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Bücherfreundin

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Insgesamt 265 Bewertungen
Bewertung vom 12.09.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

Beeindruckender und intensiver Roman, der unter die Haut geht
Der S. Fischer Verlag hat "Die Wahrheiten meiner Mutter", den neuen Roman der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, veröffentlicht, der in Norwegen bereits 2020 unter dem Titel "Er mor død (Ist Mutter tot)" erschienen ist. Das Buch stand auf der Longlist für den diesjährigen International Booker Prize.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 60-jährige Ich-Erzählerin Johanna. 30 Jahre ist es her, dass die Jurastudentin, die mit einem jungen Anwalt frisch verheiratet war, einen Abendkurs in Aquarellmalerei besuchte. Sie verliebte sich in den amerikanischen Kursleiter Mark und brannte mit ihm nach Utah durch. Später kam Sohn John auf die Welt, und Johanna arbeitete erfolgreich als Malerin. Nach dem Tod ihres Mannes ist Johanna nun wieder in der Heimat, da dort eine Retrospektive ihrer Werke geplant ist. Sie bezieht eine Wohnung am Fjord, die nur 4 1/2 km von der Wohnung ihrer Mutter entfernt liegt. Später mietet sie sich zusätzlich eine kleine Blockhütte im Wald, in der Hoffnung, dort gut arbeiten zu können.

Ihren plötzlichen Weggang haben die Eltern trotz erklärender Briefe von Johanna nie verstanden, ihre Berufung als Malerin nie akzeptiert. Sie finden ihre Bilder "Kind und Mutter 1 und 2" empörend und reagieren gekränkt. Als der Vater einen Schlaganfall erleidet, reist Johanna nicht in die Heimat, sie kommt auch nicht zur Beerdigung. Ihre Mutter und ihre jüngere Schwester Ruth sind so verletzt, dass sie den Kontakt zu Johanna abbrechen.

Seit Johanna zurück ist, versucht sie, ihre mittlerweile 85-jährige Mutter in ihrer Wohnung anzurufen. Sie erreicht sie nicht, versucht es immer wieder. Warum geht die Mutter nicht ans Telefon? Hat Ruth ihre Nummer gesperrt? Johanna fragt per Email bei der Schwester nach und erhält keine Antwort. Auch auf ihre Briefe an die Mutter erfolgt keine Reaktion. Sie wünscht sich verzweifelt, mit der Mutter in Kontakt zu treten, um über die Vergangenheit zu sprechen, und sie beginnt, sich den Alltag der Mutter, wie er sein könnte, vorzustellen. Ihr Wunsch, sie zu sehen, ist so groß, dass sie sie heimlich beobachtet und ihr auf ihren Wegen folgt.

Das Buch über den krampfhaften und verzweifelten Versuch der Wiederannäherung einer Tochter an ihre Mutter hat mich gleichermaßen gefesselt und erschüttert. Ich konnte nicht verstehen, dass eine Mutter ihre Tochter nicht sehen will, dass sie sich nicht für Johanna, deren Sohn und den Enkel interessiert. Johanna lässt nicht nur ihre Kindheit Revue passieren und sucht nach den Gründen, weshalb ihre Mutter zu der geworden ist, die sie nun ist, sie hinterfragt auch ihre eigene Vergangenheit und ihre Entscheidungen. Die Autorin schreibt in wunderbarer und intelligenter Sprache, die Kapitel sind kurz, bisweilen umfassen sie nur einen oder zwei Sätze. Die Charaktere sind authentisch und bildhaft gezeichnet. Vigdis Hjorth ermöglicht es dem Leser, intensiv in Johannas Gefühls- und Gedankenwelt einzutauchen und dabei ihren Schmerz zu erleben. 

Mir hat der intensive und berührende Roman, der mich noch lange beschäftigen wird, sehr gut gefallen - absolute Leseempfehlung! 

Bewertung vom 11.09.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


ausgezeichnet

Beeindruckender Debütroman
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat "Sylter Welle", den autobiographischen Debütroman des Sängers, Songwriters und Dichters Max Richard Leßmann, veröffentlicht.

