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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 05.08.2008
Die vierte Hand
Irving, John

Die vierte Hand


sehr gut

John Irving wird von skurrilen Geschichten angezogen. Nicht zuletzt war es Grass Oskar Matzerath, der ihn zu Garp inspiriert hat. Dass eine fehlende Hand, zumal von einem Löwen aufgefressen, die Spannung in einem knapp 420 Seiten langen Roman aufrechterhält, verdankt Irving dem Umstand, dass bei Transplantationen die Mär umgeht, der Gerettete könne sich womöglich etwas von seinem Vorbesitzer einfangen. Darauf beruhen Slapstickkomödien, wie Tragödien. Einmal taucht der Verstorbene als Geist auf, einmal beginnt der implantierte oder angenähte Körperteil ein Eigenleben. Irving verknüpft ein Besuchsrecht damit. So als spende der Gedanke Trost, die Hand ab und zu schütteln zu dürfen. Während der Verstümmelte Patrick Wallingford seine Aufgabe darin sieht, Frauen Trost zu spenden, entwickelt Irving ein groteskes Spiel um Verlust und Erotik, um die Verlagerung und das Leben nach einem Schicksalsschlag. Dass er dies auf seine bewährt humorvolle Art schafft, Chirurgen als geschädigte, vor Ehrgeiz brennende Außenseiter zeichnet, vor Augen führt, wie es so um die Nachrichtenwelt steht, ist äußert unterhaltsam. Wer hätte etwas anderes von Irving erwartet.
Polar aus Aachen

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2008
Was treibt Sammy an?
Schulberg, Budd

Was treibt Sammy an?


ausgezeichnet

Sammy. Allein der Name. Und dann auch noch Glick. Der Ich-Erzähler begegnet ihm in New York, in einer Redaktion, bei der sich Sammy als Mädchen für alles verdingt. Doch bald schon fällt er auf, weil er seinen Vorteil zu wahren versteht. Und sei es, indem er die Kolumne des Ich-Erzählers zu Ende schreibt. Und das auch noch so gut, dass er weiter schreiben darf. So stellen sich nach kurzer Zeit viele Menschen, denen Sammy begegnet, die Frage, wie macht der das? Warum kennt er keinen Skrupel? Warum erscheint sein Aufstieg so unabänderlich? Es ist die Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär. Man muss viel von einem Sammy Glick mitbringen, damit einem dieser Aufstieg gelingt. Natürlich hat das auch seinen Preis, aber der schreckt nur jene ab, die nicht bereit sind, ihn zu zahlen. Und so bleibt der Ich-Erzähler Sammys einziger Freund, weil der nie etwas von ihm verlangt, ihm die Wahrheit des Öfteren ins Gesicht gesagt hat. Selbst als er hinter das Geheimnis von Sammy Familie kommt, stellt er nicht bloß. Der Ich-Erzähler hingegen würde Sammy nicht unbedingt zu seinen Freunden zählen wollen, er fühlt sich ihm moralisch überlegen. Egal ob es um die Gründung einer Autorengewerkschaft, dem Umgang mit einem Studioboss oder mit einem ausgebeutetem Ghostwriter geht, Sammy läßt es stets so aussehen, als habe er nur das Beste gewollt. Eine amerikanische Geschichte, die genauso gut in Europa spielen könnte. Wer sie weit von sich weiß, war nie in der Situation Karriere auf Kosten anderer zu machen. Es gibt weniger Menschen, die davor zurückschrecken, als jene, die darin die Gunst der Stunde erkennen. Budd Schulberg hat ihnen allen ein faszinierendes literarisches Denkmal gesetzt.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 28.07.2008
Der Reinfall
Hiaasen, Carl

