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ein.lesewesen
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ZW

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Insgesamt 99 Bewertungen
78910
Bewertung vom 12.04.2023
Finstere Lügen
Baldacci, David

Finstere Lügen


schlecht

Billig gemachter Blockbuster!

So funktioniert Hollywood. Man nehme ein Thema, von dem der Durchschnittsbürger nur wenig Ahnung hat, das aber bedrohlich wirkt, in dem Fall Geldwäsche am Aktienmarkt von undurchsichtigen Wall-Street-Playern. Dann einen Action-Held, ein Ex-Soldat ist immer gut, schalte das Tempo hoch, dass der Zuschauer durch die Geschichte rasen muss, und fertig ist der Blockbuster.
Leider hat für mich in dem Buch nichts funktioniert. Angefangen bei Travis, der aus zweifelhaften Gründen (um sich mit seinem Vater zu versöhnen) aus dem Armeedienst ausscheidet und als Analyst bei einem Finanzriesen anfängt. (Wir erfahren eigentlich nichts über das, was er da tut.) Nachdem man in einem leeren Stockwerk der Firma seine Exfreundin erhängt auffindet, steht er unter Mordverdacht. (Allerdings hat die Polizei keine Beweise, nur so ein Gefühl.) Ein Ex-General vom Heimatschutzministerium erpresst ihn, dass er den zweifelhaften Vorgängen in Travis’ Firma auf die Schliche kommen soll. Unser muskelbepackter Held sollte also ordentlich in Schwierigkeiten kommen. Da er aber außer Kämpfen keinerlei weitere Eigenschaften besitzt, kann sich in Schlägereien gegen alles wehren, was haarsträubend geschildert wird. Obwohl er weder von seinem Job noch von Ermittlungen irgendeine Ahnung hat, ist er natürlich sofort Profi. Alle Achtung! Ein bisschen Jack Reacher für Arme.
Um weitere Verwirrung zu stiften, werden noch ein paar Leute umgebracht, die Polizei als Dilettanten dargestellt, ein paar Frauen als kleine Dummchen ins Rennen geschickt und ein paar falsche Fährten wie Leuchtbojen platziert. Und wie gesagt, damit die gesamte Unlogik der Story nicht auffällt, wird der Turbo eingeschaltet und die Action-Kanone gezündet. Und bitte nicht so genau über die Dialoge lesen, die teils hanebüchen sind. »Scheiße« ist so ziemlich das Lieblingswort von allen.

Die Figuren sind nicht mehr als ausreichend beschriebene Kleiderständer, die wahlweise einen Bugatti fahren oder ein Motorrad, sich mit einem Bikini am Pool in einem Palast räkeln und beim Überqueren der Straße ständig joggen müssen.
Das alles ist so lächerlich, so billig, so vorhersehbar, dass ich beinahe körperliche Schmerzen hatte. Die letzten 100 Seiten habe ich mir nicht mehr angetan, weil es mich schlichtweg nicht mehr interessiert hat und ich mir das nicht mehr antun wollte.

Auch wenn ich es lieber verschweigen würde, aber ich habe vor ungefähr fünfzehn Jahren Baldacci gern gelesen. Heute frage ich mich ernsthaft, was mich daran begeistert hat. War er damals besser? Hat sich mein Anspruch so sehr verändert? Man darf nicht vergessen, dass einige seiner Bücher erfolgreich verfilmt wurden, zum Beispiel »Der Präsident« unter »Absolut Power«. Klar, letztlich ist es nur Unterhaltung ohne jeglichen literarischen Anspruch, aber die Storys hatten Hand und Fuß und waren bei weitem nicht so an den Haaren herbeigezogen wie diese hier.
Das war das schlechteste Buch in diesem Jahr und definitiv mein letzter Baldacci.

Bewertung vom 10.04.2023
Tochter einer leuchtenden Stadt
Suman, Defne

Tochter einer leuchtenden Stadt


gut

Schöne Geschichte begraben unter wirren Zeitsprüngen

1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten zusammen. 17 Jahre später werden alle Nicht-Muslime vertrieben und viele Stadtteile nur noch Schutt und Asche sein.