Der Ich-Erzähler Max fährt Ende September mit dem Intercity nach Westerland, um seine Großeltern zu besuchen. Diese machten fast 60 Jahre lang Campingurlaub, hatten 30 Jahre davon sogar einen Wohnwagen. Für drei Tage haben ihn die Großeltern, die bald 90 Jahre alt sind und für die es vielleicht ihr letzter Sylt-Urlaub sein wird, in ihre Ferienwohnung mit Meerblick eingeladen. Diesmal ist einiges anders. Oma Lore holt ihn ab, sie ist zu Fuß gekommen, und sie hat ihm erstmals keine Apfelringe mitgebracht.

Während dieser drei Tage erinnert sich Max nicht nur an die Ferien seiner Kindheit und Jugend, die er mit den Großeltern auf dem Campingplatz verbrachte, sondern auch an die Mitglieder seiner Familie. Wir erfahren, dass seine Mutter wegen Max' übermäßigen Zuckerkonsums regelmäßig im Clinch mit ihrer Schwiegermutter lag, dass Oma nichts von Sonnenschutzmitteln hielt und Onkel Jacob Max' Lieblingsonkel war. Oma Lore, die sich als Familienoberhaupt sieht, ist eine resolute und harte Frau, bei der die Liebe hauptsächlich durch den Magen geht, während Opa Ludwig Tagebuch führt, Stufen zählt und seine Frau so nimmt, wie sie ist, Hauptsache, das Mittagessen steht jeden Tag pünktlich um 12 Uhr auf dem Tisch.

Die Handlung springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Die Erzählung über die Ereignisse während Max' Besuch bei den Großeltern in der Ferienwohnung wird unterbrochen durch seine Erinnerungen. In Rückblenden setzt sich so nach und nach die Familiengeschichte zusammen. Wir lernen eine Familie kennen, die nach außen hin eher rau als herzlich miteinander umgeht, aber trotzdem immer füreinander da ist. Der Autor erinnert sich auch an tragische und traumatisierende Ereignisse.

Das Buch liest sich flüssig, ich mag den Sprachstil, ganz besonders aber gefällt mir der Humor, den der Autor in sein Buch einfließen lässt. Viele Anekdoten brachten mich zum Schmunzeln, und es gab ernste Begebenheiten, die mich nachdenklich gestimmt haben. Es geht in dem Buch auch um Depressionen und Demenz, um Tod und Trauer. Max Richard Leßmann charakterisiert seine Großeltern und andere Familienmitglieder liebevoll und mit viel Humor.
 
Ich habe die warmherzige Hommage des Autors an seine Großeltern, die mich berührt und erheitert hat, mit sehr viel Freude gelesen. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 10.09.2023
Vom Himmel die Sterne
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


ausgezeichnet

Mitreißend und unterhaltsam
Der Hoffmann und Campe Verlag hat "Vom Himmel die Sterne", den neuen Roman der Amerikanerin Jeannette Walls, veröffentlicht. Ich habe vor 15 Jahren mit großer Begeisterung ihren autobiografischen Bestseller "Schloss aus Glas" gelesen, der auch als Verfilmung sehr erfolgreich war, und war daher sehr neugierig auf ihr neues Werk. Ich bin nicht enttäuscht worden.
 
Im Mittelpunkt des Romans, der in der Zeit der Prohibition spielt, steht die Ich-Erzählerin Sallie Kincaid. Sie wächst in einer Kleinstadt in Virginia als Tochter des mächtigen und vermögenden Duke auf, der durch einen Gemischtwarenladen, den Erwerb von Mietobjekten und den Verkauf von Schwarzgebranntem zu Reichtum gekommen ist. Nach dem Tod von Sallies Mutter heiratet der Vater bald wieder und bekommt mit seiner Frau Jane einen Sohn, Eddie. Als Sallie 8 Jahre alt ist, möchte sie ihrem Halbbruder das Fahren mit dem roten Bollerwagen beibringen, den der Duke ihr geschenkt hat. Dabei kommt es zu einem schweren Unfall, in dessen Folge Jane durchsetzt, dass Sallie zu ihrer Tante Faye nach Hatfield geschickt wird. Der Vater, der seine Tochter selten besucht, lässt Faye nur eine geringe Unterstützung für Sallies Lebensunterhalt zukommen, so dass Faye und ihre Nichte gezwungen sind, als Wäscherinnen zu arbeiten.
 
