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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Xirxe
Wohnort: 
Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 867 Bewertungen
Bewertung vom 27.07.2020
Wo wir waren
Zähringer, Norbert

Wo wir waren


sehr gut

Was für eine schöne und auch traurige Geschichte - fast ein richtiger Schmöker. Doch zum völlig darin Versinken hat es nicht ganz gereicht, ohne dass ich so genau weiß, woran es liegt.
Ausgangspunkt ist der 21. Juli 1969, also ziemlich genau vor 51 Jahren, als die ersten Menschen den Mond betraten. Obwohl man im Nachhinein das Gefühl haben könnte, dass an diesem Tag sonst nichts weiter Aufregendes passierte

Bewertung vom 27.07.2020
Das wirkliche Leben
Dieudonné, Adeline

Das wirkliche Leben


weniger gut

Ein namenloses junges Mädchen erzählt von ihrer Kindheit bis hin zu dem Tag, an dem das Grauen jener Zeit fast so endete wie es begann - mit einem zerstörten Gesicht. Obwohl - das Grauen begann schon viel früher ...
Die Eltern des kleinen Gilles und seiner vier Jahre älteren Schwester sind ein ungleiches Paar und alles andere als glücklich. Der Vater grobschlächtig, cholerisch, dominant, gewalttätig; die Mutter voller Angst, ohne Selbstbewusstsein, wie eine Amöbe wie ihre Tochter sie nennt. Regelmäßig wird sie wegen Nichts von ihrem Mann verprügelt, ohne dass sie sich wehrt. Und die Kinder wissen, irgendwann wird es auch sie treffen. Doch die große Schwester schützt ihren Bruder, bis dieser wie auch sie Zeuge eines entsetzlichen Unglücks wird. Ab diesem Tag zieht Gilles sich von seiner Schwester zurück und beginnt, sich in Richtung seines Vater zu entwickeln.
Es ist eine grauenvolle und auch brutale Geschichte, die im Tonfall eines jungen Menschen erzählt wird. Grundsätzlich gelingt dies recht gut, aber wie manche Stilmittel völlig überzogen werden, ist stellenweise wirklich gruselig. Beispielsweise Vergleiche wie 'Denn das Leben war nun mal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden.' oder Allegorien wie 'Die tief stehende Morgensonne leckte mir die Tränen von den Wangen.' oder '... ein Schluchzen legte seine Tentakeln um meine Kehle.'. Was hat die Autorin während des Schreibens denn zu sich genommen? Und falls sie das wirklich geschrieben haben sollte: So etwas mögen tatsächlich die französischen Buchhändlerinnen? Oder liegt es vielleicht an der Übersetzung?
Störend empfand ich auch die Verachtung des jungen Mädchens gegenüber seinem ganzen Umfeld. Die anderen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse: praktisch alles Deppen. Die Nachbarschaft in ihrem Zuhause: alles Idioten. Merkwürdigerweise sind jedoch die Leute, die sie näher kennenlernt, dann plötzlich alles tolle Menschen - wie kann das denn sein?
Meine Begeisterung hält sich aus diesen Gründen in Grenzen, auch wenn ich trotz der sprachlichen Schaurigkeiten unbedingt wissen wollte, wie die Geschichte endet. Ein Lieblingsbuch von mir wird es aber bestimmt nicht.

Bewertung vom 09.07.2020
Winterbienen
Scheuer, Norbert

Winterbienen


ausgezeichnet

Was für ein schönes Buch, das von einer entsetzlichen Zeit erzählt. Es ist das letzte Kriegsjahr des II. Weltkriegs und in der Eifel ist es bisher vergleichsweise ruhig geblieben. Egidius, der aufgrund seiner Epilepsie nicht eingezogen wurde und dank des Einflusses seines Bruders der Euthanasie entging, kümmert sich nach seiner Entlassung als Lehrer um seine Bienenvölker und um manche zurückgelassene Frau. Hin und wieder bringt er Juden über die Grenze, um sich so Geld für seine Medikamente zu verdienen, doch mit dem Vorrücken der Alliierten wird es immer gefährlicher.
Es ist eigentlich ein gemächliches Buch, wenn sich der kriegerische Hintergrund nicht immer wieder in den meist friedlichen und beschaulichen Tagebucheinträgen des Egidius in den Vordergrund drängen würde. Hauptthema seiner Einträge ist die Beobachtung und Pflege sowie Entwicklung seiner Bienen, denen er sich eng verbunden fühlt. Seine restliche freie Zeit widmet er der Übersetzung alter Dokumente seines Vorfahren Ambrosius aus dem Latein und den Frauen, denen er zugetan ist. Es wirkt, als wäre er ein glücklicher Mensch, wenn nicht stets aufs Neue das Grauen des Krieges in Erscheinung treten würde.
An Handlung gibt es nicht viel zu berichten, denn die Tage verlaufen recht gleichförmig. Doch wie der Autor dieses Wenige erzählt, ist so voller Zuneigung und Aufmerksamkeit, dass man beim Lesen unweigerlich eine grosse Sympathie zu Bienen und Ambrosius entwickelt und die Entsetzlichkeit des Krieges im Gegensatz dazu noch stärker wirkt.
Ein schönes und trauriges Buch über das Leben, die Liebe und die Sinnlosigkeit des Krieges.