Suman macht die Stadt mit all ihren Farben, Gerüchen, Bräuchen und Sprachen lebendig. Das Leid und die Zerstörung waren für mich spürbar. Ihr atmosphärischer Schreibstil ist sicher der größte Pluspunkt an dem Buch. Aber die Autorin hat es mir echt schwer gemacht. Ich habe mich gefreut, mehr über ein Land zu erfahren, dessen Historie ich kaum kenne.
Die Geschichte um die drei Familien (levantinische, griechische und türkische) ist das reinste Chaos. Als wäre ein Tsunami über die ägäische Hafenstadt hinweggefegt und hätte überall nur Fragmente und Andeutungen hinterlassen, die ich mir mühsam zusammenklauben musste. Alle historischen Zusammenhänge musste ich mir im Netz suchen, um ansatzweise die Beweggründe der Figuren zu verstehen, Hintergründe fehlen hier völlig. Warum zerbrach das Osmanische Reich nach dem 1. WK? Weshalb waren die Menschen froh, dass die Griechen das Land übernahmen?

Die Erzählerin Scheherazade taucht nur sporadisch auf, ergeht sich in Rückblicken und Voraussagungen, die zeitlich nicht einzuordnen sind, die mich immer wieder den Faden verlieren ließen. Schon nach 100 Seiten hatte ich mehr Fragen im Kopf als Antworten. Die einzelnen Geschichten der Familien laufen zeitlich ebenso wenig synchron, ohne erkennbare Zuordnung. Ist die eine Frau im vorigen Kapitel bereits tot, steht sie im nächsten wieder in der Küche.
Doch damit nicht genug.

Um die sprachlichen Eigenheiten der Familien zu unterstreichen, nutzt die Autorin zahlreichen Vokabeln, die sie permanent in den Dialogen einflechtet. Wer wie ich weder gr, fr, ar noch tr beherrscht, findet die Übersetzung in einem anhängenden Glossar. Das empfand ich als äußerst mühsam und nervig.

Fazit: Unter dem ganzen Chaos ist eine wunderschöne Geschichte begraben, die ich wirklich gern gemocht hätte. Wer historische Vorkenntnisse hat und mit den Sprachen vertraut ist, wird hier vielleicht mehr Freude haben. Ich empfand sie lediglich als anstrengend und unbefriedigend. Am Ende hatte ich mich im kosmopolitischen Smyrna hoffnungslos verirrt.

Bewertung vom 06.04.2023
Der Morgen / Art Mayer-Serie Bd.1
Raabe, Marc

Der Morgen / Art Mayer-Serie Bd.1


ausgezeichnet

Abolut gelungener Reihenauftrakt!

Eigentlich kann ich an alles, was einen guten Thriller ausmacht, einen Haken setzen.
Fazit: Raabe gehört für mich zu den besten Thrillerautoren, die Deutschland momentan zu bieten hat. In der Ouvertüre der neuen Thrillereihe beginnt Raabe gleich mit einem Paukenschlag. Wer Tom Babylon mochte, wird Art Mayer lieben. Ruppig, kantig aber voller Empathie, mit einer Vergangenheit, über die er in seinem neuen Fall noch stolpern wird.
Eine eisige Nacht in Berlin. An der Siegessäule wird in einem Kleinlaster die Leiche einer Frau gefunden. Jemand hat mit Blut etwas auf ihren nackten Körper geschrieben – die Privatadresse des Bundeskanzlers Henrik Westphal. Und Arts Vergangenheit ist enger mit Westphal verknüpft, als es zunächst scheint.
Die Tote ist fatalerweise die Frau des Gesundheitsministers und in wenige Tage beginnt der G20-Gipfel. Verständlich, dass der Fall nicht an die Öffentlichkeit drängen soll, doch es läuft nichts nach Plan.
Am Tatort trifft Art auf seine neue Kollegin Nele Tschaikowski, frisch gebackene Kommissar-Anwärterin. Und Nele, jung, unerfahren aber voller Ehrgeiz, weiß sich von Beginn an in dem männerdominierter Team zu behaupten. Ihr Privatleben läuft nicht ganz nach ihren Vorstellungen und in ihrem Job hat sie gegen einige Vorurteil zu kämpfen.
Auf der zweiten Zeitebene lernen wir – allerdings nur mit Spitznamen – einige Jugendliche kennen, von denen einer der spätere Bundeskanzler werden soll. »Boxer« muss sich einer Mutprobe stellen, die aus dem Ruder läuft und das Leben der Clique beeinflussen soll.
Was in amerikanischen Thrillern gang und gäbe ist, nämlich das Regierungsoberhaupt direkt in einen Mordfall zu verstricken, liest man hierzulande eher selten. Doch wir bekommen hier keinen Polit-Thriller geboten. Hier wird ein Netz aus Geheimnissen, Abhängigkeit und Loyalität gesponnen.