Als nach fast 10 Jahren Jane an der Grippe stirbt, darf Sallie wieder nach Hause zurückkehren. Ihre Aufgabe ist es fortan, Eddie zu unterrichten. Der Duke heiratet bald wieder, seine neue Ehefrau Kat nimmt sich nun des Jungen an, und Sallie überredet ihren Vater, für ihn als Chauffeurin und Geldeintreiberin arbeiten zu dürfen. Nachdem der Vater überraschend stirbt, tritt nach weiteren Todesfällen Sallie das Alleinerbe an.  Um das Überleben des Unternehmens und ihrer Familie zu sichern, wird sie zur Schmugglerin und zur Anführerin eines Bandenkriegs.
 
In gewohnt schönem Sprachstil erzählt die Autorin die mitreißende Geschichte der Familie Kincaid. Wir erleben den Duke, der als Alleinherrscher die Geschicke seiner Familie und des Unternehmens lenkt, und die eigensinnige und mutige Sallie, die nicht dem damaligen Frauenbild entspricht und dafür kämpft, sich in der Männerdomäne zu behaupten. Sallies Leben hat weniger Höhen als Tiefen, sie muss Schicksalsschläge und Enttäuschungen verkraften. Ihre Entwicklung im Laufe des Buches hat mich beeindruckt. Als sie erkennt, dass die Prohibition zu mehr Armut und stärkerer Arbeitslosigkeit führt, handelt sie. Im letzten Teil des Romans kommt es zu überraschenden Wendungen, und es werden einige Familiengeheimnisse aufgedeckt. 
 
Das Buch, das sich auch mit den Themen Gewalt und Rassismus auseinandersetzt, hat mir sehr gut gefallen, es hat mich von der ersten Seite bis zum stimmigen Ende gefesselt und fasziniert. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.09.2023
Wie ich lernte, den Fluss zu lieben
Vinogradova, Laura

Wie ich lernte, den Fluss zu lieben


ausgezeichnet

Wunderschön erzählt und sehr berührend
Der Paperento Verlag hat den Roman "Wie ich lernte, den Fluss zu lieben" der lettischen Autorin Laura Vinogradova, der 2021 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, veröffentlicht. Das gebundene Buch ist Teil der Schöne Bücher Bibliothek, die von unabhängigen Verlagen zusammengestellt wurde und 10 Bände umfasst. Es ist sehr liebevoll gestaltet, hat ein Lesebändchen und enthält zahlreiche wunderschöne schwarz-weiße Illustrationen.

Auf 120 Seiten erzählt die Autorin in wunderschöner Sprache die Geschichte der 36-jährigen Rute. Sie hat Schlimmes erlebt, die Mutter sitzt im Gefängnis, ihre drei Jahre ältere Schwester Dina verschwand 10 Jahre zuvor nach einem Besuch bei Rute spurlos. Rutes Schmerz sitzt tief, die ständige Frage, was mit ihrer Schwester passiert ist, quält sie. Regelmäßig schreibt sie emotionale Briefe an Dina.

Nach dem Tod des Vaters Jule, den Rute nie kennengelernt hat, erbt sie dessen kleines Haus am Fluss und beschließt, dort den Sommer zu verbringen. Sie verzichtet auf ihr luxuriöses Zuhause in der Stadt und begnügt sich nun damit, ganz einfach zu leben, ohne fließendes Wasser, ohne Sanitäreinrichtungen. Bald lernt sie ihre Nachbarin, die schwangere Matilde kennen, die einen kleinen Sohn hat. Durch Matilde lernt sie auch deren Bruder Kristofs kennen, der ihr viel von ihrem Vater erzählt. Rute muss das Bild korrigieren, das sie von Jule hatte, ihre Mutter hatte den Vater immer ganz anders dargestellt.

