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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 26.04.2022
Eine runde Sache
Gardi, Tomer

Eine runde Sache


weniger gut

Absolut keine runde Sache

Als Gewinner ist Tomer Gardi mit seinem Roman «Eine runde Sache» die große Überraschung der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Erstmals wurde hier auch ein Buch prämiert, dessen etwas umfangreicherer zweiter Teil auf Hebräisch geschrieben wurde und den man folglich nur in Übersetzung lesen kann. «Mein Grundkonzept hinter diesem Roman war, dass ich wissen wollte, wie unsere Sprachen unsere Fantasie beeinflussen» erklärte der Autor dazu. Die Jury sprach euphorisch von einem «Feuerwerk der Einbildungskraft», das «ebenso dreist wie kunstvoll mit den Lesegewohnheiten spiele». Es fragt sich nur, inwieweit dieses feuerwerkartige Spiel auch diejenigen erfreut, auf deren Kosten es geht, die überraschten Leser nämlich.

«Ein Mann rutscht auf eine Scheibe Salzgürke aus, stürzt nieder auf seiner Arsch», beginnt slapstickartig und in ‹Broken German», dem für den Autor typischen Migranten-Deutsch, der erste, vom Museumswächter Tomer Gardi erzählte Teil des Romans. Er wird auf eine Yacht eingeladen, landet aber überraschend im Wald auf einer Jagd, bei der er selbst der Gejagte ist, der bissige Schäferhund Rex ist hinter ihm her. Es gelingt ihm, Rex zu überrumpeln und ihm die «Portable Vagina» über die Schnauze zu ziehen, die er gestern Abend in einem Pissoir aus dem Automaten gezogen hat. Der Hund protestiert wütend, Tomer aber tut so, als habe er ihn nicht verstanden. «Dü Plüstükfützü! Nüm sü jützt vün münür Schnützü rüntür!» «Das ist keine Plastikfotze, Rex. Das ist dein Maulkorb» antwortet Tomer. «Ürzühl mür kün Schüß!» Wie bei den Bremer Stadtmusikanten schließt sich ihnen bald auch der tote Erlkönig an, der nur in altmodischen Reimen spricht. Im allegorisch benannten Bad Obdach versucht das hungrige Dreigespann durch Singen etwas Geld zu verdienen, wird bald schon von einer freundlichen Oma (oder Hexe?) zum Essen eingeladen und erlebt schließlich auch noch die Sintflut. Es gelingt aber nur Tomer Gardi, sich auf die Arche Noah zu retten, ehe er am Ende wieder auf den Intendanten trifft, der am Anfang auf der «Salzgürke» ausgerutscht ist.

Im zweiten, stilistisch konventionellen Teil des Romans wird die Geschichte des realen indonesischen Malers Rahden Saleh von der Insel Java erzählt, der im 19ten Jahrhundert zur Ausbildung nach Europa reiste, schnell berühmt wurde und in den höchsten Kreisen verkehrte. Als er auf Wunsch des Königs Jahrzehnte später in die niederländische Kolonie zurückkehren musste, war er dort als Einheimischer plötzlich nicht mehr privilegiert und erlebte einen bitteren sozialen und künstlerischen Abstieg. Diese gut recherchierte Lebensgeschichte bietet historisch aufschlussreiche Details aus der Kolonialzeit, wobei die Leser aber mit einer Fülle von Figuren konfrontiert werden, von denen die meisten nie etwas gehört haben dürften. Das trägt nichts zur Sache bei, sondern stört nur den Lesefluss!

Im Grunde sind es zwei Romane, die man da liest. Deren einzige Verbindung kann dahingehend interpretieren werden, dass hier zwei Künstler, durch mehr als ein Jahrhundert getrennt, auf Identitätssuche in ihren unterschiedlichen Kunstgattungen geschildert werden. Einerseits die Romanfigur des ehemaligen Schriftstellers und Museumswächters Tomer Gardi im ersten, als Schelmenroman angelegten Teil, andererseits der von höchstem Ruhm verwöhnte Maler, der am Ende völlig desillusioniert auf Nimmerwiedersehen in den Weiten einer javanischen Kaffeeplantage verschwindet. Dabei werden auch die Mythen vom Ewigen Juden und vom Fliegenden Holländer mit einbezogen. Das wird im märchenhaften ersten Teil durch das wohl auch real vorhandene, hier mutmaßlich aber übertrieben stümperhafte Deutsch des israelischen Autors symbolisiert, im historischen zweiten durch die Zerrissenheit des Malers zwischen den unterschiedlichen Kulturen von Orient und Okzident. Die verhaltene Rezeption der Leserschaft ist mehr als deutlich: Eine runde Sache, zusammenpassend und preisträchtig also, ist dieser seltsame Roman keinesfalls!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.04.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


weniger gut

Fataler Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht

In England gilt der Roman «Zusammenkunft» der studierten Mathematikerin Natasha Brown als erfolgreichstes Debüt des Jahres 2021. Er wurde von Jackie Thomae kongenial ins Deutsche übersetzt und thematisiert den Rassismus aus einer völlig ungewohnten Perspektive. Die namenlose Protagonistin ist entgegen aller Klischees eben keine unterprivilegierte farbige Frau, die sich vergeblich abmüht, sich den Weg nach oben in eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Stattdessen hat hier die Heldin «Oxbridge» absolviert, arbeitet in der Londoner Bankenszene in den obersten Etagen der Hierarchie, mit dementsprechend üppigen Bezügen natürlich. Sie hat es eigentlich doch geschafft, müsste froh und glücklich sein, oder?