Seinem mitreißenden und fesselnden Erzählstil bleibt Raabe treu, er schafft es, 588 Seiten voller Spannung aufzubauen, Vergangenheit und Gegenwart sauber zu verknüpfen, authentische und vielschichtige Charaktere lebendig werden zu lassen, überraschende Wendungen perfekt zu platzieren und uns eine saubere Auflösung zu präsentieren. Ich sagte ja bereits – Haken dahinter, alles richtig gemacht.
Auch lebt die Geschichte von einem aktuellen Zeitbezug. Der Ukrainekrieg, die Energiekrise, Verschwörungstheoretiker oder Corona fließen spielerisch in die Handlung ein, ohne dass der Leser das Gefühl bekommt: »Nicht schon wieder.«
Eine Sache hat mich persönlich beeindruckt. Wenn es um das Thema gendern geht, fühlen sich manche Bücher für mich wie Maßreglungen an, wirken steif wie ein Fremdkörper, wie ein Muss des Autors, sich davor nicht verschließen zu dürfen. Raabes zeigt, dass dieses Thema noch nicht überall in der Gesellschaft angekommen ist, dass der Mensch halt nicht so perfekt ist, und schnell in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Nele schreckt nicht davor zurück, ihre Vorgesetzten zu korrigieren – auf eine gesunde Art und Weise, versehen mit gezielten Spitzen. Und ja, da sind sie, die Ignoranten, die Zyniker, die Sexisten aber auch die Lernfähigen, mit denen wir es auch im Alltag zu tun haben. Raabes Umgang mit dem Thema fühlt sich für mich realistisch an, nicht belehrend oder aufgesetzt. Das ist für mich die Tonart, die ich mir wünsche, danke dafür.

Zwei Kritikpunkte will ich noch ansprechen, die aber nicht in die Bewertung einfließt. Persönlich finde ich die grelle, pinke Aufmachung des Covers überhaupt nicht schön, okay, Geschmacksache. Der beißende Geruch nach Lösungsmitteln im schwarzen Farbschnitt war aber unerträglich. Vorablesen hat mir das Buch freundlicherweise umgetauscht, aber auch das andere riecht es sehr unangenehm. Für mich ein deutlicher Qualitätsmangel. Habe in einer Buchhandlung extra an anderen (auch schwarzen) Farbschnitten geschnuppert – keiner hat so penetrant gerochen.

Bewertung vom 03.04.2023
Die Frömmigkeit der Schafe / Sardinien-Krimi Bd.3
Némus, Gesuino

