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atzekrobo
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Bücherfreak

Bewertungen

Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 15.10.2014
Kann Töten erlaubt sein?
Lindemann, Marc

Kann Töten erlaubt sein?


ausgezeichnet

Ein bemerkenswertes und wichtiges Buch

Der frühere Nachrichtenoffizier Marc Lindemann geht in seinem bemerkenswerten Buch der Frage nach, unter welchen Umständen die Tötung eines Menschen von Staats wegen gerechtfertigt sein kann. Die USA setzen Drohnen ein, um Menschen zu töten, Israel ist bei der gezielten Tötung von palästinensischen Kommandanten ziemlich perfekt. Solche Einsätze können insbesondere für amerikanische Soldaten ziemlich abstrakt werden. Sie sitzen in Amerika an einem Bildschirm und steuern eine Drohne im fernen Afghanistan – oder irgendwo in der Welt. Marc Lindemann wägt die verschiedenen moralischen und ethischen Dimensionen dieser Art der Kriegführung ab.
Der Einsatz der NATO in Afghanistan wird beendet, und muss nun verarbeitet und nachbereitet werden. Das dürfte in Deutschland gründlicher ausfallen als in anderen Staaten, denn hier sind die Erfahrungen mit staatlicher Gewaltausübung noch enorm gering, jedenfalls in der jüngeren Vergangenheit. Zu dieser Nachbereitung leistet Lindemann einen lesenswerten Beitrag.
In sechs Kapiteln gelingt es ihm, dem Leser deutlich zu machen, wie komplex das Völkerrecht in den entscheidenden Aspekten ist. Allerdings wird auch gezeigt, dass mache Regelungen für die neuen Konflikte nicht mehr passend sind. Ein Beispiel ist die Trennung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten – in den derzeit auftretenden Konflikten ein kaum taugliches Konzept. Dennoch bleiben die gezielten Tötungen in den westlichen Gesellschaften höchst umstritten. Lindemann schildert die moralischen Probleme der Soldaten bei Einsätzen wie in Afghanistan aus eigener Erfahrung und Praxis. Das mag ihm bei Beobachtern an ihren Schreibtischen in der Heimat einige Schelte eintragen – für alle anderen Leser dürfte diese Herangehensweise überaus erhellend sein.

Bewertung vom 18.09.2014
Die Päpste
Pötzl, Norbert F.; Saltzwedel, Johannes

Die Päpste


sehr gut

Eine wirklich fesselnde Lektüre

Nach dem Rücktritt Benedikts XVI. und der Wahl von Franziskus richtete sich die Aufmerksamkeit der Welt mal wieder etwas stärker auf den Vatikan und das Papsttum an sich. Die langjährigen Spiegel-Autoren Norbert F. Pötzel und Johannes Saltzwedel nahmen das zum Anlass, ein Buch über die Geschichte der Päpste von Petrus bis in die Gegenwart herauszugeben. Es geht ihnen darum, den Wechsel auf dem Heiligen Stuhl vor dem Hintergrund der langen Geschichte des Papsttums einzuordnen. Die Mitautoren des Buches versuchen die Frage zu beantworten, wie sich Franziskus in die verschiedenen Traditionen einordnet – oder ob er sich überhaupt einordnet. Um das beurteilen zu können, ist es hilfreich zu wissen, welche Kämpfe und Krisen seine Vorgänger in den zurückliegenden Jahrhunderten überstehen mussten.
Kollegen der Herausgeber und kenntnisreiche Kirchenhistoriker skizzieren in diesem lesenswerten Sachbuch die lange Geschichte des Papsttums. Dabei werden einige der großen Persönlichkeiten an der Spitze der katholischen Kirche eingehender portraitiert. Es gab in dieser Position korrupte Machtmenschen wie die bekannten Borgia-Päpste, weitblickende Reformer wie Gregor XIII. und auch weltweit respektierte Amtsinhaber wie Johannes Paul II. Die Autoren versuchen dem Leser zu vermitteln, wo die katholische Kirche nach dem Rücktritt Benedikts gestanden hat, wer der neue Papst ist - welche Aufgaben Franziskus nun erwarten, von denen er mittlerweile einige schon angepackt hat. Für interessierte Beobachter, aber auch für politisch interessierte Leser eine wirklich fesselnde Lektüre.