Der Roman hat mir sehr gut gefallen, es ist ein ruhiges, in wunderbarer Sprache geschriebenes Buch, in dem es um Liebe und Freundschaft, Sehnsucht und Leid, aber auch um Hoffnung geht. Die Figuren sind sensibel und authentisch beschrieben. Ich konnte mich sehr gut in Rute hineinversetzen und ihren Schmerz und ihr Leid spüren. Sehr berührend fand ich die emotionalen Briefe, die Rute an ihre Schwester schreibt.

Es hat mir viel Freude bereitet, diese wunderschöne Geschichte, die mich sehr bewegt und zutiefst berührt hat, zu lesen. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 07.09.2023
Der beste Platz zum Leben
Weiß, Anne

Der beste Platz zum Leben


ausgezeichnet

Humorvoll, informativ und bestens recherchiert
In ihrem neuen Buch "Der beste Platz zum Leben - Wie ich loszog, ein Zuhause zu finden, das zukunftstauglich ist und glücklich macht" stellt Anne Weiss unterschiedliche Wohnformen vor und schildert mitreißend und humorvoll ihre persönlichen Erfahrungen mit den von ihr durchgeführten Wohnexperimenten. Sie beschreibt die Wohnungsprobleme und Wohnungsnot in unserem Land und erklärt kurzweilig und fesselnd geschichtliche, politische und gesellschaftspolitische Hintergründe.

Die Autorin ist Ende vierzig, Minimalistin aus Überzeugung, ökologische Nachhaltigkeit ist ihr wichtig. Anne Weiss fährt mit dem Fahrrad und dem Zug statt mit dem Auto, macht sich Gedanken über unsere Zukunft sowie menschenwürdiges und bezahlbares Wohnen. Sie beschließt, unterschiedliche Wohnexperimente durchzuführen und erzählt in ihrem Buch, welche Erfahrungen sie dabei machte. So begleiten wir sie bei ihren Umzügen u.a. in ein Haus auf dem Land und in einen Eisenbahnwaggon. Sie wohnte in einem Tiny House, im Smart Home eines Freundes, hat sich in einem Ökodorf mit Selbstversorgung eingebracht und in einer Jurte gewohnt. Mitreißend und äußerst unterhaltsam beschreibt sie nicht nur ihre Aufenthalte und deren Vor- und Nachteile, sondern vermittelt auch weiteres Hintergrundwissen über die jeweilige Wohnform. Über ihre Wohnexperimente hinaus gibt es auch interessante Kapitel über Wohngenossenschaften und Projekte, Wohnen im Alter sowie den Wohnungsmarkt. In ihrem Nachwort widmet sich die Autorin besonders den Problemen wohnungsloser Menschen.

Anne Weiss' gründliche Recherche zu vielen Themen hat mich sehr beeindruckt, die Ausführungen zur Wohnsituation im 19. Jahrhundert fand ich hochinteressant. Außerdem weiß ich nun mehr über smartes Wohnen, Solarstromgewinnung, autofreie Siedlungen, Selbstversorgung, optimale Baumaterialien und deren Lebensdauer, Strohballenhäuser und Genossenschaftsmodelle. Ich kann mir vorstellen, dass das Buch vielen, die ihren besten Platz zum Leben noch nicht gefunden haben, wertvolle Denkanstöße geben kann. Sehr hilfreich sind auch die zahlreichen Links, die zu weiteren Informationen führen, sowie das 12-seitige Quellenverzeichnis am Ende des Buches. Ich finde die Mischung aus Sachbuch und eigenen Erlebnissen der Autorin äußerst gelungen und hatte dank des schönen Sprachstils und ihres netten Humors sehr viel Lesefreude.

Absolute Leseempfehlung für dieses unterhaltsame, informative und bestens recherchierte Buch!