Den steilen Aufstieg hat die junge Frau in London nur mit harter Arbeit, eisernem Durchhalte-Vermögen und absoluter Hintanstellung aller privaten Wünsche und Ziele geschafft. Nun, da sie dort angekommen ist, wo sie partout hinwollte, beginnen ihre Zweifel. Dient sie ihrer Firma etwa nur als Aushängeschild für ethnische und gender-bezogene Diversität? Waren all die Mühen das denn wirklich wert? Nach ihrer aktuellen Beförderung stellt sie ernüchtert fest, dass ihr hierarchisch gleichgestellter, neuer weißer Kollege gleichwohl von ihr erwartet, dass sie den Kaffee kocht, dass sie den Flug nach New York für ihn bucht, weil er nun mal in seinem Wochenend-Urlaub mit Familie einfach keine Zeit dafür habe. Und plötzlich schwebt auch noch kurzzeitig das Damokles-Schwert einer möglichen Krebserkrankung über der Ich-Erzählerin. Ihr schnöseliger Freund gehört zur britischen Upperclass, eine Familie «mit Geld so alt und dreckig wie das Empire». Er genießt seinen leistungslosen Wohlstand und wird mit all seinen Beziehungen mühelos eine politische Karriere machen, wenn er denn will, was gar nicht so sicher ist. Mit der Einladung seiner Eltern zu einer pompösen Gartenparty mit illustren Gästen wachsen ihre Zweifel. Soll sie sich wirklich den Demütigungen aussetzen, die sie dort sicherlich erwarten werden, wenn nicht gar möglichen Aggressionen? Vor dem Beginn des Festes zieht sie sich auf eine nahe gelegene Bergwiese zurück. «Warum leben?» fragt sie sich grübelnd, «Warum mich weiterhin ihrem reduzierenden Blick aussetzen? Diesem vernichtenden Objektsein. Warum meine eigene Entmenschlichung dulden?»

Trotz ihrer beruflichen Karriere kann die Heldin als farbige Frau also der latenten Ungerechtigkeit nicht entkommen, dem schlimmen Erbe der Kolonial-Geschichte nicht entfliehen. Sie ist als Karrieristin im Sektor der Hochfinanz ein Fremdkörper in einer fast ausnahmslos männlichen Domäne, und sie wirkt als Farbige mit Migrations-Hintergrund in der konservativen gesellschaftliche Oberklasse so exotisch wie einst der Mohr an den Fürstenhöfen der Feudalzeit. Junge Frau, Farbige auch noch und triumphal Erfolgreiche, dass ist zu viel der Zumutungen für die bessere Gesellschaft. Soziale Flexibilität und Durchlässigkeit der Klassen bleiben jedenfalls reine Utopie, da sie nur vordergründig erkennbar und wirksam sind, sich aber als fest verankerte Denkmuster nie wirklich haben etablieren können.

In einem quasi post-postmodernen Stil mit vielen inneren Monologen entwickelt die Autorin ihre unkonventionellen Gedanken zu einem nicht bewältigten Thema, dem leidigen, scheinbar unausrottbaren Rassismus. Vieles reißt sie dabei nur an, buchstabiert ihre Reflexionen nicht durch bis zur letzten Konsequenz, wohl um dem Vorwurf auszuweichen, ihr Thema allzu theoretisch zu entwickeln. Ihre minimalistische Verdichtung des Stoffes, in der sie sich zum Beispiel über das kollektive Gedächtnis der britischen Gesellschaft äußert, wird in der gewählten unkonventionellen, schon fast irrealen Erzählform den beabsichtigten realen Aussagen kaum gerecht. Auch die emotionslosen Figuren bleiben schemenhaft unwirklich in den Erzähl-Vignetten dieses wenig überzeugenden Romans über einen fatalen Mix aus Rasse, Klasse und Geschlecht.

Bewertung vom 21.04.2022
Am Morgen des zwölften Tages
Vertlib, Vladimir

Am Morgen des zwölften Tages


sehr gut

Hochaktuell

Aus zwei nicht nur zeitlich unterschiedlichen Perspektiven berichtet Vladimir Vertlib in seinem Roman «Am Morgen des zwölften Tages» über orientalische Männer. Dabei geht es dem österreichischen Autor russisch-jüdischer Herkunft hauptsächlich um die Islam-Erfahrungen seiner zwei Protagonisten, die als Großvater und Enkelin, also aus der Perspektive verschiedener Generationen, über das religiös gesteuerte Verhalten von Muslimen berichten. Da ihre Geschichten völlig unabhängig voneinander in Ich-Form erzählt werden, sind es eigentlich zwei Romane, die man da in ständigem Wechsel liest.

«Gnädige Frau, wären Sie bereit, mit mir zu schlafen», fragt gleich zu Beginn in einer Bar der 57jährige Adel die 39jährige Astrid, die seit jeher eine Schwäche für orientalische Männer hat. Die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter bricht 1988, gleich nach dem Abitur, aus ihrer süddeutschen Universitätsstadt zu einer Reise nach Marokko auf, kommt aber nur bis Stuttgart. Dort lernt sie am Bahnhof Khaled kennen, der sich im Kaffeehaus an ihren Tisch gesetzt hat. Die mollige junge Frau kann seinem Charme nicht widerstehen, die Beiden erleben eine rauschhafte Nacht miteinander. Sie verschiebt daraufhin die Weiterreise von Tag zu Tag. «Am Morgen des zwölften Tages verschwand er», - und zwar auf Nimmer-Wiedersehen, sie weiß so gut wie nichts von ihm, außer dass er aus einem Dorf im Irak stammt. Neun Monate später kam ihre Tochter zur Welt. Ähnlich desaströs verläuft auch zwanzig Jahre und viele Männer später ihre Affäre mit Adel, denn schon bald schlägt er sie im Streit. Sie sinnt auf Rache und schließt sich einer Selbsthilfe-Gruppe nicht-muslimischer Frauen an.