Bewertung vom 05.07.2020
Manno!
Kuhl, Anke

Manno!


ausgezeichnet

Anke Kuhl, Illustratorin vieler wunderbarer und schöner Kinderbücher, hat mit 'MANNO!' einen herrlichen Comic über ihre eigene Kindheit verfasst. Aufgewachsen in den 70ern gemeinsam mit einer etwas älteren Schwester, wird hier ein Stück (fast) heile Welt heraufbeschworen, die nur selten durch mittlere und kleine Katastrophen ins Wanken gebracht wird. Und selbst die sind (zumindest im Rückblick) häufig genug Anlass zum Lachen (ich schreibe da nur: Freischwimmer

Bewertung vom 05.07.2020
Paradise City
Beck, Zoë

Paradise City


sehr gut

VerschwörungstheoretikerInnen aufgepasst: Dieses Buch befand sich gerade erst im Druck, als wir in Europa noch dachten, Corona sei nichts weiter als eine weitere etwas stärkere Grippewelle. Wer also mehr wissen möchte über unsere nächste Zukunft, kommt nicht umhin, dieses Buch zu lesen sowie alle anderen der Autorin. Und an den Rest: Auch wenn es nur Zufall ist, es ist erschreckend, wie manche der Szenarien in Zoë Becks neuem Buch der Realität ähneln.
In 'Paradise City' ist Deutschland durch zunehmende Klimaveränderung und Pandemien in weiten Teilen entvölkert, die Menschen leben überwiegend in Millionenstädten. Bestimmender Faktor des Lebens ist die Überwachung und Kontrolle durch eine Gesundheitsapp, die permanent registriert, in welchem Zustand sich der Mensch befindet und gegebenenfalls eigenständig Maßnahmen ergreift. Als kleiner Nebeneffekt ist zudem die völlige Überwachung jedes Einzelnen möglich - man muss ja wissen, wohin man einen eventuellen Rettungswagen schicken muss. Liina, die bei einem der wenigen noch unabhängigen Nachrichtenportale arbeitet, wird zu einem Rechercheauftrag in die nahezu unbewohnte Uckermark geschickt, währenddessen ihr Chef einen eigentümlichen Unfall hat, der ihn fast das Leben kostet. Gemeinsam mit ihren KollegInnen machen sie sich auf die Suche nach den Hintergründen und bringen sich dabei in Lebensgefahr.
Die Welt, die Zoë Beck hier entwirft, ist verstörend, aber angesichts der Geschehnisse der letzten Monate nicht mehr undenkbar. Was mit einer guten Idee begann - Gesundheit und Sicherheit für Alle -, uferte aus und setzte sich nach und nach eigene Regeln und Vorgaben, zugunsten derer die Menschen freiwillig den größten Teil ihrer Freiheit aufgaben. Was daraus erwachsen kann, zeigt dieser Thriller exemplarisch.
Das Buch habe ich eher als Roman denn als Thriller empfunden - zu lange dauert es, bis die Geschichte tatsächlich an Fahrt aufnimmt. In der ersten Hälfte liegt der Schwerpunkt mehr auf der abwechselnden Beschreibung von Liinas aktuellem sowie ihrem vergangenen Leben, um so die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. wie es dazu kam, darzustellen. Dennoch ist es lesenswert: unterhaltsam und spannend, mit einem Ausblick auf eine Zukunft, wie sie wohl keiner haben möchte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.07.2020
42 Grad
Harlander, Wolf