Bewertung vom 04.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

Liebevoll und humorvoll
Das Cover des neuen Romans von Wolf Haas ist recht ungewöhnlich gestaltet. Der Schutzumschlag erinnert an Packpapier, einen aussagefähigen Klappentext sucht man vergebens.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Marianne, die Mutter des Autors. Der Ich-Erzähler Wolf Haas fällt aus allen Wolken, als seine im Altersheim lebende fast 95-jährige Mutter ihm drei Tage vor ihrem Tod mitteilt, dass es ihr gut gehe. Sein ganzes Leben lang hat er nur von ihr gehört, dass es ihr schlecht gehe. Sie ist demenzkrank und möchte wissen, wie es ihren Eltern geht, Wolf soll sie anrufen. Am nächsten Tag erzählt er ihr, dass er angerufen habe, es gehe ihnen gut, nur der Vater habe einen Schnupfen. Aber es gehe ihm schon besser.

Liebevoll und mit viel Humor erzählt der Autor in seinem Buch von den letzten Tagen im Leben seiner Mutter bis zu ihrer Beerdigung. Offen und ehrlich lässt er ihr Leben Revue passieren und dabei viele Erzählungen seiner Mutter in der Ich-Form und in ihrer Mundart einfließen. Er erinnert sich an das gemeinsame Leben mit ihr und an zahlreiche Gespräche. Dabei lernen wir Marianne immer besser kennen, wir tauchen ein in ihr Leben und erfahren viel über ihre entbehrungsreiche Kindheit, die Kriegsjahre und die Jahre in der Schweiz. Sie war eine eigenwillige, eine schwierige Frau mit Ecken und Kanten, die "nicht mit den Leuten konnte". 

Marianne Haas wird 1923, im Jahr der Hyperinflation, als Tochter einer Magd und eines Wagnermeisters geboren. Das Geld ist knapp, sie wächst mit 9 Geschwistern auf und arbeitet bereits mit 12 Jahren auf einem Bauernhof. Das Thema Inflation zieht sich durch ihr ganzes Leben, sie träumt vom Eigentum, einem eigenen Haus oder einer Eigentumswohnung. Das ist ihr Lebensziel, dafür arbeitet sie, und dafür spart sie eisern. Bereits im Kindesalter weiß der Autor alles über die 3 Phasen eines Bausparvertrages und die Berechnung der Bewertungszahl. Doch die anhaltende Inflation macht es der Mutter unmöglich, ihren Traum zu verwirklichen. Erst mit ihrem Tod geht ihr Wunsch nach Eigentum in Erfüllung.

Das Buch ist in eigenwilligem Sprachstil geschrieben und liest sich flüssig. Den Wechsel zwischen den Erzählungen der Mutter in der ihr eigenen Sprache und den Erinnerungen des Autors fand ich sehr gelungen. Der mit viel Humor und Sprachwitz erzählte Roman ist kurzweilig und hat mir sehr gut gefallen. Leseempfehlung von mir!

Bewertung vom 20.08.2023
Wilde Jagd
Freund, René

Wilde Jagd


ausgezeichnet

Spannende und humorvolle Geschichte mit Tiefgang
Der österreichische Autor René Freund hat seinen neuen Roman "Wilde Jagd" veröffentlicht.

Im Mittelpunkt der spannenden Geschichte steht der 53-jährige Quintus Erlach. Er ist Philosophieprofessor an der Universität in Salzburg und lebt derzeit in seinem heruntergekommenen Elternhaus in Stein im Gebirge, während seine Ehefrau Lou, die Ärztin ist, in Südamerika über Schamanismus forscht. Die gemeinsame Tochter Michaela redet eigentlich nicht mehr mit ihrem Vater, aber während ihres Auslandssemesters in Kanada darf er gern ihren Hund Machtnix betreuen.
Auf einem Spaziergang lernt Quintus die seltsame Evelina kennen, die einen Plüschhund namens Bruno in der Hand hält. Sie kommt aus der Slowakei und arbeitet seit 2 Wochen als Pflegerin für Herwig Zillner. Der 88-Jährige sitzt im Rollstuhl und ist auf Unterstützung und Hilfe angewiesen. Evelina erzählt Quintus, dass ihre Vorgängerin Angelika spurlos verschwunden ist, und sie beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Wir begleiten den Geisteswissenschaftler, der dem Alkohol sehr zugeneigt ist, und die Pflegerin mit den allem Anschein nach seherischen Fähigkeiten über einen Zeitraum von 12 Tagen bei ihrer Suche nach Angelika. Dabei stoßen sie bei den Dorfbewohnern auf Ablehnung und eine Mauer des Schweigens, bis jemand Quintus auf dem Zeltfest zuflüstert, er solle sich die Sundberg-Höhle anschauen ...