Ihr verstorbener Großvater war als Orientalist durch sein Buch «Faschistische Perspektive für die Welt des Islam» berühmt geworden. Im Krieg war er für das Propaganda-Ministerium und die deutsche Abwehr tätig und wurde in eine Delegation berufen, die 1941 mit dem Auftrag in den Irak reiste, dort einen Aufstand gegen die britischen Besatzungs-Truppen anzuzetteln und sich als Verbündete zu inszenieren, wobei ja allein schon der Antisemitismus als Bindemittel diente. Die schriftlich festgehaltenen Ereignisse der Nazi-Mission bilden den größten Teil des Romans. Sie erinnern in ihrer Abenteuerlichkeit zwar an Karl May, sind aber offensichtlich gut recherchiert und durchaus bereichernd zu lesen. Zum Lesegenuss trägt insbesondere die deutliche Ironie des Autors bei, der nicht ganz klischeefrei, aber gut nachvollziehbar die Wurzeln im machohaften Weltbild islamischer Männer in ihrer extrem frauenfeindlichen Religion verortet. Dem Autor deshalb allerdings Islamophobie zu unterstellen, «gerade er als Jude dürfe so nicht über den Islam schreiben», geht allerdings völlig an der Sache vorbei, weist er doch deutlich auf dafür gleichermaßen vorhandene europäische Ursprünge hin.

Man macht es sich auch zu einfach, wenn man das bis heute gültige, mittelalterliche Weltbild des Islam nur als eine Frage der Koran-Auslegung interpretiert. Dieses antike Märchenbuch trägt, übrigens genau wie Talmud und Bibel, zum Leid jener Mehrheit von naiven Gläubigen bei, deren Intellekt den Schwachsinn nicht zu durchschauen vermag, der ihnen da von Kindesbeinen an eingetrichtert wird. Angesichts des islamistischen Terrors wird deutlich, wie gefährlich dieser «explosive Religionskitsch» tatsächlich ist. Die köstlichste Stelle im Buch ist die lebhafte Diskussion der Selbsthilfegruppe-Damen über die 72 Jungfrauen, die im Jenseits auf die Märtyrer des Islam warten. Der dem realistischen Erzählen verhaftete Vladimir Vertlib hat seine Thematik gründlich durchleuchtet und auf humorvolle Weise sehr unterhaltsam darüber geschrieben. Sollte, was Allah verhüten möge, Marine Le Pen am Sonntag zur Präsidentin gewählt werden, droht, wie Emmanuel Macron gestern im TV-Duell prophezeit hat, mit dem von ihr geplanten Kopftuchverbot ein Bürgerkrieg in Frankreich. Hochaktuell also, worüber der Autor hier schreibt!

Bewertung vom 18.04.2022
Alphabet
Page, Kathy

Alphabet


weniger gut

Peinlich

Der 2004 erschienene, sechste Roman der britischen Schriftstellerin Kathy Page ist nach siebzehn Jahren unter dem Titel «Alphabet» nun auch auf Deutsch erschienen. Wie die Autorin im Nachwort erklärt, war sie ein Jahr lang als «Writer in Residence» in einem britischen Männergefängnis tätig, machte sich eifrig Notizen über ihre Erfahrungen dort und begann mit einer ersten Niederschrift. Sie legte den Entwurf schließlich aber anderer Projekte wegen zur Seite, fand ihn erst zehn Jahre später bei ihrem Umzug nach Kanada wieder und stellte dann dort den Roman fertig. Herausgekommen ist dabei eine tiefgründige, psychologische Studie über einen jugendlichen Mörder und sein schwer nachvollziehbares Tatmotiv.

Simon Austen sitzt wegen Mordes lebenslänglich im Hochsicherheits-Trakt eines Gefängnisses. Als Vierjähriger wurde er von seiner Mutter einfach in einem Park allein zurückgelassen, sie nahm sich wenig später das Leben. Der kleine Junge kam in verschiedene Heime und wuchs bei Pflegeeltern auf. Im Knast lernt der ehemalige Teppichleger Lesen und Schreiben, holt seinen Schulabschluss nach und beginnt, verbotener Weise und auf verschlungenen Wegen an der Zensur vorbei, eine heimliche Korrespondenz mit einer kunst-interessierten, verwitweten älteren Frau, die einen Brieffreund sucht. Er verschweigt ihr seine wahre Identität, und als sie ihm schließlich eine gemeinsame Kunstreise vorschlägt, beendet er den Briefkontakt. Der inzwischen 29Jährige findet nun auf offiziellem Weg mit Tasmin eine angeblich 17jährige Brieffreundin, die sich sehr für seine Tat interessiert, nach Einzelheiten fragt und ihm sogar eine Schreibmaschine schickt, die er sich sehnlichst wünscht.

Auf ihr tippt er nun die Geschichte, die ihn zum Mörder machte: ‹Im Jahre 1979 lernte er bei der Arbeit die 20jährige Amanda kennen, lud sie spontan zum Essen ein und ging mit ihr anschließend in seine Wohnung. Dort forderte er sie auf, ihr Oberteil abzulegen, und danach, nun ihre Brüste anzufassen. Auf ihre erstaunte Frage, ob er denn nicht mehr von ihr wolle, antwortete er: «Das ist meine Art, es zu machen». Sie ging daraufhin ins Bad und kam splitternackt zurück, hatte sogar ihre Brille abgesetzt und trug stattdessen Kontaktlinsen. Ihr eigenmächtiges Handeln aber machte ihn rasend, er wollte allein bestimmen, was geschah, und so warf er sie wütend zu Boden und erwürgte sie!› Weil dieser ausführliche Brief aber viel zu umfangreich war, wurde er vom Zensor zurückgeschickt, und außerdem beendet Tasmins Vater endgültig ihren Briefkontakt, weil seine Tochter erst 14 Jahre alt ist und unter Depressionen leidet. Als Simons neue Betreuerin ihn nach seiner Tat befragen will, übergibt er ihr dann einfach den Brief, in dem ja alles drinsteht. Es folgen Verlegungen in andere Gefängnisse, er absolviert verschiedene Therapien und beginnt sogar ein geistes-wissenschaftliches Fernstudium.