42 Grad


weniger gut

Deutschland stöhnt und ächzt unter einer Hitzewelle, wie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen noch nie eine registriert wurde. Doch damit nicht genug, es gibt bei der Versorgung von Trinkwasser massive Probleme - alles nur Auswirkungen des extremen Sommers? Während fieberhaft nach den Ursachen gesucht wird, beginnen die Menschen aus den betroffenen Gebieten in wasserreichere Gegenden zu flüchten. Mit Sack und Pack machen sich Millionen auf den Weg, um daheim nicht zu verdursten und stranden häufig in Aufnahmelagern, wo sie wie Gefangene festgehalten werden.
Ein Szenario, das einem Alptraum gleicht und nach dem letzten Sommer nicht ganz unrealistisch wirkt. Was hätte das für ein nervenzerfetzender Thriller werden können, wenn, ja wenn der Autor sich etwas mehr Mühe mit seinen Figuren und seinem Erzählstil gegeben hätte. Es gibt sechs Erzählstränge mit je ein bis zwei Personen, wobei der Hydrologiestudent Julius und Datenanalystin Elsa im Vordergrund stehen. Während Elsa anhand ihrer Daten entdeckt, dass etwas nicht in Ordnung ist, kann Julius dies direkt vor Ort feststellen. Nach einem beruflichen Treffen versuchen sie gemeinsam den Dingen auf den Grund zu gehen, während andernorts Florian, der THW-Mann gegen Feuer kämpft (ha, wie witzig

Bewertung vom 02.07.2020
Die Tanzenden
Mas, Victoria

Die Tanzenden


sehr gut

Dass Frauen es in einer männerdominierten Gesellschaft nicht leicht haben, dürfte allgemein bekannt sein. Aber WIE schwer sie es hatten, davon haben vermutlich nur die Wenigsten eine Vorstellung. Wichen sie von der Norm ab oder zeigten ungebührliches Verhalten, kam dies für Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts einem Strafurteil gleich. Ihre Angehörigen liessen sie wegsperren, in Paris beispielsweise in die berühmte Salpêtrière, eine der grössten psychiatrischen Anstalten Europas, die Frauen vorbehalten war. Mit ihrem Buch 'Die Tanzenden' erinnert die Autorin Victoria Mas an diese Frauen, die von der Welt vergessen waren - und nur beim gesellschaftlichen Ereignis 'Bal des Folles' ins Bewusstsein der besseren Gesellschaft rückten.
Die wichtigsten Figuren sind Geneviève, die Hauptverantwortliche für die Kranken in ihrem Bereich, eine durch und durch rationale Person; und Eugénie und Louise, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in der Salpêtière landeten. Genevièves kühle Rationalität wird durch die Einlieferung Eugénies schwer auf die Probe gestellt und sie beginnt ihre Umgebung mit kritischeren Augen zu betrachten.
Obwohl Männer in dieser Geschichte nur als Randfiguren erscheinen, sind sie es, die das Leben all dieser Frauen bestimmen, ob diese nun in der Salpêtrière arbeiten oder dort Patientinnen sind. Männer geben vor, was normal ist, was richtig oder falsch und eine Frau, die Kritik oder Zweifel äussert, kann nur krank sein. Kaum zu glauben, dass diese Zustände vor gerade einmal etwas mehr als 130 Jahren noch gang und gäbe waren. Victoria Mas beschreibt diese teilweise schauerlichen Verhältnisse in einer geradezu sanften und zarten Sprache, sodass der Wahnwitz dieser Anstalt sich noch deutlicher darstellt.
Ein lesenswertes Buch, das Vergessene wieder in Erinnerung bringt. Den 'Bal des Folles' hat es übrigens tatsächlich gegeben, ein bisschen was ist darüber zu finden im französischen Wiki unter 'Bal des folles à la Salpêtrière'.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.07.2020
HERKUNFT
Stanisic, Sasa