Der Reinfall


sehr gut

Da denkt ein Mörder zu Anfang, er hätte einen genialen Plan, und doch weiß der geübte Krimileser, dass so ein Mord nur in den seltensten Fällen gut ausgeht. Carl Hiassen strickt um Joey und Chaz Perrone einen raubeinigen Plot, wo ein Ehemann seine Frau loswerden will, mit ihr auf Kreuzfahrt geht und sie über Bord wirft. Allerdings überlebt sie und sinnt auf Rache. Obwohl der Mann beim Testament nicht bedacht ist, sein Motiv auf einem gefälschten Gutachten beruht, sieht er plötzlich wie ein reicher Mann aus und wird erpresst. Dass Joeys Retter ausgerechnet ein ehemaliger Cop ist, die Geliebte des Mordwilligen für Chaz arbeitet, somit viele Klischees bedient werden, stört überhaupt nicht. Der Beinahe-Mord dient dem Amüsement und zieht Mordabsichten nach sich. Der Humor des Autors erinnert an Tom Sharpe, ist zu einem überraschenden, das Verbrechen in sich selbst auflösenden Ende fähig. Tote Ehefrauen, die lebenden Ehemännern begegnen, Geliebte, die angeschossen werden und bei Beerdigungen auftauchen, Krokodile, die auf einen warten, es handelt sich um gewitztes Spiel mit dem Genre. Hier kommt es weniger auf den Suspense als auf die Komödie an.
Polar aus Aachen

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Bewertung vom 28.07.2008
Tote kennen keine Gnade
Spillane, Mickey

Tote kennen keine Gnade


ausgezeichnet

Wer sich auf Mickey Spillane einläßt, weiß zumeist, was ihn erwartet. Im Mittelpunkt steht ein Mord, um den sich Mike Hammer und seine Crew aus bewährten Charakteren versammeln. Der Mann ist hart, der Mann scheut die Auseinandersetzung nicht, und obwohl der Plot handwerklich gut gestrickt ist, verfängt er vermutlich nur bei Fans, die ein Sequel als etwas auffassen, wo sie Bekannten begegnen und einen besonderen Reiz aus der Variation des bereits Erzählten ziehen. Diesmal wird ausgerechnet in Hammers Büro ein Mann ermordet und zu allem Übel wird auch noch seine Sekretärin so schwer verletzt, dass sie in ein Koma fällt. Hinter allem steckt Penta. Der Staat mischt sich ein, will Hammer aus dem Fall haben, eine Staatsanwältin hegt präsidiale Träume und durch alles schreitet Hammer mit gewohnt bissiger Eleganz, der Lösung entgegen. Mickey Spillane hat diesen Krimi nach langer Pause verfaßt. Für Fans ein Muss, für andere die Begegnung mit einer Legende.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 28.07.2008
Die Asche meiner Mutter, Sonderausgabe
McCourt, Frank

Die Asche meiner Mutter, Sonderausgabe


ausgezeichnet

Manche Erinnerungen sind so schrecklich, dass man sie nicht aufschreiben vermag. Doch manch eine Kindheit überlebt man nur, indem man Worte für sie finden, sie wieder aufleben läßt, um sich zu vergewissern, was war. Frank McCourts Erinnerungen kommen wie ein Roman daher, und hat man sich in dem Schrecken erst einmal verbissen, hofft man auf ein Wunder, dass es enden möge. Doch dem ist nicht so. In all der Düsternis blitzen trotzdem immer wieder glücklichere Momente auf, als gelte es, Mut vor dem nächsten Schlag zu schöpfen, den das Schicksal für einen bereithält. Das Irland, das Frank McCourt beschreibt, ist bitterarm. Es gibt zu wenig Arbeit, Unterkünfte, in denen bei Regen das Wasser steht, im Winter fehlt es an Brennholz, an Essen sowieso und der Vater säuft. Es ist McCourts Verdienst, dass kein Hass in dem Roman aufkommt. Wut allemal. Zorn. Aber auch Liebe. Schonungslos werden die Zustände beschrieben, niemand an den Pranger gestellt. Selbst Malachy, der Vater, singt gelegentlich Lieder, erzählt von der Freiheit, bevor er seine Kinder wieder strammstehen und sie versprechen läßt, für Irland zu sterben. Ist die Hoffnung erst Mal am Ende, helfen nur noch Träume weiter. Es gibt ein Überleben, sagt dieses Buch, wenn man sich nicht aufgibt. Die stärksten Bäume brechen unter Schneelasten zusammen und sitzt die Krankheit erst im Herz fest, gibt es kein Entrinnen mehr. Die Mutter, Angela, hält die Familie zusammen, trägt das Elend, versucht den Kindern das Notwendigste zu geben. Das läßt sich alles nur mit Humor ertragen. Frank McCourt besitzt eine Menge davon. Sein Lachen ist nie verstummt. Er hat seine Familie mit Worten geehrt. Manchmal packt einen das Leben im Genick und schüttelte einen solange durch, bis es genug von einem hat. Dann ist es an der Zeit, davon zu erzählen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 24.07.2008
Fatal Error
Ridpath, Michael