Bewertung vom 15.09.2014
Tonspuren
Perlman, Elliot

Tonspuren


ausgezeichnet

Ein großartiges Werk
„Tonspuren“ ist der dritte Roman von Elliot Perlman, der in seiner Geburtsstadt Melbourne lebt. In diesem wirklich anrührenden Roman geht es um, Lamont Williams, einen dunkelhäutigen Straßenfeger, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er hat bei einem Raub-Überfall das Fluchtfahrzeug gesteuert – allerdings ohne von den Plänen seiner beiden Kumpel zu wissen. Sechs Jahre musste er dafür büßen. In dieser Zeit hat ihn seine Freundin samt Tochter verlassen, seine Freunde haben ihn abgeschrieben, nur seine Großmutter hat zu ihm gehalten. Deshalb lebt der 30-jährige Lamont nach der Entlassung wieder bei seiner Großmutter. Er nimmt an einem Programm für ehemalige Häftlinge in der Memorial-Sloan-Kettering-Krebsklinik teil. Dabei ist er der erste Häftling, der alle Anforderungen erfüllt, um dort mitarbeiten zu dürfen. Während der Probezeit lernt er den Patienten Henryk Mandelbrot, einen älteren Juden, der den Holocaust überlebt hat, näher kennen. Lamont besucht Mandelbrot täglich nach der Schicht - und hört von diesem dessen geradezu unglaubliche Lebensgeschichte.
Henryk Mandelbrot berichtet seinem geduldigen Zuhörer, wie er den Holocaust überlebt hat. Es ist für ihn – wie für viele seiner Schicksalsgenossen, die einzige Möglichkeit, seine Erlebnisse mit kommenden Generationen zu teilen. In einem zweiten Erzählstrang geht es um Adam Zignelik, einen fast 40 Jahre alten Professor für Geschichte an der Columbia Universität. Hier geht es zurück in die 50er Jahre, in eine Zeit, die von Rassenhass und Diskriminierung der dunkelhäutigen Bevölkerung geprägt ist. Auch mit diesem Erzählstrang schlägt der Autor einen Bogen zum Holocaust. Auf den fast 700 Seiten entwirft Elliot Perlman ein breites Panorama an Figuren, die alle irgendwie miteinander verbunden sind, bevor er mit seinen Lesern in die Vergangenheit zurückgeht. Lager, Sonderkommandos, Grausamkeiten, Gaskammern - Perlman beschreibt überaus eindringlich den Völkermord. Die grausamen Einzelheiten sind zuweilen nichts für zarte Gemüter, der Autor geht bedrückend in die Einzelheiten. Im Finale führt Elliot Perlman seine Protagonisten und einzelnen Handlungsstränge zusammen. Elliot Perlman hat hier einen Roman vorgelegt, der keine leichte Kost ist, den man unter Umständen zwischendurch aus der Hand legen muss, um das Gelesene zu verdauen, und den man vielleicht auch ein zweites Mal liest, um alle Nuancen zu erfassen. Ein großartiges Werk – sehr zu empfehlen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.09.2014
Die Fälschung der Welt
Gaddis, William

Die Fälschung der Welt


ausgezeichnet

Hoch unterhaltsame Lektüre

„Die Fälschung der Welt“ von William Gaddis ist 1955 unter dem Originaltitel „The Recognitions“ in den USA erschienen – und wurde von Kritiker verrissen, beim Publikum wurde das voluminöse Buch zum Flop. Das Erstlingswerk des mehrfach ausgezeichneten Autors erschien dann kurz vor seinem Tode 1998 erstmals in deutscher Sprache, und auch hier gab es prompt ein geteiltes Echo.
Und so blieb dem Werk abermals eine größere Leserschaft verwehrt, lange Zeit war der Roman allenfalls in Antiquariaten zu finden. Bei DVA gab es dann 2013 eine Neuauflage, und es bleibt abzuwarten, ob größere Leserschichten Zugang zu dem 1227-Seiten-Monumentalwerk finden.
Immerhin hat der Autor in seinem Erstlingswerk eine geradezu üppig wuchernde Welt entworfen, die man bei der Lektüre amüsiert oder auch staunend erkunden kann. Der Roman quillt förmlich von Nebenschauplätzen, Randfiguren und sozialen Posen über. Gaddis hat viel in ein Buch hinein gepresst, aber wenn man sich darauf einlässt, wird man mit einer hoch unterhaltsamen Lektüre belohnt. So einen Roman sollte man in Ruhe und mit Muße lesen, vielleicht sogar ein zweites Mal, um alle Nuancen zu erfassen. Es lohnt sich auf jeden Fall.

