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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 23.11.2023
Mit dem Schnee kommt der Tod
Upson, Nicola

Mit dem Schnee kommt der Tod


sehr gut

In ihrem neunten Fall verschlägt es die Krimiautorin Josephine Tey an die entlegene Küste von Cornwall. Die Tochter von Baron St. Levan lädt an Heiligabend zum Spenden-Dinner auf die malerische Insel St. Michael’s Mount und Josephine mit ihrer Lebensgefährtin sind neben einigen wohlhabenden Spendern ebenso Gast wie Chief Inspector Archie Penrose, dessen Auftrag besonders heikel ist: Er ist zum Schutz des geheimen Ehrengastes abgestellt, der angesichts des drohenden Krieges mit Deutschland auch besonderen Schutzes bedarf. Doch noch bevor alle Gäste auf St. Michael‘s Mount eingetroffen sind, gibt es bereits den ersten Mord und als bald das Wetter umschlägt und die Insel von der Außenwelt abschottet, bekommt der Chief Inspector noch einiges mehr zu tun.

Nicola Upson hat ihren Roman mit großer Sorgfalt recherchiert und man spürt auf jeder Seite, dass sie den Ort und seine Geschichte bis ins Detail kennt. Einige der Protagonisten sind existierende Personen der Zeitgeschichte und ihre Vita wird geschickt mit der Atmosphäre im England kurz vor dem Zweiten Weltkrieg verwoben, wobei sich die Autorin als routinierte Erzählerin erweist, der es gelingt, die unterschiedlichen Charaktere der Gäste und der Angestellten im Schloss sauber durchzuzeichnen und eine nostalgisch-weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Anfangs lässt sich die Geschichte etwas Zeit und bis Seite 100 sind nicht einmal alle Gäste versammelt, aber das hat den Vorteil, dass man sich das „Personal“ gut einprägen kann, denn in Agatha Christie Manier liebt Nicola Upson eine lange Besetzungsliste. Je weiter die Handlung fortschreitet, umso mehr Fahrt nimmt die Geschichte dann auf und in den letzten 30 Seiten prasseln die Neuigkeiten und Wendungen nur so auf den Leser ein. Einige Verbindungen ahnt man bereits, aber Upson zündet geschickt die eine oder andere Nebelkerze, um Verwirrung zu stiften. Ein echter Cosy Krimi aus Cornwall. Gutes Schriftsteller-Handwerk und eine hübsche Lektüre vor dem weihnachtlichen Kamin.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 20.11.2023
STEIDL-WERK No.31: GHOSTS IN THE MACHINE
Chan, Theseus

STEIDL-WERK No.31: GHOSTS IN THE MACHINE


ausgezeichnet

Seit 22 Jahren editiert der Grafiker und Buchkünstler Theseus Chan die Reihe „WERK“, die tatsächlich das deutsche Wort nutzt, obwohl Chan aus Singapur stammt und dort auch lebt. Von den bisher 31 Ausgaben sind 4 bei Steidl erschienen, „Ghosts in the Machine“ ist der aktuelle Band, der in einer intensiven Arbeitsphase in Göttingen entstand. Die räumliche und fachliche Nähe zur Druckerei ist keineswegs zufällig, denn Theseus Chan hat immer schon nach neuen Ausdrucksformen für das Buch gesucht, wobei er gezielt Erwartungen durchbricht und dem Zufall viel Raum gibt. Das „WERK Manifest“ definiert daher den eigenen Schaffensprozess ausdrücklich als nicht zielgerichtet, sondern spontan und abstrakt, wobei in den vorangegangenen Editionen die Spontanität vom Künstler selber ausging und auch wesentlich gesteuert war. Mit „Ghosts in the Machine“ bekommt diese allerdings eine unerwartete Eigendynamik: Als Druckbogen dienen Andruck-Bögen von regulären Steidl-Ausgaben, sogenannte Rüstbögen, die beim Anlaufen der Druckmaschine noch unvollständig oder untersättigt sind und daher verworfen werden. Mit anderen Worten, es ist Papiermüll, der allerdings aus dem gleichen hochwertigem Papier besteht wie die zugehörigen Bücher. Diese Rüstbögen nutzt Theseus Chan wiederum als Druckbogen für seine Grafiken, die nach dem Zufallsprinzip auf die unsortierten Seiten gedruckt werden, so dass jedes Buch individuell, unvorhersagbar und unverwechselbar ist. Die Maschine wird Teil des kreativen Prozesses, ohne dass sie selber Kreativität besitzt. Nicht einmal der Künstler weiß, was letztlich ausgeliefert wird, denn die Seiten sind darüber hinaus auch noch unaufgeschnitten, so dass erst der Betrachter den letzten Schritt vollzieht. Er schneidet die Seiten auf und wird damit ebenfalls Element des künstlerischen Prozesses.