Trotz aller eigenen Bemühungen und seiner manipulativen Fähigkeiten wird es Simon letztendlich wohl nicht gelingen, sich nach dreizehnjähriger Haft psychisch wirklich soweit zu verändern, dass er irgendwann tatsächlich Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung hätte. Zu rätselhaft erscheinen seine Motive, zu unabänderlich seine fest verankerten Verhaltensmuster. Dieses psychologische Drama glänzt vordergründig durch die entlarvenden Einblicke in das britische Haftsystem und all die verstörenden Gewaltexzesse, denen seine Insassen ausgesetzt sind, vor allem aber auch durch die seelischen Abgründe, in die der Leser hier zu blicken hat. Äußerst fragwürdig erscheint bei alledem aber der Transgender-Teil am Ende des Romans, bei dem sich Simons grobschlächtiger Zellengenosse Victor mit Hilfe von Medikamenten und durch Operationen nach seiner Entlassung zu einer lieblichen Charlotte umwandeln lässt. Das hat als spezielle Form der Selbstfindung rein gar nichts mit Simons Problemen zu tun, und dass die Zwei auch noch Gefallen aneinander zu finden scheinen, ist dann nur noch peinlich. Schade!

Bewertung vom 13.04.2022
Inland
Murnane, Gerald

Inland


sehr gut

Unterschätzt

Das jüngst unter dem Titel «Inland» erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichte, vierte Werk des australischen Schriftstellers Gerald Murnane ist im Original 1988 erschienen. Es entzieht sich, wie von ihm selbst für alle seine Werke apostrophiert, den gängigen Gattungs-Bezeichnungen und ist am ehesten als ‹metaphysische Parabel› anzusehen, welche lehrhaft Fragen von Moral und Ethik aufwirft. Diese werden jedoch erst durch Anwendung auf Vorstellungen in ganz anderen Gedanken-Ebenen wirklich begreifbar. Ein populäres Beispiel dafür ist die Eselsbrücke, die man sich baut, um einen Sachverhalt bildhaft besser aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Der nicht nur in Deutschland weitgehend unbekannte Schriftsteller hat stilistisch für sich einen ganz eigenen, unverwechselbaren Erzählstil entwickelt, der im Klappentext schlagwortartig als ‹murnanesk› bezeichnet wird und ihn zum Solitär unter den Autoren seines Landes macht.

Glaubt man einem Bericht im ‹New York Times Magazine›, bezeichnet sich dieser in äußerst bescheiden, geradezu prekären Verhältnissen lebende Schriftsteller als reich, weil er weiß, «dass die endlos scheinenden Landschaften meiner eigenen Gedanken und Empfindungen ein Paradies gewesen sein mussten, verglichen mit den eintönigen Gegenden, in denen andere ihr Selbst oder ihre Persönlichkeit oder was immer sie als ihre geistigen Territorien bezeichneten, angesiedelt hatten». Und auch die seinem aktuellen Buch als Motto vorangestellten Worte von Hemingway geben einen Hinweis auf die literarische Selbst-Verortung des Australiers: «Ich glaube, dass man im Grunde für zwei Leute schreibt: für sich selbst, um nach absoluter Vollkommenheit zu trachten … Dann schreibt man für Diejenige, die man liebt, ganz gleich ob sie lesen oder schreiben kann oder nicht und ob sie lebendig ist oder tot». Kein Wunder, das zu den wenigen ihm verliehenen Preisen der ‹Patrick White Award› gehört, mit dem bezeichnender Weise Autoren geehrt werden, «die einen bedeutenden, aber unterschätzten Beitrag» zur australischen Literatur geleistet haben.

Ein in der Bibliothek seines Herrenhauses in Ungarn sitzender, schriftstellerisch tätiger Ich-Erzähler beschreibt die unendlich scheinende Weite der Graslandschaft, die er von seinen Fenstern aus sieht. Eines der typischen Motive von Murnane, seine Ideal-Landschaft, wie sie sich auch in der amerikanischen Prärie wiederholt, auf die seine Lektorin am Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies von ihrem Fenster aus schaut. Sie hat bisher aber nicht eine Seite aus seiner Feder erhalten, erscheint dann selbst aber unversehens als Figur in einem anderen Buch. Realität und Fiktion verschwimmen hier in einem schwer durchschaubaren Ausmaß miteinander, buchstäblich alles bleibt in der Schwebe in diesem literarischen Kosmos, in dem Konkretes suspekt ist und die ungehemmte Imagination fröhliche Urständ feiert. Alles eine Frage der richtigen Sicht, heißt es dazu im Buch, ein Leser, «der meine Seiten aus seinen Augenwinkeln beobachten und der nicht die Reihen meiner Worte untersuchen würde, sondern die Formen des Papiers, die sich zwischen den Worten zeigten - solch ein Mann könnte schon das Bild einer Mädchen-Frau oder das Bild eines Graslandes oder die Geister solcher Bilder sehen». Die Grenzen zwischen trügerischer Außenwelt und grenzenlos imaginierter Innenwelt sind nicht klar erkennbar, man kann sie allenfalls vage ertasten.

Wo alles erfunden ist und man nicht mehr weiß, wer sich wen ausgedacht hat, da scheint auch das am Tisch sitzende, schreibende Ich schließlich nur noch davon zu träumen, das es schreibt. Schließlich rücken dann erzählerisch Kindheits-Erinnerungen in den Vordergrund, wobei man auch da nicht weiß, zu wem sie gehören, zum Schreiber oder zu seiner Figur. Als äußerst komplexes Werk der Postmoderne, das nur einen ziemlich kleinen Leserkreis ansprechen dürfte, demonstriert diese sinnliche Prosa eines unterschätzten Autors, was Literatur zu leisten vermag.