Die Frömmigkeit der Schafe / Sardinien-Krimi Bd.3


sehr gut

Erzählt wird uns eine Geschichte, die in dem sardischen Dorf Telévras spielt, wo die Uhren etwas anders ticken als auf dem italienischen Festland. Die eigensinnige Hirtentochter Mariàca Tidòngia springt 1964 aus dem Fenster der Grundschule und geht zurück in die Berge. Doch der einzige Lehrer am Ort, Maestro Marcellino Nonies, will, dass das intelligente Mädchen wenigstens ihren Grundschulabschluss macht. Als ihr Vater sie mit 14 verflucht, weil sie schwanger ist, verschwindet sie von der Insel – das war 1972.
2017 In den 45 Jahren hat sich Mariàca einiges zu Schulden kommen lassen. Jetzt ist sie scheinbar zurück in ihrer Heimat. Nonies scheint der Einzige zu sein, zu dem sie in all der Zeit Kontakt hatte, doch der bestreitet das. Nur wenige Tage später ist er tot.
Brigadiere Ettore Tigàssu, die eigentliche Hauptfigur des Krimis, will anhand einer Aufzeichnung des Lehrers die Geheimnisse um Mariàca aufklären, die im Zusammenhang mit zwei mysteriösen Todesfällen stehen. Erst ganz offiziell, dann aber wider den Anweisungen von oben. Und wer ist eigentlich der Vater des Kindes?

Es war mein erster Krimi aus der Feder eines sardischen Autors. Némus, mit bürgerlichen Namen Matteo Locci, bringt uns seine Heimat nahe. Die Berge Sardiniens, der Genuss von Pecorino und Cannonau, die Ruhe und Beschaulichkeit, in der die Bewohner eine eingeschworene Gemeinschaft bilden. Abgelegen und von dem Rest der Welt vergessen. Zu den etwas kantigen, aber authentischen Charakteren zählen ein paar Kleinkriminelle, ein Schwarzer Pfarrer und der Ich-Erzähler in Gestalt des Autors selbst, der erst spät in der Geschichte auftaucht, aber zu einer wichtigen Figur wird.

Die Geschichte ist kein simpler Krimi, wie ich ihn erwartet hatte. Hat man erst mal die Beziehungen der Charaktere eingeordnet, bekommt man ein authentisches Bild von einem typischen sardischen Dorf, ein wenig Nostalgie und Melancholie inklusive. »Die Frömmigkeit der Schafe« – Gedanken über Schafe und ihr Bedeutung als Herdentiere – wird in den Aufzeichnungen des alten Lehrers philosophisch als Metapher genutzt. Ich habe sie am Ende wiederholt gelesen und dann auch den Sinn dahinter verstanden. Das Buch forderte etwas Aufmerksamkeit, da mir nicht gleich klar war, von wem die Erinnerungskapitel stammten.
Hin und wieder flammt der typische italienische Humor auf, den ich so liebe, die südländische sture Gelassenheit, der Genuss der heimischen Küche und des Weins.
Némus’ Schreibstil ist eingängig und gut zu lesen, die Spannung typisch für einen Krimi. Letztlich hat er mich motiviert, mehr über die Geschichte Sardiniens nachzulesen.
Für das komplette Verständnis des Krimis hätte es wohl die beiden vorigen Teile der Reihe gebraucht, vermute ich mal. Aber es bleiben nur wenige Lücken übrig. Ich werde mir demnächst noch »Die Theologie des Wildschweins« und »Süße Versuchung« zu Gemüte führen, denn neugierig hat mich der Autor auf jeden Fall.

Bewertung vom 22.03.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


ausgezeichnet

Suter seziert gern en détail die Welt der Reichen, so zumindest der Eindruck, wenn man seine Romane gelesen hat. Und er weiß, wo sie ihre Leichen verstecken!
Diesmal nimmt er uns mit in die Villa des Multimillionärs Dr. Peter Stotz, der nicht mehr lange zu leben hat. Stotz hat eine beispiellose Karriere hinter sich, Kunstmäzen, Geldgeber, Königsmacher, Strippenzieher und Politiker.
Wichtig ist ihm jetzt, wo ihm nur noch wenig Zeit bleibt, dass sein Nachlass so geordnet wird, damit die Welt von ihm den richtigen Eindruck behält. Dafür stellt er den jungen Juristen Tom Elmer ein. Tom hat lange und gern studiert, bis seine Geldquelle versiegt ist. Verzweifelt auf der Suche nach einem Job, kommt ihm das Angebot gerade recht. Stotz bietet ihm dafür eine stolze Summe, zu der Tom nicht nein sagen kann. Noch ist Tom aber nicht klar, was von den ganzen Aktenbergen wirklich wichtig ist.