In dieser Radikalität hat Theseus Chan sein eigenes Manifest tatsächlich noch nie umgesetzt, indem er das Paradigma des Buches als identisch reproduziertes Medium von Grund auf in Frage stellt. Der Band besteht aus einem ganzen Konvolut unterschiedlicher Druckerzeugnisse, darunter ein Set mit den roh gefalzten Bögen, sowie einem gebundenen Exemplar mit unterschiedlich farbigen Heftfäden (ein schöner Effekt...), ohne Bucheinband, dafür mit offenem Rücken. Das Buchobjekt weist in seiner rohen Unvollständigkeit somit auch darauf hin, dass der Betrachter den letzten Schritt machen muss, indem er die Seiten aufschneidet. Darüber hinaus umfasst das Konvolut eine Broschüre mit zweifarbigen Zeichnungen Theseus Chans mit dem Titel „Ramblings and Drawings“ und ein Set von 10 Postkarten mit aus dem WERK-Manifest abgeleiteten Konzeptaussagen, die alleine schon durch ihr großes Format ausdrücken, dass sie nur symbolisch als Postkarten dienen können. Die Deutsche Post würde sie zwar nicht transportieren, dafür transportieren sie Botschaften an andere Empfänger.

Antworten auf einige, aber bei weitem nicht alle Fragen zum Entstehungsprozess und dem künstlerischen Konzept erhält man aus dem beiliegenden, monothematischen Steidl-Magazin, aber die offenen Fragen sind wahrscheinlich voll und ganz beabsichtigt. Und letztlich gibt „Leave it to chance“ auch alle Antworten.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2023
Künstliche Intelligenz
Spitzer, Manfred

Künstliche Intelligenz


ausgezeichnet

ChatGPT & Co. sind die Trendthemen des Jahres. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über Künstliche Intelligenz (KI) mit ihren Chancen und Risiken in den Medien berichtet wird. Dabei ist das Thema nicht neu, sondern erst jetzt in der Breite der Gesellschaft angekommen. Manfred Spitzer erklärt in seinem populärwissenschaftlichen Buch allgemeinverständlich, wie künstliche neuronale Netze funktionieren, stellt die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von KI vor und analysiert die Chancen und Risiken dieser Technologie.

Um den Unterschied zwischen KI und gewöhnlichen Algorithmen zu verstehen, werden zunächst die Funktionsweise künstlicher neuronaler Netze erklärt, also wie Neuronenverbände simuliert werden, um ein Gehirn nachzubilden. Das klingt zunächst kompliziert, aber Spitzer beschreibt die Prinzipien einfach und verständlich. Diese Grundlagen sind die Voraussetzung, um KI und ihre Eigenschaften und Fähigkeiten zu verstehen. Daher sollte dieses Kapitel nicht übersprungen werden.

Die folgenden Kapitel zeigen, wo KI heute bereits eingesetzt wird und welche Entwicklungen wir noch zu erwarten haben. Zuerst geht der Neurowissenschaftler anhand von vielen Beispielen aus der Mathematik, Physik, Chemie und Biologie der Frage nach, wie die KI die Arbeit verändert und dabei ist, ein fester Bestandteil der Wissenschaften zu werden. Ein für mich neuer Blickwinkel und hochspannend.