Der Roman hat mir sehr gut gefallen. Er ist in intelligenter Sprache geschrieben und liest sich flüssig. Der Autor lässt seinen herrlichen Humor in die Geschichte einfließen und sorgt damit für manches Schmunzeln, z.B. über den Idioten-Apostroph, dem man in der Tat häufig begegnet. Es ist ihm gelungen, nicht nur die Hauptcharaktere, sondern auch die Nebenfiguren sehr liebevoll und bildhaft zu skizzieren.
Das spannende Buch hat mich von Beginn an bis zur erschütternden Auflösung gefesselt. Es gab eine Reihe von Verdächtigen, vollkommen überraschende Wendungen und gekonnt gelegte falsche Fährten. Das Ende ist stimmig und beantwortet alle Fragen.

Ich finde die geistreiche und vergnügliche Mischung aus Komödie und Krimi, gespickt mit Gesellschaftskritik und etwas Esoterik, sehr lesenswert, und es hat mir viel Freude bereitet, Quintus' philosophischen Gedanken zu folgen. Das war zwar mein erster Roman von René Freund, aber mit Sicherheit nicht mein letzter! Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.08.2023
Sommersonnenwende / Wolf und Berg ermitteln Bd.1
Engman, Pascal;Selåker, Johannes

Sommersonnenwende / Wolf und Berg ermitteln Bd.1


ausgezeichnet

Gelungener Auftakt einer neuen Krimireihe
Die schwedischen Autoren Pascal Engman und Johannes Selåker haben ihren ersten gemeinsamen Kriminalroman veröffentlicht. "Sommersonnenwende" bildet den Auftakt einer neuen Reihe um den Kriminalkommissar Tomas Wolf und die Journalistin Vera Berg.
 
Stockholm im Sommer 1994. Mit über 30 Grad über Wochen hinweg ist es ungewöhnlich heiß. Das Land fiebert mit seiner Fußballnationalmannschaft, die in den USA um den Weltmeisterschaftspokal kämpft. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien brachte viele Flüchtlinge ins Land, der Rassismus nimmt zu. Im Schatten des Massenmords von Mattias Flink in Falun geschieht ein weiterer Mord. Eine junge Migrantin wird in einem Stockholmer Vorort tot aufgefunden, sie wurde vergewaltigt und erdrosselt.
 
Kommissar Tomas Wolf ist nach seinem Einsatz als UN-Soldat im Jahr 1993 in Bosnien-Herzegowina bereits wieder bei der Stockholmer Kriminalpolizei tätig und ermittelt im Mordfall der jungen Frau. Er ist durch seine schockierenden Kriegserlebnisse schwer traumatisiert, leidet unter Aussetzern und Panikattacken, was sein Familienleben und seine Ehe mit Klara belastet. Bevor er Polizist wurde, war er genau wie seine beiden Brüder Neonazi.
Die junge Journalistin Vera Berg ermittelt in der gleichen Mordsache. Sie arbeitet erst seit kurzem bei einer Stockholmer Zeitung und ist dort großem Druck ausgesetzt. Vor ihrem kriminellen Freund Jonny, mit dem sie vier Jahre in Malmö zusammenlebte und der seit einer Woche nicht mehr nach Hause gekommen ist, ist sie geflohen. Sie hat seinen 6-jährigen Sohn Sigge mitgenommen, um das Kind, das bereits seine Mutter verloren hat, nicht dem Jugendamt zu überlassen. Auch Vera hat Schweres erlebt. Ihre Eltern sehen sie nicht mehr als ihre Tochter an, seit vor 12 Jahren etwas Schreckliches geschehen ist.
Bald kreuzen sich Tomas' und Veras Wege, und gemeinsam jagen sie den Frauenmörder. Hierbei begibt sich vor allem Vera durch ihre Alleingänge in große Gefahr. 
 