»Nimm die Fakten, die für mich sprechen. Und die Fiktion, die nicht leicht widerlegbar ist.« S.59

Während Stotz’ Leben sich in Umzugskisten vor Tom aufstapelt, scheint sein Arbeitgeber aber etwas anderes auf dem Herzen zu liegen. Er erzählt ihm von seiner großen Liebe Melody, deren Konterfeis im ganzen Haus verteilt sind, zwischen Parfümflakons, Stickereien und Theaterkarten.

»Melody war mein erster Gedanke am Morgen, mein letzter am Abend und fast mein einziger dazwischen. Kennen Sie das?«

Doch Melody verschwindet wenige Tage vor der geplanten Hochzeit. Für Stotz beginnt eine lebenslange Suche. Tom zweifelt allmählich am Wahrheitsgehalt der ausgeschmückten Erzählung. Doch wie weit liegen Wirklichkeit und Fiktion auseinander? Gemeinsam mit Laura, Stotz’ Großnichte, begibt er sich auf die Spurensuche.

Was ist es, was wir am Ende eines Lebens hinterlassen, was ist es wert, zu wissen, was macht einen Menschen aus? Und diese Fragen muss sich nicht nur Tom stellen. Es ist eine Geschichte über Geheimnisse und Täuschungen, über Erlebtes und Fiktives, deren Grenzen ineinander verschwimmen. Am Ende zeigt sich einmal mehr, mit Geld kann man sich nicht alles kaufen.

Suter hat mich wieder mal aufs beste unterhalten. Für ein paar Stunden nimmt er uns mit in die Welt der Reichen am Zürichberg, die für die meisten seiner Leser unbekannt ist, aber lebendig wird. Er verwöhnt uns mit gutem italienischen Essen, dass uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, und guten Aperitifs, (Sherry ist übrigens ein Stehgetränk). Während vielen Autoren hier lediglich klischeehafte Figuren gelingen, macht Suter sie für uns lebendig, greifbar und stürzt sie gern von ihrem Sockel. Er entmystifiziert sie, indem er sie als alte Menschen auf die Toilette schickt und spickt sie mit menschlichen Gebrechen und Krankheiten.
Für mich ist Suter ein großer Menschenkenner, fein beobachtet entblättert er deren Schwächen und Geheimnisse. Halbseidenes und Zwielichtiges spült er an die Oberfläche, versteckt zwischen dezenter Spannung, feinem Humor und raffinierter Übertreibung. Sein Erzählstil ist geschmeidig, ungezwungen mit einer saloppen Leichtigkeit, die mich immer wieder fesselt. Sätze wie:

»Dabei war ich nur eines seiner kulturellen Accessoires. Das literarische Einstecktüchlein«

entlocken mir immer wieder ein Schmunzeln.
Auch wenn die Literaturkritiker gern über ihn herfallen, ihm Adjektivismus und Klischeesierung in referierter Spannungslosigkeit vorwerfen, bleibt Suter für mich einer der großen Romanciers der heutigen Zeit.
Für alle, die noch nicht das Vergnügen hatten, ist »Melody« ein guter Einstieg in die gepflegte sutersche Welt der Unterhaltung.