Spitzer nennt aber auch Beispiele aus anderen Bereichen. So beschreibt er, wie die Verbrechensbekämpfung durch KI optimiert werden kann (sehr umstritten: Predictive Policing), wie tote Schauspieler in neuen Filmen wieder zum Leben erweckt werden oder wie bei der Synchronisation die Lippen je nach Sprache nachkorrigiert werden. Spannend fand ich auch die Beispiele zur Wettervorhersage. So gibt es heute bereits Möglichkeiten, Wetterereignisse im Zusammenhang mit dem wichtigsten Klimazyklus El-Niño vorherzusagen – und das bereits 18 Monate im Voraus!
Der Autor wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen der KI (im Gegensatz zu Algorithmen) im Nachhinein möglicherweise nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Systeme lernen ständig dazu und entscheiden auf Basis dieses neuen Wissens. Ohne Regulierung ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Ausführlich geht Spitzer auch auf die militärische Dimension von KI ein und beschreibt, was heute bereits im Einsatz ist und an welchen Technologien und Strategien gearbeitet wird (z.B. autonome Waffensysteme). An diesem Beispiel werden die möglichen Gefahren und Risiken des Einsatzes von KI besonders deutlich. So können fehlerhafte oder unzureichend trainierte KI-Systeme dramatische Folgen haben und unvorhergesehene Systemausfälle zu „Kaskadeneffekten“ führen, die eine unbeabsichtigte Eskalation auslösen. Das Streben nach mehr Sicherheit durch KI führt so im schlimmsten Fall zu mehr Unsicherheit.

Bei allen Ausführungen merkt man, dass Spitzer Wissenschaftler ist. Er zitiert viele Beispiele aus der renommierten Fachzeitschrift Nature, führt im Anhang viel Fachliteratur an und analysiert die Studien sachlich neutral, mit Nennung der Chancen, aber auch der Risiken. Er zeigt, welche Bedeutung lernende Systeme und ihre dadurch erworbenen Fähigkeiten in nahezu allen Lebensbereichen schon jetzt haben und geht der Frage nach, ob die Entwicklung mehr Fluch oder Segen ist. Vor allem: Wie können wird die Gefahr möglicher Bedrohungen durch den Einsatz von KI so gering wie möglich halten? Es bleibt abzuwarten, ob der Geist, den wir aus der Flasche ließen, auch kontrolliert werden kann – ich bin da ziemlich skeptisch, wenn ich mir anschaue, wie wir mit gesellschaftlichen Bedrohungen derzeit umgehen. Wegschauen wird bei der KI auch nicht funktionieren.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.11.2023
Steinzeit in Bayern

Steinzeit in Bayern


ausgezeichnet

„Steinzeit in Bayern“ ist eine inhaltlich sehr umfassende Gesamtdarstellung, die sowohl methodische Grundlagen als auch den aktuellen Stand der Forschung vorstellt. Auch die relevanten Hilfswissenschaften werden herangezogen, sei es in der retrospektiven Klimaanalyse oder bei der geomagnetischen Prospektion, wobei die Prinzipien und ihr naturwissenschaftlicher Hintergrund, sowie die Grenzen der jeweiligen Methodik umrissen werden.
Bevor sich die Autoren im speziellen Teil den Epochen chronologisch widmen, stehen drei übergreifende Kapitel im Fokus: Die steinzeitliche Klimaentwicklung nördlich der Alpen, die Überlieferungsproblematik steinzeitlicher Hominidenfunde in Bayern und die Erkenntnisse zur steinzeitlichen Ernährung, sowie deren zeitliche Entwicklung im Übergang von den Jäger/Sammlergesellschaften zur (temporären) Sesshaftigkeit.
Die chronologische Darstellung im speziellen Teil passt die Kapitelstruktur wohldurchdacht den Aspekten an, die nur in bestimmten Epochen relevant sind. So wird z. B. den Neandertalern im Paläolithikum entsprechend viel Raum gegeben, während die spezialisierte Werkzeugherstellung in den späteren Epochen ins Zentrum rückt. Jedem Kapitel ist eine generalisierte Zusammenfassung vorangestellt, die den regional übergreifenden Kontext berücksichtigt, was im Anschluss anhand von Einzelbeschreibungen von bedeutenden bzw. repräsentativen Fundstätten in Bayern im Detail konkretisiert wird. Am Ende jeden Kapitels findet sich eine Auswahl weiterführender Literatur, die sowohl klassische Publikationen als auch neuere Fachartikel umfasst.

Das zweibändige Handbuch richtet sich dezidiert an ein Fachpublikum und erwartet die Beherrschung des archäologischen, klimatologischen und geologischen Fachvokabulars, wobei allerdings alle Autoren auf eine verständliche und gut strukturierte Darstellung Wert legen. Die sprachliche Homogenität ist angesichts der Vielzahl der Autoren auffällig und lässt auf ein gewissenhaftes Lektorat schließen. Auch kommt es zu relativ wenig Redundanzen, was einer klaren Aufgabenteilung zu verdanken ist. Lediglich Thorsten Uthmeier verwendet durchgehend „gendergerechte Sprache“, was die Lesbarkeit oft deutlich reduziert und aus meiner Sicht auch zu unzulässigen Deutungsverschiebungen führt, da generische Kategorien verwischt werden. Ich bin kein Freund davon, politischen Aktivismus mit wissenschaftlicher Diskussion zu verwechseln, denn das hat in der Geschichte schon oft kein gutes Ende genommen.