Im Mittelpunkt des Romans steht zwar die spannende Suche nach dem brutalen Frauenmörder, aber auch das Privatleben der beiden Ermittler nimmt sehr viel Raum ein. Wir erleben Tomas' innere Zerrissenheit und Veras ehrgeizige Bemühungen, ihren Arbeitgeber zufriedenzustellen und gleichzeitig für Sigge da zu sein. Wir sehen aber auch unprofessionelles Verhalten beider Protagonisten, Korruption und Erpressung. 
 
Der Krimi hat mir sehr gut gefallen. Er ist von Beginn an sehr spannend und fesselnd. Das Buch ist in schönem und klarem Sprachstil geschrieben, es liest sich flüssig. Die Figuren sind bildhaft dargestellt. Gut gefallen hat mir auch der kritische Blick auf die politische und gesellschaftspolitische Situation Schwedens und die Rassismusprobleme des Landes in den Neunzigern. Auch der Blick hinter die Kulissen einer Zeitungsredaktion war für mich äußerst interessant. Nervend fand ich, dass neben der Tatsache, dass mehrere Romanfiguren übermäßig dem Alkohol zugesprochen haben, im Buch gefühlt zigmal eine Zigarette angezündet oder geascht wurde. 
 
Erwähnenswert ist das außergewöhnlich schön gestaltete Cover mit seinem Farbschnitt.
Das spannende Buch endet zwar mit gleich mehreren Cliffhangern, dennoch freue ich mich schon auf "Wintersonnenwende", den nächsten Teil der Reihe. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.08.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


ausgezeichnet

Hinreißender Debütroman über zwei Freunde
Der Debütroman "Leonard and Hungry Paul" des irischen Autors Rónán Hession wurde bereits 2019 in Irland und England veröffentlicht. Damit das erfolgreiche Buch auch in deutscher Übersetzung erscheinen konnte, haben Frauke Meurer & Torsten Woywod eigens einen Verlag gegründet.

Leonard, schüchternes Kind schüchterner Eltern, lebt auch mit über dreißig noch bei seiner verwitweten Mutter. Sie schätzen sich, leben friedlich miteinander und gehen gemeinsam auf Reisen. Beide lieben es, zusammen in Museen zu gehen und Kirchen zu besichtigen. Nachdem seine Mutter überraschend an einem Herzinfarkt verstirbt, muss Leonard sich einem neuen Alltag stellen.
Sein bester und einziger Freund ist Paul, der wie er über dreißig ist, noch bei seinen Eltern lebt und sich dort wohlfühlt. Paul arbeitet aushilfsweise als Briefträger, Leonard verfasst als Ghostwriter Sachbücher und Lexika für Kinder. Beide sind introvertiert, zufrieden mit ihrem Leben, und sie treffen sich regelmäßig, um Gesellschaftsspiele zu spielen. Doch bald gibt es Veränderungen in ihrem Leben, neue Chancen eröffnen sich.

Der Autor erzählt die vollkommen kitschfreie Geschichte, die mich von der ersten Seite an begeistert hat, in ruhigem und brillantem Sprachstil. Der Leser lernt neben Leonard und Paul sowie dessen Eltern auch Pauls Schwester Grace kennen, die sich mitten in den stressigen Vorbereitungen für ihre Hochzeit befindet. Sie liebt ihren Bruder, der zu ihrem Leidwesen nicht daran denkt, aus seinem Kinderzimmer auszuziehen, um endlich ein eigenständiges Leben zu führen.