Bewertung vom 11.04.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


gut

Mehr Realität als Fälschung

Der neue Roman «Der Erinnerungsfälscher» von Abbas Khider ist ein gelungenes Werk der Migranten-Literatur, weil es dem Autor auch hier wieder gelingt, die durch das Erzählte ausgelöste Betroffenheit des Lesers durch Humor abzumildern. Der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller fand nach langer Flucht im Alter von 27 Jahren in Deutschland Asyl, machte in Potsdam Abitur und studierte Literatur und Philosophie. Obwohl er Flucht und Exil als sein literarisches Programm bezeichnet hat, seien seine Werke nicht autobiografisch. Sie sollen vielmehr als Teil der Gegenwarts-Literatur die Befindlichkeiten seiner Generation wiedergeben, wobei die deutsche Sprache ihm dabei eine gewisse Distanz zum Inhalt gewähre.

Der Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht Said Al-Wahid im ICE auf dem Heimweg von einem Podiumsgespräch in Mainz: «Komm so schnell wie möglich her!» Die Mutter des Schriftstellers (sic) liegt im Sterben, kurz entschlossen disponiert er um, findet mit dem Smartphone einen Flug ab Frankfurt und informiert seine Frau in Berlin. «Zum Glück hat Said seinen Reisepass dabei». Eine anlasslose Personen-Kontrolle in München nämlich, bei dem er ihn einmal nicht dabei hatte, mit einer anschließenden Nacht in Polizeigewahrsam, wird ihm lebenslang eine Lehre bleiben. Er trägt ihn nun immer bei sich, sogar im Supermarkt. In Rückblenden erzählt Abbas Khider nicht nur von den haarsträubenden Erlebnissen seines Protagonisten als Asylant in Deutschland, sondern auch von der vierjährigen Odyssee des jungen Irakers auf der Flucht über Jordanien, Libyen und Griechenland nach München. Bei der Machtergreifung Saddam Hussein wurde Saids Vater hingerichtet. Nach Sturz des Diktators 2003 verlor er in den nachfolgenden Bürgerkriegs-Wirren durch ein Bombenattentat auch noch seine Schwester mitsamt ihrer Familie. Für ihn war der Irak damals wieder «bärtig und verschleiert» geworden, wie es im Buch heißt, eine gelungene Metapher für die sarkastische Wertung der restriktiven politischen Umwälzungen, zurück ins Mittelalter!

Breiten Raum nehmen vor allem die an Spiegel-Fechtereien erinnernden Kämpfe des jungen Mannes mit der «schattigen Hautfarbe» bei seinen Bemühungen um eine unbefristete Aufenthalts-Erlaubnis mit den deutschen Behörden ein. Erst nach dem Einschalten einer entsprechend spezialisierten Anwaltskanzlei bekommt er mit allerlei Verfahrens-Tricks und viel Geld das ersehnte Dokument. Als er mit seiner deutschen Frau einen Sohn bekommt, löst dies eine nicht minder absurde Farce um die Geburtsurkunde für das Baby aus. Bezeichnend für die Verhältnisse im Irak des Jahres 2014 ist die dringende Aufforderung seines Bruders, nach der Beerdigung aus Sicherheitsgründen sofort wieder zurück zu fliegen. Und alles was Said dort selbst sieht und miterlebt bekräftigt nur diesen brüderlichen Ratschlag. Ihm wird erschreckend klar, dass dies nicht mehr sein Land ist, - und Deutschland es wohl nie wird werden können!

Nebenbei wird auch von Saids Problemen erzählt, Schriftsteller zu werden, denn seine Erinnerungen sind derart löcherig, dass er irgendwann nichts mehr zu Papier bringt. Ein Arzt rät ihm zu einer psycho-therapeutischen Behandlung, er sei hochgradig stigmatisiert durch Folter und Flucht. Said entschließt sich, nicht in seinem Unterbewusstsein herumstochern zu lassen aus Angst, was dabei zum Vorschein kommen könnte. Er bevorzugt es vielmehr, die Verfälschung der Erinnerung durch das kreativ Ergänzte oder Veränderte wie real Erinnertes zu behandeln, - und siehe da, er kann wieder schreiben! Verdeutlicht wird diese literarische Vorgehensweise durch Patrick Süskinds Novelle «Die Taube», die Said im Roman mehrfach anfängt zu lesen. Das Buch kommt ihm aber immer wieder abhanden, ehe er es ganz zuletzt doch komplett liest, - ohne Zweifel eine gelungene Metapher für sein eigenes Trauma. Diese schnörkellos erzählte Geschichte enthält jedenfalls mehr Realität als Fälschung, wie sie der Buchtitel dem Leser suggeriert.

Bewertung vom 09.04.2022
Kleine Paläste
Moster, Andreas

Kleine Paläste


gut

Wenn Tote miterzählen

Es ist der Blick hinter die Fassaden jener im Buchtitel «Kleine Paläste» genannten Villen einer städtischen Bourgeoisie, mit dem Andreas Moster in seinem neuen Roman dem äußeren Schein eine eher erschreckende Realität im Innern gegenüberstellt. Dabei nutzt er das beliebte Motiv des Heimkehrers, der nach einem gravierenden Erlebnis das Elternhaus verlassen hat und nach Jahrzehnten dorthin zurückkehrt. «Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden» heißt der erste Satz, und dieses Mal bleibt es nicht beim Versuch, der sechzig Kilo schwerer Bullmastiff namens Lupus bringt Sylvia Holtz auf der obersten Treppenstufe zum Straucheln, sie stürzt hinab. Das Notfall-EKG des Sanitäters zeigt nur noch einen Strich, wie sie selbst erzählt. «Lupus hat mich erwischt, endgültig» endet ihr Bericht aus dem erzählerischen Off über ihren eigenen Tod.