Insgesamt ist die fachliche Eindringtiefe und Aktualität der Darstellung sehr überzeugend. Die Autoren erschließen die komplexe Thematik mit großer systematischer Disziplin, wodurch sowohl Zusammenhänge als auch offene und kontroverse Punkte klar herausgearbeitet werden. Die verwendeten Grafiken visualisieren das Gesagte anschaulich, auch wenn die Beschriftungen in einigen Fällen ein wenig klein geraten sind. Die fotografischen Illustrationen sind ebenfalls didaktisch durchdacht und angemessen sparsam eingesetzt. Wer eine umfassende Darstellung zum aktuellen Forschungsstand der steinzeitlichen Archäologie in Bayern sucht, die sowohl Grundlagen als auch Detailwissen vermittelt, wird mit diesen Bänden bestens informiert.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.11.2023
Willkommen im falschen Film
Gruber, Monika;Hock, Andreas

Willkommen im falschen Film


ausgezeichnet

Es ist nicht mehr witzig und wenn man lacht, ist es nur noch die pure Verzweiflung: Wir leben in einem Land, das sich per Dekret selbst verleugnet, dessen Politiker sich durch eine gefestigte Ideologie, aber Null Sachkenntnis in ihrem Metier auszeichnen, in dem Rentner mit dem Wasserwerfer bekämpft wurden, wenn sie in der Öffentlichkeit während Corona keine Maske trugen aber „Demonstranten“, die islamistischen Terror glorifizieren und die Auslöschung von Juden, Schwulen und Christen fordern, unter Polizeischutz ihre Parolen skandieren, oder man Atomkraftwerke, Kohlekraftwerke und Gaskraftwerke gleichzeitig abschaltet, während man die Bevölkerung in die Elektromobilität und zu Wärmepumpenheizungen zwingt. Dabei weiß jeder, der in Physik gut aufgepasst hat, dass unsere bestehenden Leitungsnetze für die benötigte Stromlast völlig ungeeignet sind. Schneeräumen wird dann auch ohne Klimawandel niemand mehr müssen, wenn die Bürgersteige glühen.

Wie die Lemminge stürzt sich eine demagogische Minderheit auf jeden neuen Irrsinn, und wer den Irrsinn beim Namen nennt, ist „rechts“, „rückwärtsgewandt“, „islamophob“ oder ein „alter weißer Mann“, was natürlich weder diskriminierend noch sexistisch ist, weil man alte weiße Männer per Definition nicht diskriminieren kann. Monika Gruber und Andreas Hock sind einige der wenigen Kabarettisten, die es wagen, unsere fehlgeleitete Gesellschaft aus ihrer öffentlich-rechtlichen Scheinrealität zu holen und die Wahrheit aussprechen, für die man an Universitäten mittlerweile gesteinigt wird. Das betreute Denken in den Medien hat ein Ausmaß angenommen, dass es schon peinlich wird und man sich fragt, in welcher Blase diese „Kultur“-Menschen leben.

„Willkommen im falschen Film“ kommt gerade rechtzeitig und auch wenn mein roter Kopf beim Hören weniger durch Lachen als durch hohen Blutdruck ausgelöst wurde. Pointiert formulieren können die beiden ja, wie wir alle wissen, aber die neuen Beispiele für ideologische Regulierungswut, Scheuklappendenken, Cancel Culture (ich glaube, niemand bezweifelt mittlerweile mehr, dass es die gibt) und Messen mit zweierlei Maß sprengen jede Dimension. Vor 10 Jahren hätte ich gesagt, so etwas gibt es nur in lupenreinen Diktaturen, aber wie heißt es so schön: „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlachter selber“. Es geht also auch in Demokratien, wenn man nur blöd genug ist. Wir geben ein jämmerliches Bild ab und die lupenreinen Diktatoren auf der Welt reiben sich die Hände. Ihre Saat geht gerade auf, und selbst wenn Gruber/Hock am Ende noch Hoffnung verbreiten, müssen wir langsam aufwachen und uns von liebgewonnenen Ideologiemärchen trennen, bevor es zu spät ist.