Warmherzig und humorvoll beschreibt Rónán Hession seine Protagonisten. Sie sind sehr speziell, etwas unbeholfen im Umgang mit anderen, in ihren Gewohnheiten fest verankert und wissenschaftlich interessiert. Das Miteinander der Freunde ist geprägt von großem Interesse am anderen, Achtung und Freundlichkeit. Beide sind sehr sympathisch und mir schnell ans Herz gewachsen. Sehr gern habe ich Leonard und Paul begleitet und mitgefiebert, wenn sie vor besonderen Situationen standen. Immer wieder bringt uns der Autor zum Schmunzeln, z.B. beim Anzugkauf, dem Konfekt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum bereits lange abgelaufen ist oder dem Deppenapostroph.

Es hat mir sehr viel Freude bereitet, dieses außergewöhnliche und berührende Buch zu lesen.
Ich freue mich schon jetzt auf den zweiten Roman des Autors, der hoffentlich bald auch in deutscher Übersetzung zu lesen sein wird.
Absolute Leseempfehlung von mir für diesen unterhaltsamen, humorvollen und tiefgründigen Roman, den ich mir auch sehr gut als Vorlage für einen Film vorstellen kann.

Bewertung vom 13.08.2023
Und wir tanzen, und wir fallen
Newman, Catherine

Und wir tanzen, und wir fallen


ausgezeichnet

Emotionaler Abschied
Im Debütroman "Und wir tanzen, und wir fallen" der amerikanischen Autorin Catherine Newman geht es um die intensive Freundschaft zweier Frauen, der 45-jährigen Ich-Erzählerin Ashley, die zwei Töchter hat und von ihrem Mann Honey getrennt lebt, und ihrer Freundin Edith, die mit Jude verheiratet ist und einen 7-jährigen Sohn, Dash, hat. Ash lebt in Massachusetts, Edi in New York. Die Frauen kennen sich seit über 40 Jahren, gingen gemeinsam in den Kindergarten und besuchten die gleiche Grundschule. Sie verbrachten 6 Monate in Italien und richteten die Hochzeit der besten Freundin und die Babypartys füreinander aus. Ash und Edi verbindet eine intensive Freundschaft und viele gemeinsame Erinnerungen. 

Edi ist vor drei Jahren unheilbar an Eierstockkrebs erkrankt. Weitere Therapien kommen für sie nicht mehr in Frage, und sie soll in ein Hospiz verlegt werden. Da in New York kein freier Hospizplatz zu finden ist, trifft sie gemeinsam mit Jude und Ash die schwere Entscheidung, in ein Hospiz in der Nähe von Ash zu ziehen. Dort wird Ash sich von nun an intensiv um ihre Freundin kümmern und sie auf dem letzten Stück ihres Lebensweges begleiten. Sie verbringt viel Zeit an Edis Krankenbett, sie erinnern sich an gemeinsame Erlebnisse, und Ash versucht, Edis bescheidene Wünsche zu erfüllen. Dabei setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihrer Freundin den von ihr so ersehnten sizilianischen Zitronen-Polenta-Rührkuchen zu beschaffen.

Die ergreifende Geschichte ist ganz wunderbar und liebevoll erzählt, sie ist trotz aller Tragik auch sehr humorvoll. Es geht in dem Buch nicht nur um Edis Sterben und Trauer, es geht auch um Liebe und die Kraft der Freundschaft, das Leben und Hoffnung, es wird geweint, und es wird gelacht. Und es ist wunderschön und herzzerreißend, wie die Familie und die Freunde sich von Edi verabschieden.

Sehr gut gefallen hat mir die Entwicklung der egoistischen und eifersüchtigen Ash zur selbstlosen Freundin, die Edi liebevoll umsorgt und Tag und Nacht bis zur totalen Erschöpfung für die Sterbende da ist. Catherine Newman beschreibt die Charaktere, die mir sehr schnell ans Herz gewachsen sind, mit viel Liebe und sehr bildhaft. Die Autorin macht mit ihrem Buch Zurückgebliebenen Mut, nach einem endgültigen und schmerzhaften Abschied einen Weg zu finden, mit der Erinnerung an ihre Lieben weiterzuleben.

Ich habe das emotionale Buch sehr gern gelesen, es hat mich zutiefst berührt. Absolute Leseempfehlung!