Fatal Error


ausgezeichnet

Im Bereich Wirtschaftsthriller macht Michael Ridpath so leicht niemand was vor. In Fatal Error webt er die Geschichte von vier Menschen, die sich über Jahrzehnte immer wieder über den Weg laufen und deren Schicksale durch einen frühen Mord in Frankreich aneinander geknüpft zu sein scheinen, geschickt in die Welt des Internets ein. Ninetyminutes.com soll zur marktbeherrschenden Fußballwebsite Europas aufgebaut werden. Dazu braucht man Geld. Eine Menge Geld, bevor man mit E-Commerce selber welches verdienen kann. Akribisch beschreibt Ridpath die Rahmenbedingungen eines Start-Ups, wie Venture-Kapitalisten ein- wie aussteigen, wie Börsengänge im Hype Millionen versprechen und dann wie Seifenblasen zerplatzen. Doch eigentlich beschreibt Ridpath die Geschichte einer Freundschaft. Guy und David durchleben gemeinsam Höhen und Tiefen und sind gleichsam von dem Traum fasziniert, etwas Eigenes zu schaffen. An ihrer Seite zwei Frauen, von der Mel wie ein Anhängsel gehalten wird, und Ingrid die selbstständige Geschäftsfrau gibt, die sich um Dschungel des Internets und der Presselandschaft zu behaupten versucht. Über allem Tony, Guys Vater und rücksichtsloser Geschäftsmann, der die Gesetze des Marktes stets zu seinem Vorteil ausgelegt hat. Dass er gleich zu Anfang stirbt, die Geheimnisse im Verlauf auf unterschiedlichen Zeitschienen enträtselt werden, die sich teilweise überschneiden, indem Ridpath zwischen 1987 und 1992 oder noch später springt, dient der Spannungsteigerung und erweist den Autor als einen Erzähler, der genau das weglässt, was ein Leser unbedingt herausfinden will. Gegen Ende glaubt man, den Drahtzieher und Mörder hinter allem zu kennen, doch Ridpath überrascht seine Leser einmal mehr mit einer letzten Wendung. Selten wurde aus der Mitte der Wirtschaft so spannend von dem erzählt, was die Konjunktur am Laufen hält, Börsenkurse erzittern läßt.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 24.07.2008
Jedermann
Hofmannsthal, Hugo von

Jedermann


gut

Der Jedermann ist was für Katholiken, für Reumütige, für Ausrufer zum Maßhalten, für Idealisten, für uns alle. Seine Fabel ist so eindeutig, dass kaum Platz bleibt, um einem inneren Geheimnis auf die Spur zu kommen. Der Reiche nimmt sich die Freiheit heraus, sein Leben in vollem Maße zu genießen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne die jährliche Überweisung an UNICEF. Er ist ein Egoist, ein Spaßmacher, einer, der nicht ans Sterben denkt, bis ihn der Tod heimsucht. Dieses Stück liest sich wie ein erhobener Zeigefinger, mahnt zur Einkehr, mahnt zum sozialen Bewusstsein. Deswegen ist es so beliebt. Ein Stück wie ein Meßgang. Deswegen tauschen sie in Salzburg nur die Schauspieler aus und suchen nach großen Namen für die Besetzung. Und deswegen ist es in seiner Wirkung auch so beschränkt. Schlägt man das Buch zu, geht man aus dem Zuschauerraum, darf sich jeder als guter Mensch fühlen. Wer traut sich schon zu, sein Leben so wegzuwerfen? Ja wenn man das Geld hätte, sagen die einen. Ja, wenn man noch so jung wäre, die anderen. Irgendwann ereilt doch jeden die Läuterung, oder? Während sich um einen herum, jeder das nimmt, was er braucht. Mag der Tod nur kommen. Er meldet sich sowieso nicht an.
Polar aus Aachen