Sohn Hanno, der das Elternhaus 1986 im Streit mit dem Vater verlassen hat, ist nun 32 Jahre später gezwungen, zurückzukehren und sich um den dementen Vater zu kümmern. Carl Holtz hatte als Rechtsanwalt hohes Ansehen genossen, die Familie lebte in Wohlstand und konnte es sich leisten, das Haus von Carls Eltern nach deren Tod von Grund auf zu sanieren und aufwändig umzubauen. Sylvia hatte freie Hand dabei, die entkernte Villa wurde unter ihrer Regie völlig umgestaltet und nach ihrem Geschmack komplett neu eingerichtet, alles ist jetzt hell und luftig. Im September 1986 lädt das stolze Ehepaar Holtz Familie, Freunde und Nachbarn zu einer pompösen Einweihungsfeier ein, in deren Verlauf sich der pubertäre Sohn Hanno und die etwas ältere Nachbarstochter Susanne näherkommen, auch küssen will gelernt sein!

In jeweils mit den Jahreszahlen 1986 und 2018 überschriebenen Abschnitten wird abwechselnd von den damaligen Ereignissen erzählt und von der Gegenwart. Hanno hat sich all die Jahre wie ein fahrender Geselle in den verschiedensten Berufen betätigt, hat immer ‹von der Hand in den Mund› gelebt, ist alleinstehend geblieben und nie sesshaft geworden. Nun nimmt er es auf sich, den Vater selbst zu pflegen, obwohl er ja, wie er überlegt hat, das große Haus verkaufen und vom Erlös bequem ein erstklassiges Pflegeheim für ihn bezahlen könnte. Susanne hat ihr Elternhaus nie verlassen, ihre Eltern sind tot, sie ist ebenfalls alleinstehend, arbeitet in einem Supermarkt und wohnt noch immer nebenan. Von ihrem Fenster im Dachgeschoss hat sie all die Jahre immer wieder mit dem Fernglas das Nachbarhaus und Herrn Holtz beobachtet. Seit der Einweihungsfeier vor 32 Jahren betritt sie nun zum ersten Mal wieder dieses Haus, um Hanno bei der Pflege des Vaters zu helfen. Hanno lehnt das zunächst zwar halbherzig ab, ist dann schließlich aber doch heilfroh, dass sie diese ungewohnte Tätigkeit weitgehend übernimmt und sich auch noch um den inzwischen total verlotterten Haushalt kümmert. Und nun? Friede, Freude, Eierkuchen?

Mitnichten, denn allmählich wird deutlich, dass das Fest vor 32 Jahren ein dunkles Geheimnis birgt, in das Susanne schicksalhaft verstrickt ist. Mit steigender Spannung nähert sich die Erzählung dem alles entscheidenden Vorfall, bei dem Hannos Vater damals schwere Schuld auf sich geladen hat. Hannos Frage an den dementen Vater «Was wollte Susanne damals nicht» bleibt unbeantwortet. Susanne nimmt sich fest vor, nun endlich auf der Geburtstagsfeier für Carl Holtz erstmals zu berichten, was damals geschah. Im Kontrast zwischen seinem derzeitigen hilflosen Zustand und der unverzeihlichen Schuld, die er vor so langer Zeit auf sich geladen hat, entsteht ein psychologisches Spannungsfeld, das den Leser in Bann schlägt. Die durchgehend im Präsens erzählte Geschichte enthält zusätzlich eine mystische Komponente, wenn die verstorbene Sylvia gelegentlich auftritt und aus ihrer Jenseits-Perspektive berichtet. Am Ende hofft Susanne bei ihrer Flucht, auf ihrem vor Jahren entdeckten ‹steinernen Sessel› an der französischen Atlantikküste ihre Würde wiederzufinden.

Bewertung vom 07.04.2022
Erst grau dann weiß dann blau
Moor, Margriet de

Erst grau dann weiß dann blau


ausgezeichnet

Was nicht erzählt wird, gibt es nicht

Es ist nichts weniger als der Ausbruch in ein anderes Leben, den die holländische Schriftstellerin Margriet de Moor 1996 in ihrem Romandebüt «Erst grau dann weiß dann blau» als Motiv gewählt hat. Und zwar nicht in der sattsam bekannten Form vom Mann, der Zigaretten holen geht und nie wiederkommt, sondern von einer Frau, die plötzlich verschwunden ist und zwei Jahre später wieder da ist. Sie steht in der Küche und fragt ihren von der Arbeit heimkehrenden Mann, ob er draußen essen will bei dem schönen Wetter, - so als ob nichts gewesen ist, als ob sie sich erst morgens noch gesehen haben. Der eigentliche Skandal aber ist, dass Magda kein Wort dazu sagt, wo sie gewesen ist.

Ihren Mann Robert hat sie in Kanada kennen gelernt, er ist nach abgebrochenem Jurastudium Maler geworden. Als sie 1963 heiraten, bricht auch sie ihr Studium ab, folgt ihm in seine holländische Heimat. Bald schon besuchen die Beiden Roberts alten Freund Erik. Dessen hochschwangere Frau Nelli steht unmittelbar vor der Geburt und bringt noch in der Nacht Gabriel zur Welt. Das Kind leidet, wie sich schließlich herausstellt, an Autismus. Robert und Magda verlassen Holland nach kurzer Zeit wieder und kaufen in den französischen Alpen einen alten Bauernhof. Magda erleidet dort mehrere Fehlgeburten hintereinander und bleibt schließlich kinderlos. Elf Jahre später kehren sie nach Holland zurück, Robert übernimmt die vor dem Bankrott stehende Firma seines verstorbenen Vaters und wird ein erfolgreicher Unternehmer. Magda gelingt es, zu dem herangewachsenen Gabriel, der inzwischen in einer Behinderten-Einrichtung arbeitet, über dessen Begeisterung zur Astrologie eine enge Vertrautheit herzustellen. Er hat darin beachtliche Kenntnisse erworben, sie interessiert sich ebenfalls dafür und hilft ihm als Übersetzerin bei der Korrespondenz mit namhaften Sternwarten rund um den Erdball.