Bewertung vom 20.03.2023
Ankunft im Alltag
Reimann, Brigitte

Ankunft im Alltag


sehr gut

1961 erschien dieser Roman, der von drei Abiturienten erzählt, die vor ihrem Studium ein Jahr im Kombinat »Schwarze Pumpe« arbeiten. So unterschiedlich ihr Background ist, so verschieden sind auch ihre Beweggründe, dieses praktische Jahr zu absolvieren. Recha wuchs in einem Kinderheim auf, nachdem ihre jüdische Mutter von den Nazis hingerichtet wurde, ihren Vater kennt sie kaum. Curt »mit C« kommt aus einer wohlhabenden Familie, sein Vater ist oft abwesend, die Mutter möchte gern zur Oberschicht gehören, Geldsorgen kennt Curt nicht. Nikolaus’ Vater, ein alter Sozialdemokrat, besteht darauf, seinem Sohn all das zu ermöglichen, wozu er selbst keine Chance hatte. Letztlich sollen sich die drei aber ihre Hörner abstoßen, um das harte Arbeitsleben kennenzulernen. Sie begegnen sich am allerersten Tag an der Bushaltestelle, und beide Jungs verlieben in das »Mahagonimädchen« mit den »ägyptischen Augen«. Recha kann sich mit ihren 17 Jahren für keinen entscheiden, Nikolaus ist ihr zu schwerfällig, Curt zu selbstverliebt.
Ihre Bühne ist die „modernsten Brikettbude von ganz Europa“, ein Braunkohlewerk, das in nur vier Jahren aus dem Boden gestampft wurde. Der Arbeitsalltag ist hart, die Männer sind ruppig, derb aber echte Kumpels. Reimann schafft es, eine genaue Stimmung von der Riesenbaustelle zu schaffen. Ich spürte regelrecht den matschigen Boden, hörte die lauten Maschinen, aber spürte auch die Emotionen der Figuren. Die Autorin lässt uns hinter deren Fassade blicken, zeigt uns ihre Lebensumstände, ihren harten Job, ihren Willen, sich auch im Alter noch fortzubilden. Ihr Brigadeführer Hamann schafft es immer wieder, die Truppe zusammenzuhalten, Außenseiter zu integrieren, sie zu Sonderschichten zu motivieren. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass die DDR-Wirtschaft in den 60ern noch stark vom Westen abhängig war und Materialknappheit an der Tagesordnung war.

Thematisiert hinter der Liebesgeschichte, die typisch für das Alter reichlich verwirrt erscheint, ist aber der Aufbau des Sozialismus. Ich finde, das ist Reimann in allen Facetten gelungen, auch Kritik an vielen Stellen anzubringen, die man heute sicher anders bewertet als damals. Sicher war das Ziel, eine neue, junge Generation heranzuziehen, die sich für die Gemeinschaft einsetzt, ihr eigenes Streben unterordnet zum Wohl aller. Doch gerade an den einzelnen Figuren sieht man, dass die einen für mehr Prämien schuften und die anderen den Sinn der Gemeinschaft längst erkannt haben. Eine großartige Charakterstudie und ein brillantes Zeitzeugnis, das alle begeistern wird, die sich für die DDR-Geschichte interessieren.
Im Gegensatz zu »Die Geschwister«, das ja ein Highlight für mich war, habe ich hier ein paar Kritikpunkte. Reimann experimentiert hier mit der Perspektive, sie springt oft vom personalen zum allwissenden Erzähler, um die Hintergründe der Charaktere für den Leser sichtbar zu machen, was mich aber in keiner Weise gestört hat. Allerdings lässt sie die Figuren reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das verdeutlicht natürlich die Herkunft und den oft rauen Umgang der Arbeiter untereinander, war aber mit der Zeit sehr ermüdend. Damit bleibt dieses Buch hinter ihren Tagebüchern und »Die Geschwister« etwas zurück.

Bewertung vom 17.03.2023
Haus der Stimmen
Carrisi, Donato

Haus der Stimmen


ausgezeichnet

Wetten, dass du sich am Ende des Buchs nicht traust, von zehn an rückwärts zu zählen?

Ein Thriller ohne Ermittler und Leiche, funktioniert das? Oh scusi, Psychothriller sollte es heißen.