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.07.2008
Day
Kennedy, A. L.

Day


gut

Der Krieg mag für alle verlockend sein, die mit ihrem Leben wenig anzufangen wissen. Es gilt Siege zu erringen, Länder zu unterwerfen, Auszeichnung zu erhalten und Befehlen zu gehorchen, um sich selbst unter widrigen Umständen zu bewähren. Man wird geradezu getrieben, der eigenen Lethargie zu entfliehen. A. L. Kennedy zeichnet das Leben von Alfred Day nach, dem der Krieg gar nicht so ungelegen kommt. Er findet Kameradschaft, Liebe, alles, was das Leben so aufregend macht. Doch A. L. Kennedy verschweigt nicht die Schattenseiten eines Krieges, die Angst vor der Bombardierung, die Neurose nach dem Abwurf. Obwohl Day als Heckschütze nicht für die Bombardierung der Zivilbevölkerung direkt verantwortlich ist, ist er ein Teil des Räderwerks und gelangt unvermittelt durch die Gefangenschaft auf die Schattenseite. A. L. Kennedy taucht in die Psyche eines Mannes ab, lotet sein Empfinden wie sein Denken aus. Sie begibt sie literarisch in eine Männerwelt, um Fragen zu beantworten, wie z.B.: Warum Männer auf Knopfdruck funktionieren? Dabei entsteht ein gleichförmiger Erzählfluss ohne Höhen und Tiefen. Das Urteil über Day ist längst gefällt, er selbst in sich so gefangen, dass er nicht ausbrechen kann. Auch hier begegnen wir wieder der eisigen Welt menschlicher Beziehungen, die wir schon aus anderen Romanen Kennedys kennen. Ihre Figuren scheinbar von allem losgelöst, drängen aufeinander zu, ohne zu wissen, wie sie es anstellen sollen. Das Buch fordert einem Leser alles ab. Days Leben erscheint bleiern. Atmosphärisch sicher richtig, nur erschwert es einem den Zugriff.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 17.07.2008
Ich gehe jetzt
Echenoz, Jean

Ich gehe jetzt


sehr gut

Ist man mit dem alten Leben erst einmal nicht mehr zufrieden, verfällt man leicht den Verlockungen eines anderen. Bei einem Kunsthändler dürfte es nicht unbedingt das bürokratische Einerlei sein, eher schon eine Ehe, die sich in betonierten Flussläufen bewegt. Felix Ferrer jedoch ist ein Abenteurer, ihn zieht es nicht zu einer Frau sondern gleich ins Packeis. Wer vor eine solche Wahl gestellt: Ich gehe jetzt sagt, besitzt nicht nur eine Portion Mut, vielmehr auch die notwendige Blindheit vor der Gefahr und kann nicht anders, als unbedingt nach prähistorischen Kunstschätzen zu suchen. Echenoz gelingt auf knapp 180 Seiten ein Kabinettstück. Mit leichter Feder ist sein Ausbruch gestrickt. Nicht die Seelenqualen stehen im Mittelpunkt, vielmehr, dass das Leben noch etwas zu bieten hat. Äußerst kurzweilig weiß er, von den Kapriolen Ferrers zu berichten und läßt den Leser mit einem Augenzwinkern zurück: Ferrer hat wenigstens was erlebt!
Polar aus Aachen