Ich wünsche den beiden Autoren, dass „Willkommen im falschen Film“ genauso erfolgreich wird wie „Erlöse uns von den Blöden“ und hoffe, dass die Demokratie dank ihrer Mithilfe am Ende noch mal mit dem Leben davonkommt. Gut sieht es derzeit leider nicht aus.

15 von 16 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.11.2023
China, das Land von Reis und Opium
Yablonska, Sofia

China, das Land von Reis und Opium


ausgezeichnet

Als Sofia Yablonska 1935 nach Ostasien aufbricht, hat sie eine schwere Last im Gepäck: Ihr sehr erfolgreicher Reisebericht über Marokko, der 1932 erschien, schuf eine hohe Erwartungshaltung beim Publikum und daher musste sie in China mit außergewöhnlichen Zielen locken. Yablonska reiste nach Yunnan, das in dieser Zeit des Bürgerkriegs alles andere als ruhig war. Außerhalb der Hauptstadt Yunnan-fu (heute Kunming) benötigte sie Begleitschutz und die Bevölkerung war ihr äußerst feindselig gesonnen. Unter diesen Bedingungen journalistisch tätig zu werden, war eine Herausforderung. Wer nun glaubt, dass sie als Frau besonders gefährdet war, irrt. Gerade dieser Umstand bot ihr einen gewissen Schutz, weil man sie nicht als direkte Bedrohung ansah und so gelangen ihr Ausflüge in die Umgebung, die Reporter vor ihr nicht überlebt hatten.

Ich interessiere mich seit langem für frühen Tourismus und frühen Reisejournalismus, wobei ich festgestellt habe, dass die Berichte von Frauen meist lebendiger sind und vor allem die „Realität des Reisens“ mit seinen Hindernissen und alltäglichen Mühen wesentlich besser beschreiben. Männer neigen in dieser Zeit viel mehr dazu, sich als Held zu stilisieren. Wie man an Nahrung und Unterkunft kommt, ist für sie meist unerheblich, weil man dafür Untergebene hat, die der Erwähnung nicht wert sind, dabei ist es genau das, was mich persönlich und aus heutiger Sicht am meisten interessiert. Die Sehenswürdigkeiten und Landschaften sehen heute noch weitgehend genauso aus, die Umstände haben sich dagegen geändert.

Sofia Jablonska ist erstaunlich ehrlich, wenn sie zugibt, das sie gezielt „Abenteuer“ sucht, die ihr die eingeschränkte räumliche Beweglichkeit erlauben. So geht sie z. B. auf Expedition zu den „Banditen“, die den Erzählungen nach die Umgebung von Yunnan-fu unsicher machen, die Filmkamera immer in Bereitschaft. Eine gewisse Sensationslust spielt immer mit, denn sie weiß, was ihre Leser und Zuschauer (sie ist auch im Auftrag einer ostasiatischen Filmgesellschaft unterwegs) von ihr verlangten. Mit Humor und einer Prise Selbstironie berichtet sie von Begegnungen mit Menschen und von deren Lebensbedingungen, die sie schonungslos schildert. Völlig unangebracht finde ich die Kritik Juri Andrchowytschs im Vorwort, dass sie teilweise eurozentrische und rassistische Formulierungen wählt, was ganz und gar nicht ihrer inneren Haltung entspricht. Jablonska ist den Einflüssen der westlichen Zivilisation gegenüber sehr kritisch und sie wird auch ständig Opfer rassistischer und teilweise gewalttätiger Übergriffe durch die Chinesen. Das erwähnt Andrchowytsch im Gegenzug nicht, aber manche Menschen streiten heute ja sogar ab, dass es Rassismus gegen Weiße überhaupt geben kann. Jablonska ist Opfer und nicht Täterin.

Ihr Stil ist sehr anschaulich und richtet sich weder an ein politisch interessiertes „Fachpublikum“ noch kann sie tief in die abgeschottete chinesische Gesellschaft eindringen. Dennoch schildert sie das tägliche Leben mit viel Mitgefühl und ihren täglichen Kampf mit der Bürokratie und den Knüppeln, die ihr die Hilfskräfte gerne in den Weg legen, mit Humor. Sie sieht sie nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung. Auch körperliche Strapazen erträgt sie mit Gleichmut, wenn es am Ende etwas Interessantes zu berichten oder zu filmen gibt, wobei sie eine Mischung aus kultureller Anpassung und Sturköpfigkeit an den Tag legt, die ihr meistens Erfolg bringt.

