockschmidts „Amerikas Gotteskrieger“ – und dabei meine ich sowohl formal als auch inhaltlich. Es ist ein Buch voller Informationen, untermauert mit Quellen und Zitaten, überladen mit Namen und Fakten. Ein Buch voller erschreckender Tatsachen, zusammengetragen und historisch eingeordnet. Für mich ein Buch voller realer und realgewordener Alpträume.
Aber von vorn.
Religion ist in den USA ein wichtiges Thema. „In god we trust“ ist seit einigen Jahrzehnten das Credo. Was aber sich hinter Glauben, Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit verbirgt, zeigt ein ganz anderes Bild. Nicht erst seit Donald Trump gibt es eine breite Schnittmenge zwischen den gläubigen Christen aller möglicher Konfessionen (Evangelikale, Protestanten, Katholiken und andere Glaubensrichtungen) und radikalen Nationalisten. Rassismus ist das, was die beiden Gruppen verbindet. Und Homophobie, Transphobie, die Ablehnung der biologischen Evolutionslehre, und so weiter und so fort, schlicht all das, was mit ihrem Glaubensverständnis nicht vereinbar ist. Durch Großspender, die Brüder im Geiste und im Glauben sind, verfügt die Bewegung über schier unbegrenzte finanzielle Mittel und schafft es, immer mehr Bereiche des täglichen Lebens zu durchdringen. Schulen, Universitäten und Firmen sind nur ein Teil, in dem die religiösen Fundamentalisten vielfach schon Fuß gefasst haben. Bibliotheken verbieten Bücher, Schulen nehmen Lehrplaninhalte aus dem Unterricht und natürlich gibt es auch die dazu passenden Medien. Der Glaube hat in den USA schon lange die Kirchen verlassen und sich in Politik und Alltag verankert. Eine Trennung von Staat und Religion ist für die Religiösen Rechten unerwünscht und muss aufgehoben werden. Notfalls mit Gewalt.
Die Gewalt, an die wir uns wohl alle erinnern, ist der Sturm auf das Kapitol nach Donald Trumps verlorener Wahl. Da wurde versucht, Demokratie durch Gewalt zu ersetzen und ein Land, das sich selbst als das demokratischste überhaupt sieht, war so gespalten wie selten zuvor. Ein Teil befürwortete es und der andere war angewidert und entsetzt. Die Zeit wird zeigen, ob Amerika künftig in der Lage sein wird, eine Demokratie durchzusetzen, zumal das System mit dem im Land gewählt und regiert wird, nicht einfach zu verstehen ist. Klar ist aber jetzt schon, dass Donald Trump eine Wiederwahl anstrebt und eine große Anhängerschaft hinter sich versammeln konnte, die seine Vorstellungen teilt. Und wenn was nicht passt, wird es passend gemacht. Geschichte wird neu gedeutet, umgeschrieben oder ignoriert. Wahrheiten werden verdreht, Fake News salonfähig gemacht. Manchmal fühlt man sich ins Mittelalter zurückversetzt, als eine elitäre Minderheit lesen und schreiben konnte und daher dem illiteraten Volk die Bibel vorlesen und erklären musste – ganz nach dem eigenen Gutdünken und zum Erreichen eigener Ziele.
„Amerikas Gotteskrieger“ ist ein schrecklich-gutes Buch. Es ist hervorragend recherchiert und gut geschrieben, auch wenn einen die Fülle an Quellen und Fußnoten manchmal etwas überfordern mag. Diejenigen, die es erreichen kann, wird es zum Nachdenken bringen. Die anderen wird es kalt lassen und sie werden es für ihre Zwecke nutzen und laut „Bashing“ und „Fake News“ rufen. Diejenigen sind aber oftmals ein Teil der Blase, die sich selbst als etwas Besseres sieht, einer Gruppe von „White Supremacy“, die mit ihrem Slogan MAGA (Make America Great Again) allen anderen die Friedfertigkeit und die Gottesfurcht gleich der Kreuzzügler mit Gewalt beibringen möchte. Trump war der Anfang, wie es weitergehen wird, wird die Zeit zeigen. Das Buch zeigt eine einigermaßen düstere Zukunft. Wer die neuere Geschichte der USA und die kommenden Auseinandersetzungen verstehen möchte, dem sei Annika Brockschmidts Buch ans Herz gelegt. Von mir fünf Sterne.