Bewertung vom 03.07.2014
»Das musst du erzählen«
Bahr, Egon

»Das musst du erzählen«


ausgezeichnet

Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt in diesem Jahr hat sein langjähriger Weggefährte und Mitarbeiter Egon Bahr seine Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre mit diesem großen deutschen Kanzler aufgeschrieben. Dabei begann ihre tiefe Freundschaft mit einem Missverständnis. Im Februar 1960 war Egon Bahr seit kurzer Zeit der Pressesprecher des Berliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt. Endlich ergab sich an einem Abend die Zeit für ein persönliches Gespräch. Bahr will sich vorstellen und sagt: „Eigentlich kennen wir uns noch gar nicht.“ Aber Willy Brandts Gesichtszüge erstarren bei diesen Worten. Egon Bahr schreibt dazu, Brandt habe offenbar das Gefühl gehabt, er wolle ihm zu nahe treten. Brandt war demnach ein Mensch, der angesichts seines Lebenslaufs überaus empfindlich.
Bahr schildert in seinem Buch, dass man Brandt nur näher kommen konnte, wenn man ihm tatsächlich nicht zu nahe kommen wollte. Die Freundschaft der beiden Sozialdemokraten kam ohne große Worte aus. 14 Jahre lang arbeiteten sie eng zusammen. Der populäre Politiker im hellen Rampenlicht und sein diskreter Stratege im Hintergrund.
Ihr gemeinsames Schlüsselerlebnis war der Bau der Mauer um Westberlin. Fortan hatten sie großes Vertrauen zueinander, so wird es von Bahr geschildert. Und eine gemeinsame historische Mission – sie wollten beide die Teilung Deutschlands überwinden. Als Brandt später Bundeskanzler wird, hat Egon Bahr viele Aspekte der künftigen Ostpolitik bereits konkret formuliert und ausgearbeitet. Jetzt werden sie gemeinsam umgesetzt. Bahr ist dabei der Unterhändler in Osteuropa – und der Kanzler lässt ihm freie Hand.
Bahr ist dabei, als Brandt Geschichte schreibt. So besucht der Bundeskanzler als erster westlicher Regierungschef den sowjetischen Parteichef Leonid Breshnew. Im Dezember 1970 reisen Brandt und Bahr nach Polen, wo Willy Brandt das ehemalige Warschauer Ghetto besucht. Es kommt zum historischen Kniefall – Bahr bewundert seinen Freund für diese Geste.
Der Wiederwahl von 1972, mit dem besten Ergebnis, das die SPD bis heute bei Bundestagswahlen erzielt hat, folgt der schnelle Niedergang. Die Anstrengungen der Kanzlerschaft haben enorme Kraft gekostet. Brandt ist verletzlicher geworden, und als der DDR-Spion Guillaume verhaftet wird, tritt er als Bundeskanzler zurück. Egon Bahr berichtet, dass er Brandt zum Rücktritt geraten habe, weil er nicht wollte, dass sein Freund weiter beschädigt wird. Kurz vor Brandts Tod viele Jahre später sehen sie sich ein letztes Mal - ihre tiefe Freundschaft bleibt bis zuletzt ohne große Worte.
Ein überaus lesenswertes Buch, nicht nur für zeitgeschichtlich interessierte. Es bietet tiefe Einblicke in das Denken und Handeln dieser beiden Architekten der deutschen Ostpolitik.

Bewertung vom 29.06.2014
Ludvigshöhe
Bang, Herman

Ludvigshöhe


sehr gut

Ludvigshöhe ist ein früherer Gutshof. Hier pulsierte das Leben, als Ida, die Tochter des Gutsverwalters, dort in Harmonie und wohlbehütet aufwuchs. Karl, aus einem so genannten guten Haus stammend, verlebte hier regelmäßig seine Sommerferien.
Hermann Bang erzählt eine Geschichte, die sich über mehrere Generationen hinzieht.
Ida Brandt muss mit ihrer Mutter das Gut verlassen, nachdem ihr Vater verstorben ist. In ihrer bescheidenen Wohnung wird ide Mutter schließlich krank, und Ida pflegt sie bis zu ihrem Tod. Als Erbe bleiben ihr 80 000.00 Kronen, wodurch sie ein gutes Leben führen kann. Sie hat keine Berufsausbildung, wird aber dennoch Pflegerin in einer psychiatrischen Klinik.
Schon bald genießt sie den Respekt ihrer Kollegen und Vorgesetzten - und begegnet eines Tages Karl von Eichbaum. Sie kennt ihn noch als Feriengast auf Ludvigshöhe war. Er ist Ida schon damals als ein merkwürdiger Junge aufgefallen, der lieber im Bett lag, als sich in der schönen Umgebung zu bewegen. Mittlerweile arbeitet er eher lustlos und schlecht bezahlt im Büro der Anstalt. Die beiden verlieben sich, und Ida überlässt Karl schrittweise ihr komplettes Vermögen.
Bang erzält in seinem Buch eine überaus tragische Liebesgeschichte. Für Karl sind die materiellen Werte wichtiger als alles andere. Er verlässt Ida und schließt sich Kate Mourier an, der Tochter eines reichen Butterkönigs aus der Region. Die Familie hat Gut Ludvigshöhe gekauft, und Karl will mit Kate dorthin ziehen. Ida leidet unter Karls Untreue und zieht sich schließlich in ihr Zimmer in der psychiatrischen Klinik zurück. Der Autor versteht es hervorragend, das Leben zum Ausgang des 19. Jahrhundert detailliert und nachfühlbar zu beschreiben. Dabei skizziert er mit leiser Melancholie das Leben der Kopenhagener Gesellschaft zu dieser Zeit. Die Frauen sind die Hauptpersonen seiner Erzählung, Männer bleiben allenfalls Nebendarsteller. Ins Rampenlicht tritt nur Karl, der durch sein Verhalten um ein Haar Idas Leben zerstört. Ein sehr lesenswerter Roman der leisen Töne.