„China, das Land von Reis und Opium“ ist kein politischer Journalismus im klassischen Sinn. Auch wenn Sofia Jablonska ihre Sympathie für die Exotik ihres Reiseziels klar zum Ausdruck bringt, liefert sie wenig politische Hintergrundinformationen und konzentriert sich stattdessen auf die Schilderung des Alltags und ihrer persönlichen Erlebnisse. Das ist aber aus heutiger Sicht mindestens ebenso spannend.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 09.11.2023
Frozen Planet - Eisige Welten 2
Attenborough,David (Presenter)

Frozen Planet - Eisige Welten 2


ausgezeichnet

Nach 11 Jahren kehrt die BBC in die Kälte zurück. Mit unvorstellbarem Aufwand haben mutige Kameraleute zwischen Arktis und Antarktis nie gesehene Bilder eingefangen, von nächtlichen Pumajagden in den Anden, über phantastische Kathedralen im Gletschereis, bis hin zu Schwertwalen, die im Südatlantik mit einer einzigartigen Technik Robben nachstellen. Ohne hochspezialisierte Drohnen geht hier gar nichts mehr, dafür besitzen die Bilder aber auch eine bisher unerreichte Qualität. Die Perfektion erreicht locker Kinoniveau, nur dass man hier die Hauptdarsteller nicht bitten kann, eine Szene zu wiederholen. Jeder Moment ist einmalig, ob das nun das Abbrechen eines 30 Stockwerke hohen Gletschers ist, oder der erste zaghafte Sprung einer Jungrobbe ins Meer, das einmal sein Element werden wird.
Nach 11 Jahren hat sich unsere Erde bereits so stark verändert, dass der Klimawandel zum durchgehenden roten Faden bei fast allen Themen wird. Gerade die Tierwelt der Kältezonen ist so stark an ihren Lebensraum angepasst, dass schon kleine Änderungen existenzgefährdend werden können. Doch auch wenn die Autoren noch so sehr drängen, ihre Hoffnung, die Menschheit würde noch rechtzeitig die Kurve bekommen, ist leider vergebens. In einer Welt, deren Bevölkerung weiter wächst, als gäbe es drei Erden, ist der Klimakollaps leider unvermeidlich, da können wir Autos verbieten und Kraftwerke abschalten wie wir wollen.
Sehenswert ist auch das umfangreiche Making-of, das zeigt, was man als Zuschauer schon ahnte: Für wenige Sekunden Film haben die Kameraleute teilweise Monate in bitterer Kälte verbracht. Dafür bekommen wir Szenen gezeigt, die wahrscheinlich schon in einigen Jahrzehnten für immer verschwunden sein werden.

Wer die Möglichkeit hat, sollte den Originalton von David Attenborough einschalten. Der Mann ist mittlerweile 97 und hat eine sichere Stimme und saubere Aussprache wie ein Vierzigjähriger. Außerdem spricht er ein lupenreines und elegantes Englisch, das wirklich Spaß macht, zu hören.

(Diese Blu-ray wurde mir von Polyband kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.11.2023
Gesammelte Werke
Lovecraft, Howard Ph.

Gesammelte Werke


ausgezeichnet

Die Ausgabe versammelt 20 Erzählungen H. P. Lovecrafts, es ist also eine Auswahl, keine Komplettausgabe. Unter diesen sind auch die wichtigsten Erzählungen aus dem Cthulhu-Mythos, also „Cthulhus Ruf“, „Das Grauen von Dunwich“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Die Berge des Wahnsinns“, „Schatten über Innsmouth“ und “Das Ding auf der Schwelle“. Da Lovecrafts Urheberschutz abgelaufen ist, sind seine englischen Werke gemeinfrei, nicht jedoch die meisten der Übersetzungen, weshalb immer wieder neue auf Deutsch erscheinen.