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Bewertung vom 13.02.2023
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Vor einigen Jahren habe ich John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ gelesen. Jetzt erschien mit „Als die Welt zerbrach“ eine Art Fortsetzung, die ich als Hörbuch gehört habe. Für mich ein Werk, das mich zwiegespalten zurücklässt. Einerseits finde ich das Thema Schuld/Schuldgefühl sehr gut bearbeitet, andererseits ist der Schluss ein Paukenschlag, der für mich vieles ad absurdum führt.
Aber von vorn. Gretel Fernsby ist eine äußerst rüstige Dame über 90, verwitwet, hat einen über 60jährigen Sohn und mehrere Ex-Schwiegertöchter. In direkter Nähe zum Hyde Park lebt sie ein beschauliches Leben in finanzieller Sicherheit, ihre Tage drehen sich um Spaziergänge, Bücher und ihre leicht demente Nachbarin Heidi. Nachdem der Nachbar in der Wohnung unter ihr verstirbt, zieht eine Familie mit elfjährigem Sohn ein. Gretel freundet sich mit Henry an und nimmt ihm gegenüber eine Art Großmutter-Rolle an. Seine Mutter Madelyn, eine sehr hübsche ehemalige Schauspielerin scheint in ihrer Ehe mit dem Filmproduzenten Alex nicht glücklich zu sein und auch Henry ist kein unbeschwertes Kind. Bei Gretel schrillen Alarmglocken, spätestens, als sie bei dem Jungen erst einen gebrochenen Arm und später blaue Flecke sieht.
Soweit könnte das Buch ein Krimi sein. Oder ein Familiendrama. Aber weit gefehlt. Denn Gretel lebt mit einem dunklen Geheimnis. Gretel – die war sie schon immer gewesen. Der Rest ihrer Vita ist allerdings eine Lüge, ihren Mädchennamen und ihren Lebenslauf hat sie sich ausgedacht. Ihr Vater war seinerzeit Kommandant in Auschwitz gewesen, die Familie hatte in unmittelbarer Nähe zum Lager gelebt (wer „Der Junge im gestreiften Pyjama“ kennt, weiß das). Gretel blickt auf ihr Leben zurück. In Gedanken durchlebt sie die Zeit der Flucht vor den Alliierten und ihr gemeinsames Leben mit ihrer Mutter in Frankreich. Sie denkt an ihren Umzug nach Australien, wo sie ausgerechnet auf Kurt, ihren Jugendschwarm und grausamen Nazi traf. In England fasste sie schließlich Fuß, traf ihren Ehemann und wurde Mutter. Und damit treffen die beiden Erzählstränge aufeinander. Denn das Zusammentreffen Gretels mit Henry, der sie so sehr an ihren im Konzentrationslager verschwundenen Bruder Bruno erinnert, weckt bei ihr die alten Erinnerungen und stellt ihr Leben auf den Kopf. So gerne hätte sie das alles, was vor über 70 Jahren passiert war, vergessen. Oder es weiterhin verdrängt und so getan, als würde sie das alles nicht betreffen.
Aber das gelingt ihr nicht mehr. Und dem Autor gelingt ein Buch über Schuld und Schuldgefühle, Verdrängen und Vergessen und ob man manche Verbrechen jemals vergeben können sollte. Und er zwingt sein Publikum zum Nachdenken. Denn nichts an der Geschichte ist einfach – so sehr Gretel sich das auch wünschen würde. Ob sie zu menschlich und ihre Rolle im Holocaust zu harmlos dargestellt werden? Ich kann es nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist, dass es ein Buch ist, das lange und heftig nachhallt und das man, wie auch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ oft nur schwer ertragen kann. Zu präsent sind (zumindest bei mir) auch die Gedanken an die eigenen Großeltern, die etwa in Gretels Alter wären und auch die Frage, wie ich selbst an ihrer oder Gretels Stelle gehandelt hätte. Ein schwieriges Buch, das einem viel abverlangt. Der Schluss ist allerdings für mich zwar eine Mischung aus an den Haaren herbeigezogen und Paukenschlag (näher kann ich aus Spoiler-Gründen nicht darauf eingehen), aber er ist stimmig. Elisabeth Günther liest das Buch hervorragend, einfühlsam und gekonnt fängt sie die alte Dame aus 2022 genauso ein wie die junge Frau um 1950.
Mich hat das Buch auf jeden Fall tief berührt. So viel abgrundtief Böses und so schreckliche Geheimnisse hinter harmlosen Fassaden – das alles hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich vergebe fünf Sterne.