»Für ein Kind ist die Familie der sicherste Ort auf der Welt. Oder der gefährlichste.« S.27

Pietro Gerber ist in Florenz ein angesehener Kinderpsychologe, der sich, wie sein Vater Herr B. vor ihm, auf Hypnose spezialisiert hat. Seine professionelle Meinung ist vor allem vor Gericht gefragt, denn unter Hypnose kann er bei ihnen verschüttete Erinnerung aufdecken.
Als eine australische Kollegin ihn bittet, sich ihrer Patientin Hanna Hall anzunehmen, will er zunächst ablehnen, da sie erwachsen ist. Doch das eigentliche Ereignis liegt in Hannas Kindheit. Sie glaubt, ihren kleinen Bruder Ado getötet zu haben. Schon in der ersten Sitzung offenbart sich ihre ungewöhnliche Kindheit. Die Familie blieb nie lange an einem Ort und stellt strikte Regeln auf. Regel Nummer 3: Sag niemals einem Fremden deinen Namen, Regel Nummer 2: Fremde bedeuten Gefahr. Und doch ist Hanna ein glückliches Kind, sie liebt ihre Eltern und wird geliebt. Aber weshalb ist sie mit 11 zu einer Pflegefamilie nach Australien gezogen?
Hanna übt eine sonderbare Anziehungskraft auf Gerber aus, so dass er bald die notwendige Grenze zwischen Therapeut und Patientin überschreitet. Es gibt kein Zurück, denn Hanna weiß Dinge aus seiner Vergangenheit, die er nicht mal seiner Frau erzählt hat. In nur wenigen Tagen wird sein Leben und das seiner Liebsten auf den Kopf gestellt. Weshalb nennt Gerber seinen Vater Herr B und kann nicht über ihn sprechen?
Häppchenweise füttert uns Carrisi mit Details, die so gar nicht zusammenpassen wollen. Scheint eine Frage beantwortet, taucht bereits die nächste auf – das perfekte Katz und Maus Spiel.

Etwas ist Carrisi exzellent gelungen – er spielt ab Seite 1 mit der Angst seiner Leser:innen. Der Nervenkitzel zieht sich durch die undurchsichtige Geschichte, vielleicht weil vielen von uns Hypnose immer noch suspekt erscheint. Um all das glaubwürdig und fühlbar zu machen, hat sich Carrisi selbst hypnotisieren lassen. Und jeder, der einmal eine Therapie gemacht hat, wird feststellen, dass er gründlich recherchiert hat, was einem schon manchmal Angst machen kann. Ohne übermäßige Schockmomente gelingt es ihm, die Spannung durchweg auf einem hohen Level zu halten, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Er hat bewiesen, dass für einen fesselnden Psychothriller auf Schema F verzichtet werden kann, dass es nicht unbedingt Leichen und Ermittler braucht, dafür aber ein ausgeklügelten Plot und undurchsichtige Figuren, die allesamt Leichen im Keller haben.
Vielleicht lässt er am Ende einiges im Unklaren. Für mich war das aber stimmig, denn man nimmt das Mysteriöse und Dunkle noch für eine Weile mit.
Das zentrale Thema aber ist die Frage nach dem Kindeswohl, nicht alles, was richtig scheint, ist auch für die Kinder gut.

»Wenn du Kinder hast, kannst du dir jede Art von Egoismus erlauben, du musst es nur Liebe nennen.« S.182

Fazit: Ein empfehlenswerter Thriller, der einmal mehr das Potenzial zum Blockbuster hat.

Bewertung vom 30.10.2022
Affenhitze / Kommissar Kluftinger Bd.12
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Affenhitze / Kommissar Kluftinger Bd.12


gut

Klufti stand eindeutig zu lange in der Sonne und ist zu einen Stereotypen zusammengeschmolzen und meine Liebe zu ihm gleich mit. Priml, was laut Autorenduo so viel heißt, das war nicht so dolle. Meines Erachtens haben die beiden diesmal zu viel gewollt.