Die Übersetzung von Florian F. Marzin hält sich eng an das englische Original und scheint nicht zu kürzen, was bei vielen anderen Übersetzungen der Fall ist. Dadurch treten allerdings auch ein paar erzählerische Schwächen von Lovecraft zutage, z. B. die exzessive Verwendung von relativ stereotypen Adjektiven. Für jedes „schrecklich“ 10 Cent und jedes „dumpf“ einen Groschen und man kann sich zur Ruhe setzen.
Allerdings muss man auch feststellen, dass gerade diese Auswahl die besseren Geschichten versammelt, die eine ganz eigene Atmosphäre des Grauens verbreiten und damit Vorbild für viele Nachfolger waren (und immer noch sind). Lovecrafts Erfindungsreichtum ist absolut erstaunlich und wenn man bedenkt, in welcher Zeit die Geschichten entstanden, kann man sie sogar visionär nennen. Eine ganze Kategorie von Horror- und Science-Fiction-Filmen ist ohne Lovecraft gar nicht vorstellbar.

Für eine Neuübersetzung ist der umfangreiche und solide produzierte Band geradezu unschlagbar günstig. Ob es noch weitere Bände geben wird, ist aus der Bibliografie oder dem Titel nicht zu erkennen, wäre aber nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 31.10.2023
Um 1500
Schmitz-Esser, Romedio

Um 1500


ausgezeichnet

Albrecht Dürer lebte am Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit. Geboren noch bevor Christoph Columbus die neue Welt entdeckte, ungefähr zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks, wurde Dürer noch Zeuge der Reformation und bedeutender gesellschaftlicher Veränderungen. Er war weit gereist, wohlhabend und in seiner Heimatstadt exzellent vernetzt. Romedio Schmitz-Esser hat diese Konstellation als Aufhänger für seine Kulturgeschichte „Um 1500“ genutzt und das Konzept geht sehr gut auf. Aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht er den Alltag, die Ansichten und Lebenswirklichkeit der Menschen dieser Zeit, wobei der Untertitel „Europa zur Zeit Albrecht Dürers“ vielleicht ein wenig zu weit greift. Es werden vor allem die deutsch(sprachig)en Verhältnisse dargestellt, die Verbindungen ins restliche Europa und auch darüber hinaus werden eher durch Handelskontakte, Reisen und Korrespondenz nachgezeichnet. Die durchaus abweichenden Ansichten und gesellschaftlichen Entwicklungen werden nur insofern betrachtet, als sie für Dürers Realität von Bedeutung sind.

Den einzelnen Kapiteln wird jeweils ein Werk Dürers vorangestellt, dass einen direkten Bezug zum Thema hat. Ausgehend von der Ikonografie oder dem Entstehungsprozess des Bildes arbeitet sich der Autor von der spezifischen Situation Dürers zu allgemeineren kulturgeschichtlichen Aspekten vor, die er auch geschickt mit vorangegangenen Kapiteln verbindet. So tauchen bestimmte Personen aus Dürers Umkreis immer wieder auf und erlauben es z. B. in verschiedenen sozialen Schichten einzutauchen. Dass Schmitz-Esser statt dem korrekten Wort „Geschlecht“ konsequent das politisch mittlerweile reichlich entzauberte Wort „Gender“ verwendet, ist mir unangenehm aufgefallen, aber ansonsten bleibt wokes Gedankengut weitgehend im erträglichen Bereich. Selbst Themen wie „Afrika“ und „Antisemitismus“ werden sachlich, ohne zu aufdringlichen Erziehungspathos diskutiert und bringen unerwartete Fakten zutage.

Das Buch liest sich aufgrund des eingängigen Stils flüssig und die sauber strukturierten Kapitel sind sowohl in sich abgeschlossene Einheiten als auch in einen größeren Kontext gesetzt. Sehr gut gefallen haben mir die anschaulichen Beschreibungen aus dem Alltag Dürers, wie er seine Geschäfte führte, die wichtige Rolle, die seine Frau dabei spielte, aus welchen sozialen Schichten er stammte und in welchen er verkehrte, oder wie Religion und Sexualität wahrgenommen wurden. Von der Wiege bis zur Bahre wird Dürers Leben nachgezeichnet, aber eben nicht als isolierte Biografie, sondern eingebunden in eine komplexe Gesellschaft, die die Grundlage unserer Gegenwart ist. Nur wer seine Wurzeln kennt und nicht kappt, kann die Zukunft gestalten. Das gerät leider derzeit völlig in Vergessenheit.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2023
Arm in Rom
Weeber, Karl-Wilhelm