Bewertung vom 13.02.2023
Brecht und die Frauen
Hörner, Unda

Brecht und die Frauen


ausgezeichnet

Bert Brecht und ich, das ist eine eher spezielle Geschichte, die mit einem verkorksten Deutsch Leistungskurs endete. Aber „Brecht und die Frauen“ von Unda Hörner hat ihn mir nähergebracht, wobei ich sagen muss, dass er mir nicht übermäßig sympathisch wurde. 2023 wäre der Schriftsteller 125 Jahre alt geworden und in diesem Buch stehen die Frauen in seinem Leben (und davon gab es zahlreiche) im Mittelpunkt. Frauen, ohne die er ganz sicher nicht der geworden wäre, der er war, oder wie die Autorin es ausdrückt: „Der Anteil all dieser Frauen an Brechts Lebenswerk ist kaum zu überschätzen.“

Aber von vorn.
Eugen Berthold Friedrich Brecht war eigentlich rein optisch kein Frauentyp, ich denke, so viel kann man getrost sagen. Und dennoch hatte er eine anziehende Wirkung auf das weibliche Geschlecht. So war er zwar nur zweimal verheiratet (mit Marianne Zoff und mit Helene Weigel), aber er fuhr beziehungstechnisch meist mehrgleisig, schwängerte mal die eine, mal die andere – mehrere Kinder entstanden, es gab aber auch Fehlgeburten und Abtreibungen. Brecht will keine der Frauen aufgeben und wenn schon heiraten, dann am liebsten alle. Eine bürgerliche Konvention wie Monogamie lehnte er offenbar ab („Polygamie in der Beziehung ist für sie kein Grund zur Aufregung“ – das erwartete er offenbar auch von den Frauen). Die Frauen spielten das Spiel mit. Dabei waren sie keine farblosen Mäuschen und Heimchen am Herd. Einzig seine Jugendliebe Paula Banholzer, genannt Bi, ergriff den bürgerlichen Beruf der Erzieherin. Die anderen Damen in Brechts Leben kamen aus der Künstlerszene: Helene Weigel, Marianne Zoff und Ruth Berlau waren bekannte Schauspielerinnen, Elisabeth Hauptmann und Margarete Steffin Schriftstellerinnen. Viele von Brechts Werken wären ohne die Frauen in seinem Leben inhaltlich und technisch gar nicht möglich gewesen.
Sie waren ihm Musen und hielten ihm den Rücken frei, organisierten seinen Schreibkram, seine Notizen und sein Leben. Vermutlich wäre auch sein Leben im Exil (er ging erst in die Schweiz, dann nach Dänemark, Schweden und Finnland und zuletzt in die USA) nicht so möglich gewesen, hätten sie es ihm nicht möglich gemacht. Und sie nahmen es hin, für ihn nie DIE Einzige zu sein, selbst neben den im Buch erwähnten Damen gab es sicher noch weitere Liebschaften in Brechts Leben.

Eingeordnet in das allgemeine Zeitgeschehen schreibt Unda Hörner also über Vielecksbeziehungen im Hause Brecht, niemals wertend, immer biografisch-neutral. Wie man als Leser:in dieses Leben finden mag, sei jedem selbst überlassen. Ich fand es interessant, wie dieser „spindeldürre kleine Mann“ so einen Erfolg bei den Damen haben konnte und wie devot diese sich teilweise seinen Lebensvorstellungen unterwarfen. Nur durch sie konnte er das Leben des Lebemannes führen und sie waren diejenigen, die seinen Erfolg erst möglich machten. Alles in allem für mich ein interessantes und informatives Buch, sprachlich ansprechend geschrieben und sehr gut zu lesen. Von mir daher fünf Sterne.