HERKUNFT


sehr gut

Wer bei diesem Buch einen Roman erwartet, eine fortlaufende Geschichte über einen Menschen oder eine Familie, wird gleich zu Beginn irritiert sein. Denn 'Herkunft' erzählt zwar von einem Menschen und seiner Familie, springt dabei jedoch hin und her zwischen Zeiten, Welten, Personen. In vergleichsweise kurzen Kapiteln (meist nur 2, 3 Seiten lang) lernen wir den Herkunftsort der Stanišić' kennen, einen Großteil der Verwandtschaft sowie der Vorfahren, um gleich danach im Jahre 2018 zu landen und wieder zurück im früheren Jugoslawien.
Berichtet wird von Alltäglichem, zum Beispiel der Art des Lebens im früheren Jugoslawien, aber auch von den Schwierigkeiten, die die Familie Stanišić bewältigen musste: Flucht vor dem Bosnienkrieg, Ankunft in einem fremden Land (Deutschland) und das Zurechtfinden dort, der Versuch eines Neuanfangs. Nicht immer wird einfach erzählt, manchmal werden ganz sachlich nur Dinge aufgezählt, beispielsweise um den Großvater zu beschreiben.
Gemeinsam mit dem Autor kommt man mit jeder Seite seiner Herkunft näher, seinem Verständnis von Heimat, was sich nicht nur im früheren Jugoslawien festmachen lässt. Es ist die Verbundenheit zu Menschen und Orten zu verschiedenen Zeiten, wo man sich sicher und willkommen fühlt(e). "Fragt mich jemand, was mir Heimat bedeutet, erzähle ich vom freundlichen Grüßen eines Nachbarn über die Straße hinweg."
Durch die vielen Wechsel von Ort und Zeit lässt sich das Buch nicht so einfach lesen wie zum Beispiel 'Wie der Soldat das Grammofon repariert', aber Saša Stanišić' humorvoller Grundtenor machen es einem auch nicht allzu schwer. "Rike (seine erste Liebe) mochte kein Fleisch (ich leider schon), also wurde ich irgendwann Vegetarier. Mutter hätte mich dafür wahrscheinlich am liebsten mit Frühlingslauch erwürgt."
Es ist ein gutes Buch nicht nur über Herkunft, sondern ebenso darüber was es bedeutet, fremd zu sein, nicht dazuzugehören. Und wie wenig es im Grunde genommen braucht, eine Heimat zu haben.

Bewertung vom 19.06.2020
Sumpffieber / Dave Robicheaux Bd.10
Burke, James Lee

Sumpffieber / Dave Robicheaux Bd.10


ausgezeichnet

Ich kann dem Pendragon Verlag gar nicht genug danken, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Robicheaux-Reihe wieder neu aufzulegen. Denn die Serie ist einfach grandios und dieser 10. Band macht da keine Ausnahme.
In Robicheaux' Bezirk ist mal wieder der Teufel los. Zwei Brüder werden ermordet und es geht das Gerücht um, ein Auftragskiller hätte Einiges zu tun. Zudem ist Megan Flynn gemeinsam mit ihrem Bruder heimgekehrt, deren Vater vor Jahrzehnten lebendig gekreuzigt wurde; die Täter wurden nie gefasst. Der neue Gefängnisverwalter soll die Gefangenen misshandeln und ein enger Freund der Flynns scheint ein brutaler Psychopath zu sein. Selbst das FBI taucht auf ...
James Lee Burke ist bekannt für seine intensiven, bilderreichen Darstellungen des Südens der USA und das zeigt sich auch in 'Sumpffieber': "Die Wolken am östlichen Horizont waren pinkfarben und grau getönt, und der Wind bewegte leicht die Moospolster auf den abgestorbenen Zypressenstümpfen." Oder "Der Tag war blau, golden und warm, und auf dem Damm blühten noch Blumen, doch die Luft roch nach Humus und Wurzeln, die man aus feuchtem Erdreich gezerrt hatte, nach Laub, das im Brackwasser oxidiert und braun geworden war."
Doch in einem Thriller sind selbst die wunderbarsten Landschaftsbeschreibungen kaum der Rede wert, wenn es mit der Spannung hapert. Aber auch hier enttäuscht der Autor nicht. Gleich in den ersten zwei Kapiteln geht es um eine ganze Reihe Verbrechen, sodass man bei der dazugehörigen Vielzahl von Personen etwas den Überblick verlieren kann. Erstaunlicherweise ist man jedoch schnell im Bilde, wer mit wem wie zusammenhängt, auch wenn zwischendurch eventuell das Ganze wieder etwas undurchsichtig wird. Obwohl es nicht gerade wenige Handlungsstränge sind, gelingt es Burke, alle offenen Fäden wieder zu einem Ende zusammenzufügen - wenn auch nicht immer zum Gewünschten.
Der Autor hält zudem nicht mit Gesellschaftskritik hinterm Berg, doch er verpackt sie so geschickt, dass man beim Lesen (fast) ganz von selbst darauf kommt, welch unhaltbaren Zustände dort herrschen. Dass das Buch bereits vor über 20 Jahren geschrieben wurde, bleibt beinahe unbemerkt - lediglich die heutzutage allgegenwärtigen Smartphones fehlen, ansonsten könnte die Handlung ohne Einschränkungen auch im Hier und Heute stattfinden, so wenig hat sich seitdem geändert.
Und zuguterletzt ist es die Sprache, die James Lee Burkes Bücher zu einem Genuss machen. "Der Katalysator ist Angst und die Auswirkungen sind wie Kerzenwachs in einer Flamme. Der geringschätzige Zug um den Mund und die Verachtung und der Ekel in den Augen schmelzen dahin und werden durch ein selbstgefälliges Lächeln ersetzt, Zeichen der eigenen Schwäche ohne Reue, und durch die zuckersüße Affektiertheit guten Willens in der Stimme. Diese Unaufrichtigkeit ist wie das Öl, das aus jeder Pore trieft, und wie Gestank, der in den Kleidern hängenbleibt." Ein großes Lob auch an die Übersetzerin, die die vielen Nuancen im Sprachstil der einzelnen Figuren toll herausarbeitete.
Da bleibt nur noch zu schreiben: LESEN!