Der in vier Teile gegliederte Roman wird aus wechselnden Perspektiven erzählt, zunächst in der Ich-Form aus der von Erik. Darin wird das bittere Ende der Geschichte vorweg genommen. Im zweiten Teil wird geschildert, wie der plötzlich einsame Robert mit dem Verlassenwerden umgeht, wie er mit seinem ungewohnten Single-Leben zurechtkommt. Der dritte Teil beleuchtet in vielen Rückblenden das wechselvolle Leben von Magda, die 1938 in Tschechien geboren wurde, den Vater im Krieg verloren hat und mit ihrer Mutter über Berlin und Neapel nach Halifax in Kanada emigriert ist. In filmschnittartig aneinander gereihten Szenen erzählt die Autorin von ihrer radikalen Aussteigerin Magda und deren vergeblichem Versuch einer Selbstfindung. Sie vermischt die Geschehnisse mit vielerlei Metaphern und raffinierter Symbolik zu einem poetischen Bild der Suche nach Liebe, nach Glück und Freiheit. Wobei sie vieles in der Schwebe hält, was dann auch zu vielerlei Interpretationen verleitet, zumal nicht alles wirklich plausibel ist, was da geschildert wird. Die Autorin hat dazu erklärt: «Ich möchte meinen Leser genau in diesen zweideutigen Zustand versetzen, in dem die Grenzen der Wirklichkeit aufgehoben sind».

Dazu gehört insbesondere die provozierende Selbstverständlichkeit, mit der die Romanheldin nicht nur ihre Identitätssuche betreibt, sondern sich auch noch beharrlich darüber ausschweigt. Damit wird von ihr offensichtlich ein Tabu gebrochen, eine zweite Magda, von der man partout nichts weiß, neben der allen wohlbekannten ersten, ist keinesfalls akzeptabel. Und das gilt nicht nur für die Mitmenschen, sondern insbesondere auch für Robert. In einer ergreifenden Szene bei der Überfahrt nach Kanada berichtet Magda von der bevorstehenden Seebestattung eines gerade verstorbenen Babys in einer Pappschachtel. «Erzähl es mir, bat ich das Baby leise. Stimmt es, dass alles erst grau wird, dann weiß, dann blau, und dass man dann zu den Sternen fliegt?» Und als Credo findet sich an anderer Stelle im Roman der Satz: «Was nicht erzählt wird, gibt es nicht». Wie wahr!

Bewertung vom 05.04.2022
Zama wartet
Di Benedetto, Antonio

Zama wartet


gut

Latein-amerikanischer Existentialismus

Der bekannteste und im Original 1956 erschienene Roman des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto wurde in verschiedenen Auflagen unter dem Titel «Zama wartet» ins Deutsche übersetzt. Als Wiederentdeckung wurde er in der Buchreihe «Bibliothek der Weltliteratur» des Manesse-Verlags 2009 mit einem kenntnisreichen Nachwort von Roland Spiller versehen und schließlich 2017 durch die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel auch erfolgreich verfilmt. Dieses Buch verweigert sich beharrlich jeder einengenden Zuweisung in eine literarische Gattung. Obwohl Ende des 18ten Jahrhunderts angesiedelt, ist es kein historischer Roman, auch nicht die psychologische Studie eines zum Scheitern verurteilten Karrieristen oder die an Ransmayr erinnernde Geschichte einer desaströsen Expedition in die menschliche Finsternis.

Die mit den Jahreszahlen 1790, 1794 und 1799 überschriebenen drei Abschnitte befassen sich in 50 Kapiteln schwerpunktmäßig jeweils mit einem der im Roman behandelten Themen-Komplexe. Diego de Zama gehört als Justiziar zu den leitenden Beamten von Asunción, er vertritt schon seit mehr als einem Jahr die Krone in dieser spanischen Kolonie, fernab von Frau und Kind. Vergeblich wartet er auf Beförderung oder Versetzung nach Buenos Aires, alle wichtigen Posten in der Verwaltung haben die aus der Heimat entsandten Beamten inne. Als Kreole, als in Argentinien geborener Weißer, hat er da kaum Aufstiegschancen und wird immer wieder mit verlogenen Versprechungen vertröstet. Finanziell lebt er in prekären Verhältnissen, die Gehälter der Angestellten werden oft monatelang nicht ausgezahlt, er kann dann auch seiner Frau kein Geld schicken. Und so wartet Zama Jahr um Jahr, hofft auf ein Schiff mit Briefen von seiner Frau - oder mit seiner Beförderungs-Urkunde! Der eher schüchterne Mann träumt sich zunehmend in Liebesabenteuer mit verschiedenen Frauen hinein, scheitert dabei aber an seinem tölpelhaften Draufgänger-Gehabe. Er verliert jeden Bezug zur Realität und zeugt schließlich einen Sohn mit einer einfachen Frau, die allerdings so gar nicht seinen Träumen entspricht. Als ihm die Leitung einer Strafexpedition übergetragen wird, die den gefürchteten, landesweit gesuchten Verbrecher Vicuña Porto und seine Bande gefangen nehmen soll, erhofft er sich davon den nötigen Karriereschub. Aber die Mission scheitert kläglich, in verlustreichen Scharmützeln mit Indianern werden sie immer mehr dezimiert und scheitern zudem an der wilden Natur. Schließlich erkennt Diego de Zama voller Schreck, dass der Gesuchte, und wohl auch einige Mitglieder seiner Bande, sich unerkannt als Söldner seiner Truppe angeschlossen haben.