Bewertung vom 29.06.2014
Washington Square
James, Henry

Washington Square


ausgezeichnet

Es ist eine Geschichte, wie sie immer mal wieder passiert. Ein Vater, reich und verwitwet, sieht in dem jungen Mann, den seine Tochter liebt, eine Art Mitgiftjäger. Er ist nicht in der Lage, sich aus dem Leben seiner geliebten Tochter heraus zu halten, und so gibt es eine lange und intensive Auseinandersetzung. Er versucht jahrelang, sie vermeintlich vor Schaden zu schützen, aber dadurch wird die junge Frau in eine psychische Krise getrieben, ohne dass der Vater es bemerkt. Die Tochter setzt ihrerseits alles daran, um sich von ihrem dominanten Vater zu befreien.
Henry James hat in seinen Büchern mehrfach die Frage thematisiert, welche Chancen großer Reichtum zu bieten vermag, und welche Versuchungen damit eben auch verbunden sind. In seiner ruhigen Erzählung zeigt der Autor viel Liebe zum Detail. James skizziert anschaulich die verschiedenen Charaktere und das großbürgerliche Milieu, in dem sie zu Hause sind. Der Gegensatz zwischen dem souverän auftretenden, aber gefühlsarmen und in seinem großbürgerlichen Besitzstandsdenken gefangenen Vater, und der sensiblen Tochter, der es zwar gelingt, ihre Schwäche zu überwinden, die aber angesichts ihrer prägenden Erziehung nicht glücklich sein kann, macht die große Faszination dieses Buches aus.

Bewertung vom 25.02.2014
Götterdämmerung
Bourges, Elémir

Götterdämmerung


sehr gut

Wagner-Romane gibt es viele, aber Élémir Bourges ist ein ganz besonderer gelungen. Einzuordnen ist das Werk in der Epoche „Fin de Siècle“. Der Autor lässt sich dabei von einem ungewöhnlichen Anachronismus inspirieren. Die Emanzipation des Bürgertums von den Privilegien des Adels liegt schon länger zurück, und doch lebt ein von Geburt an immens reicher Fürst noch immer wie zu den besten Zeiten absolutistischer Herrschaft. Dekadenz wird hier in vielerlei Spielarten demonstriert. Richard Wagner wird so völlig überraschend zu einer Figur der Weltliteratur.
Herzog Karl von Este genießt voller Entzücken ein Geburtstagskonzert, vom Meister Wagner persönlich dirigiert. Plötzlich fallen preußische Truppen in sein Palais ein, der Herzog muss fliehen. Er sitzt bereits in der Kutsche, da heftet ihm Wagner noch einen Orden an. Dennoch gibt es einen handfesten Streit zwischen dem Musiker und dem flüchtigen Adligen. Der sieht im Finale des Nibelungenzyklus eine Provokation, immerhin hat Wagner diesen Abschnitt als „Götterdämmerung“ betitelt. Wagner zeigt sich unbeeindruckt, und behält mit seiner Einschätzung recht – im Pariser Exil macht das Fürstenhaus einen moralischen Abstieg durch. Élémir Bourges beschreibt den kurzen Weg von Prunk und Großmannssucht zu den moralischen Abgründen der Adelshäuser dieser Zeit. Als offenkundiger Bewunderer der Musik von Richard Wagner lässt er sich von dessen Klangwelten auf beim Verfassen seines Romans inspirieren.
Ein lesenswertes Stück Weltliteratur, vom Manesse Verlag in seiner feinen Reihe wie immer liebevoll aufbereitet und präsentiert. Für Sammler ein Muss – aber auch für alle Freunde anspruchsvoller Literatur ein Leckerbissen.