Bewertung vom 19.06.2020
flüchtig
Achleitner, Hubert

flüchtig


weniger gut

Hubert Achleitner, der Vielen vermutlich eher unter dem Namen Hubert von Goisern bekannt sein dürfte, hat sein erstes Buch veröffentlicht, dessen Inhalt schnell erzählt ist. Maria, die Frau eines Paares, das die letzten 30 Jahre seiner Ehe mehr neben- als miteinander gelebt hat, verschwindet plötzlich von einem Tag auf den andern. Ihr Mann Herwig kommt vor Sorge fast um, auch als ihm klar wird, dass Maria offenbar eine bewusste Entscheidung getroffen hat: sämtliche Ersparnisse fehlen und seinen Volvo hat sie ebenfalls mitgenommen.
Wir Lesenden begleiten sowohl Maria auf ihrer Reise (die ich nicht als Flucht empfand) wie auch Herwig, der mit seinem verlassenen Dasein im doppelten Sinne nicht so gut zurecht kommt. Beim Erzählen kommt der Autor immer wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen und schiebt Themen ein, die mit der eigentlichen Geschichte zwar überhaupt nichts zu tun haben, ihm aber offenbar am Herzen liegen. Da wird der 2. Weltkrieg angesprochen, ein im Krieg verschwundener Großvater, Religion, Glaube, Musik (natürlich) und noch Einiges mehr, was für sich durchaus interessant ist. Aber mir fehlte der rote Faden, der all dies miteinander verbindet.
Maria und Herwig selbst blieben mir weitestgehend fremd, ich konnte nur wenig von dem nachvollziehen, was sie taten. Maria betrügt Herwig über Jahre hinweg und als sie von seinem Betrug erfährt, ist da "Nichts außer Schmerz." Oder weshalb die Beiden nach dem für Maria so einschneidenden Erlebnis weitere 30 Jahre zusammenblieben - ohne Druck oder Zwang, dies zu müssen - für mich überhaupt nicht nachvollziehbar und ein Rätsel.
Zuguterletzt habe ich so meine Schwierigkeiten mit dem Sprachstil Achleitners. Dass er als Österreicher die Eigenheiten seiner Sprache pflegt, ist nachvollziehbar wenn auch gelegentlich ärgerlich, wenn man nichts versteht. Ein Glossar wäre da schon schön gewesen. Wesentlich unangenehmer fand ich hingegen viele Formulierungen, die vermutlich von Poesie zeugen sollen, für mich aber nur schwülstig und kitschig rüberkamen. Ein paar Beispiele: "... einen alten ... Pritschenwagen, der, bevor ihn die raue Zunge der Witterung blass geleckt hatte, ..." oder "Es war ein Toben losgebundener Mächte, aber das Federkleid ihrer Liebe trug sie über die Wolken hinaus." oder "Die Angst fuhr ihm von der Körpermitte aus wie eine Ameisenstraße in seinen Schritt ...". Leider sind dies nicht die einzigen sprachlichen Patzer.
Fazit: Hubert von Goiserns Musik finde ich weiterhin klasse, aber von Hubert Achleitners schriftstellerischem Werk lasse ich künftig lieber die Finger. 2,5 Sterne, die ich großmütig