Arm in Rom


gut

Aus keiner antiken Zivilisation gibt es so viele und detaillierte Schriftzeugnisse wie aus der römischen, nur haben sie ein strukturelles Problem: Es sind zum großen Teil Zeugnisse der Oberschicht, die nur etwa 10 % der Gesamtbevölkerung stellte. Deren Werte, Ansichten und Lebenswelten erfahren wir aus den Briefen Ciceros oder Plinius‘ und selbst die klassischen Romane handeln nur insofern vom Prekariat, als dass man sich über die Armen lustig machte.
Karl Wilhelm Weeber hat bereits mehr als 30 Bücher über verschiedene Aspekte des römischen Alltags verfasst, von denen ich auch einige gelesen habe. Weebers Stil ist kurzweilig und er schöpft aus einem soliden altphilologischen Fundus, den er durch zahlreiche Originalzitate und -auszüge in seinen Beiträgen verwertet, wodurch die Menschen ihrer Zeit direkt zum Sprechen gebracht werden. „Arm in Rom“ folgt diesem Prinzip, diesmal vor dem Hintergrund des römischen Prekariats, wobei Weeber als eine der ersten Fragen klärt, was ein Römer unter „arm“ eigentlich verstand. Schon das Wort „pauper“, das man vielleicht noch aus dem Schullatein kennt, führt in die Irre, denn die Römer nutzten eine sehr differenzierte Abstufung von Armutsgraden, um die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht zu beschreiben. Weeber betrachtet jede von ihnen im Licht der erhaltenen Literatur, aber auch der Erkenntnisse aus der Archäologie.

Was mir diesmal unangenehm auffiel, ist Weebers apodiktischer Vorwurf, dass in der Öffentlichkeit das Bild „des normalen Römers“ nur durch die Lebenswirklichkeit der Oberschicht geprägt würde: Mit Toga und prächtigen Villen, mit Haussklaven und Reden auf dem Forum. Das mag in Weebers Jugend vielleicht so gewesen sein, neuere Fernsehserien, aktuelle populärwissenschaftliche Darstellungen und natürlich die Fachliteratur der letzten 20 Jahre haben das Bild längst und sehr gründlich revidiert. Vieles von dem, dass Weeber sich noch als persönliche „revolutionäre Ansicht“ auf die Fahne schreibt, ist heute Mainstream. Dass er vielleicht nicht mehr ganz den Anschluss an die Gegenwart hat, erkennt man auch daran, dass er sich auf den ersten 20 Seiten noch krampfhaft um geschlechtergerechte Sprache bemüht, bis ihm dann die „Römer und Römerinnen“, „Sklavinnen und Sklaven“, „Arbeiterinnen und Arbeiter“ wohl auf den Nerv gingen und er in der Folge darauf verzichtet. Dadurch wird die Geste endgültig als Anbiederung erkennbar. Auch sind Formulierungen der Art, dass es sich bei einem Text Juvenals „um eher ‚rechte‘, rückwärtsgewandte, als um ‚linke‘, progressive Kritik“ gehandelt habe (S. 22) von bemerkenswerter gedanklicher Schlichtheit. Diese grundsätzliche Haltung durchzieht leider das ganze Buch, indem sie die soziale Wirklichkeit Roms schablonenhaft vor dem moralischen Anspruch der Gegenwart wertet. Es wäre wesentlich sinnvoller, wenn der Autor nicht ständig den Oberlehrer spielte, sondern dem Leser die Schlüsse selbst überließe, denn dafür braucht man keine Anleitung zur gefestigten revolutionären Einstellung. Die Lebensumstände des römischen Prekariats waren desaströs und man sollte sich eher die Frage stellen, warum dieses gesellschaftliche Unterdrückungssystem fast 1000 Jahre lang grundsätzlich stabil blieb. In Ansätzen wird das auch im Buch diskutiert, aber mir schien, dass Weeber die Antwort nicht angenehm war, denn er arbeitet sie weit weniger heraus als seinen vermeintlichen Beitrag zur wahrheitsgemäßen Darstellung des „normalen“ römischen Lebens. Aber dass dieser Beitrag imaginär ist, habe ich ja bereits erwähnt.

Das Buch ist bei aller Kritik, die sich aber nur gegen die aufdringliche moralische „Erziehung“ des Lesers wendet, inhaltlich völlig korrekt, mit zahlreichen, interessanten Belegen aus Literatur und Epigrafik, und es zeichnet ein sehr detailliertes Bild der verschiedenen Armutsschichten und ihrem Alltag unter verschiedenen Aspekten. Es ist interessant, aber nicht unbedingt revolutionär.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)