In dieser Geschichte vom langsamen Verfall eines Mannes verlagert sich der narrative Status von einem, der als Subjekt das Geschehen beobachtet, zunehmend zu einem, der als Objekt selbst beobachtet wird, sei es von Frauen, von Kollegen oder vom Vermieter seiner bescheidenen Behausung. Die Ich-Form bleibt dabei allerdings bis zuletzt erhalten, nur das Erzählte verschiebt sich immer mehr in den Bereich des Traumes, wird mystisch, existiert nur im Delirium. Verbunden mit diesem Realitätsverlust ist insbesondere die wachsende Erkenntnis des Protagonisten von der eigenen Unfähigkeit, die den Macho mit voller Härte trifft.

Geradlinig und lakonisch erzählend wird hier der Fokus auf das innerlich und äußerlich Wahrnehmbare konzentriert, ohne es ergänzend auch kontemplativ zu würdigen oder gar psychologisch zu deuten. Die Sprache ist karg und wirkt unbeholfen, inhaltlich bleiben zudem alle moralischen oder religiösen Aspekte konsequent ausgeblendet. Ein Untergebener Zamas, der im Dienst beim Schreiben eines Buches erwischt wird, antwortet auf die Frage, warum er überhaupt schreibt: «Ich schreibe, weil ich muss, weil ich das, was ich im Kopf habe, herausbringen muss». Der ästhetisch unbedarfte Protagonist aber verkörpert hier einen latein-amerikanisch gefärbten Existentialismus.

Bewertung vom 03.04.2022
Rückkehr
Achten, Willi

Rückkehr


gut

Wahrheit schichtweise

In seinem neuen Roman «Rückkehr» folgt Willi Achten dem bekannten Handlungsmuster des nach langer Zeit heimkehrenden Protagonisten, der sich schwertut, wieder an sein einstiges Leben anzuknüpfen. Handlungsort ist ein ungenanntes Alpendorf, fortgetrieben hat ihn ein schlimmes Erlebnis, das im beschaulichen Ambiente eines Heimatromans geschildert wird und dessen Geheimnis sich dem Ich-Erzähler nach mehr als zwanzig Jahren nur zögerlich erschließt. Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte behandelt sattsam bekannte Themen wie Heimatliebe, Umweltzerstörung, Ehebruch, Männerfreundschaft und Jugendliebe. Gelingt es dem Autor, diesem Themenkomplex neue Facetten abzugewinnen?

«Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin» lautet das dem Roman vorangestellte Motto von Joseph von Eichendorff. Auch für Jakob Kilv stellt sich die Frage, ob er an den seinerzeit fluchtartig verlassenen Ort seiner Kindheit zurückkehren soll. Seine Freunde von einst sind alle noch da, auch seine erste Freundin Liv lebt noch in dem Dorf am See, und sogar die Nachbarn sind die alten. Sie alle freuen sich, dass er wieder da ist. In zwei Zeitebenen wird Jakobs Suche nach den geheimnisvollen Hintergründen geschildert, die geradezu zwangsläufig zu seiner überstürzten Flucht führen mussten. Mit vielen Rückblenden werden schichtweise all die Geschehnisse aufgedeckt, die ihn damals so brutal fortgetrieben haben. Seine Clique hatte in hilflos wirkenden Attacken versucht, die Pläne des örtlichen Liftbetreibers für einen gigantischen neuen Skizirkus zu vereiteln. Dadurch würde nicht nur die Landschaft zerstört und die Natur nachhaltig geschädigt, wie die erbosten Umweltschützer meinen, auch die geologische Stabilität der betroffenen Bergregion am Weißkogel wäre massiv gefährdet. Die ist ohnehin schon durch die Klimaerwärmung und den deshalb abschmelzenden Permafrost äußerst fragil geworden. Ein dadurch irgendwann ausgelöster Bergrutsch in den See hinein würde jedenfalls katastrophale Folgen haben. Der Vater von Jakob unterstützt als engagierter Ornithologe die jugendlichen Naturschützer, deren Anführer Bruno mit Jakobs Mutter heimlich ein Verhältnis hat. Ein auswärtiger, gewaltbereiter Umwelt-Aktivist löst dann auf einer Geburtstagsfeier des rücksichtslosen, von Politikern unterstützten Ski-Moguls eine Brandkatastrophe aus, die zwei Menschenleben fordert und Jakob verheerende Brandwunden zufügt.

Durch die von ihm wie Zwiebelschichten nach und nach freigelegten Hintergründe und Zusammenhänge wird erst ganz zum Schluss klar, durch welch unheilvolle Verstrickungen das Geschehen damals den für Jakob so tragischen Verlauf nahm. Gleiches gilt für sein Verhältnis zu Liv, das er selbst nicht richtig einzuschätzen weiß. Ist sie nun wieder seine Freundin oder ist er nur ein Liebhaber, wie es sein bester Freund Bruno scheinbar auch ist? Willi Achten treibt sein Spiel mit der Ungewissheit auf die Spitze, sehr zum Missvergnügen vieler Kommentatoren, denen diese Spannung fördernde, bis zuletzt alles offen lassende Erzählweise als gar zu aufdringlich erscheint. Erschwerend kommt hinzu, dass die Figuren allesamt als wenig emphatisch beschrieben sind und damit kaum Einblick in ihr Innerstes zulassen, was es schwierig macht, ihr Handeln wirklich zu verstehen.

Eine Besonderheit sind neben den mitreißenden Schilderungen einer grandiosen Natur insbesondere die ornithologischen Ausflüge des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Er liebt die Vogelwelt ebenso und beschreibt sie kenntnisreich, am Ende sogar mit der diffizilen Auswilderung zweier Bartgeier. Er selbst ist ja wie ein Zugvogel an den ursprünglichen Ort seines Lebens zurückgekehrt, aber ob er denn hier auch bleiben wird? Der eher passiv wirkende Held sagt dazu nichts. Liv neben ihm schläft noch, «Ich bleibe, schreibe ich mit dem Finger in die Luft und breche auf», lautet der letzte Satz. Neue Facetten zum Thema, wie eingangs gefragt, tun sich hier allerdings nicht auf!