Dass Klufti sich mit der Technik schwertut, wissen wir ja bereits, dennoch wird es so lange ausgeschlachtet, bis es nicht mehr lustig ist. Neben der archäologischen Grabung, die in vielen Teilen zu langatmig war, hatten wir noch Drohnen, fragwürdige Erziehungsmethoden von Tagesmüttern, eine zwielichtige Sekte, Kluftis erste Facebook-Erfahrungen, gesunde Ernährung dank Super-Bowls, Intervallfasten, ein Flohmarkt zu Gunsten von Geflüchteten, und was weiß ich nicht noch alles. Hätte man den einen oder anderen vermeintlichen Gag weggelassen, wäre das Buch auch mit 200 Seiten weniger ausgekommen. Denn irgendwann habe ich nur noch quer gelesen, in der Hoffnung, man möge mich überraschen. War leider nicht so.

Wenn es doch wenigstens einen Spannungsbogen gehabt hätte, aber der war wohl auch der Hitze zum Opfer gefallen. Und wie man sich bei 40° in praller Sonnen so dahinschleppte, so träge zog sich auch die Handlung dahin. Fad, ausgebleicht, abgestanden.

Ich würde mir wünschen, in Zukunft wieder mehr Krimi zu lesen, als auf einem debilen, grantigen Kommissar herumzureiten, der mit jedem Band etwas mehr aus der Zeit fliegt. Sonst wäre es wohl an der Zeit den Kommissar in Rente zu schicken.

Liebes Autorenduo, wenn ihr für die Leistung fünf Sterne wollt, müsst ihr euch die schon selber aus der Pforzer Tongrube rausmeißeln.

Bewertung vom 30.10.2022
Kaltherz
Faber, Henri

Kaltherz


ausgezeichnet

Kennt ihr das, wenn euch ein Buch zurücklässt mit allen schwirrenden Emotionen und ihr euch erstmal sortieren müsst?
Nach Ausweglos waren meine Erwartungen hoch. Und tatsächlich habe ich die Story in nur 14 Stunden inhaliert, mit jedem Satz, mit jedem Wort.

Einmal mehr beweist die Ich-Perspektive, dass man durch nichts näher an eine Figur ranrücken kann. Fabers Wortgewandtheit und bildhaften Vergleiche katapultieren einen direkt in die Köpfe der Figuren, in deren Emotionswelt.
Lansky unbeugsam, rüpelhaft, und kompromisslos. Maries Vater, Jakob, eiskalt, wenn es um den Job geht; Clara, die Mutter, am Boden zerstört. Aber völlig gepackt hat mich die Perspektive der kleinen Marie. Teilweise nur schwer aushaltbar, ich musste manchmal schlucken. Trotz des schwierigen Themas hat der Autor wahres Fingerspitzengefühl bewiesen.

Doch die Geschichte ist viel komplexer, als der Klappentext vermuten lässt. Hier ein Seitenhieb auf die Moral unserer Gesellschaft, dort ein Schlag in die bigotte Magengrube der Kirche. Aber nie mit erhobenem Zeigefinger oder Holzhammer.

Dass er ein Meister der perfekt dosierten Cliffhanger und Wendungen ist, ist kein Geheimnis. Diesmal hatte die Story so eine Sogwirkung auf mich, dass ich an manchen Stellen Schnappatmung hatte. Mit seiner Geschichte schickt mich Faber mal hier hin, mal da hin. Nur damit ich am Ende völlig atemlos bin und merke: Hey, wieder die falsche Richtung. Keine Zeit zum nachdenken, die emotionale Achterbahn geht unaufhörlich weiter, reißt mich mit, stellt alles auf den Kopf und zerfetzt mein Nervenkostüm. Handwerklich perfekt, künstlerisch herausragend.

Ich könnte jetzt mit Superlativen um mich schmeißen, doch sie würden dem nicht gerecht. Oder gibt es eine Steigerung zu Pageturner? Wenn ja, dann heißt sie Henri Faber. Fakt ist, dass dieses Buch alle Thriller, die ich bisher gelesen habe, in den Schatten stellt.
Ich wüsste sofort, wo ich im Buchhandel den Titel einsortieren würde. Im Bestsellerregal, und zwar ganz oben. Danke Henri Faber für ein unvergessliches Erlebnis.

78910