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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 102 Bewertungen
Bewertung vom 23.09.2021
Reise durch ein fremdes Land
Park, David

Reise durch ein fremdes Land


sehr gut

Ein literarischer Road Movie
Ein Vater macht sich auf, den kranken Sohn nach starken Schneefällen zu Weihnachten nach Hause zu holen, um eine Schuld zu begleichen …
Die Fahrt führt ihn „durch ein fremdes Land“, eine Winterlandschaft, deren Schnee alles verhüllt, das gewohnte Leben lahmlegt, alles drosselt und den Menschen auf sich selbst zurückwirft. Die Frage stellt sich, ob alles wieder so sein wird, wie es war, wenn der Schnee das Land und das Leben frei gibt.
In atmosphärischen Bildern gibt der Erzähler, der von Beruf Photograph ist und ein Auge für die Dinge hat, auch wenn er von sich Gegenteiliges behauptet, photographiert er in der Regel doch profane Menschengruppen bei Schulfesten oder Hochzeiten, die Eindrücke der Winterlandschaft wieder, so wie sie auch der Leser kennt, wenn er sich durch extremen Schneefall in einen Ausnahmezustand versetzt fühlt: wenn der Schnee alles einhüllt, allen Lärm schluckt, die Welt auf einmal geheimnisvoll, aber auch bedrohlich erscheint, wenn es kein Fortkommen mehr gibt, die Mobilität eingeschränkt ist und der Weg zur Gefahr werden kann.
Zugleich wird die Fahrt für den Vater auch eine Reise durch ein anderes „fremdes Land“, sein Seelenleben, an dem er den Leser teilhaben lässt: welche Fragen treiben ihn um, welche Gedanken quälen ihn, welche Erinnerungen ergreifen von ihm Besitz? Nach und nach enthüllen sich sein beruflicher Werdegang, das Gefühl der Unzulänglich im Beruf, nur ein 08/15-Photograph zu sein, dem das Auge für den besonderen, den ganz großen Moment fehlt; seine private Entwicklung, das Gefühl der Unzulänglichkeit als Ehemann und Vater, der Schwächen hat und Angst, vor der eigenen Einsamkeit und um das Lebensglück der ihm Anvertrauten. Beides führt zu einer – wie er sagt – leichten Depression. Dass dieser Mann allen Grund zur Traurigkeit bis hin zur Sehnsucht nach Schlaf hat, die gerade im Schnee einen tödlichen Ausgang haben kann, offenbart sich immer mehr. Dass dieser Mann eigentlich gar nicht ängstlich und schwach ist, zeigt sich immer wieder, beim Kennenlernen seiner Frau, bei der langen Fahrt zu seinem Sohn ganz allein über unwegsame, unfallträchtige Straßen im Schnee und bei der Konfrontation mit seinem Geheimnis in der Vergangenheit, das zu lüften er sich nicht traut, aus Angst, alles, was ihm geblieben ist, auch noch zu verlieren. Aber er enthüllt es dem Leser, indem er sich der Vergangenheit stellt, und somit entdeckt die Fahrt durch den Schnee, der alles Leben sonst zu verhüllen scheint, dem Erzähler selbst sein eigenes Leben.
Es geht um Väter und Söhne, um Zugehörigkeit und Einsamkeit, um Zuhause und Obdachlosigkeit, um Suchen und Finden. Der Leser ist stiller Beifahrer im Auto auf der Reise „durch ein fremdes Land“. Er fühlt sich dem Erzähler vertraut und kann ihn doch nicht erreichen, nicht trösten und trauert mit ihm und wünscht ihm, dass die Stimme (aus dem Navi) ihm verkündigen möge: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Es rühren ihn an die Bilder aus der Schneelandschaft, er fühlt, hört, sieht und atmet sie. Auch wenn er sich mehr von ihnen und vielleicht auch andere, aus dem einzigartigen Blickwinkel eines photographischen Auges gezeigte gewünscht hätte, da sie immer mehr hinter die Bilder aus der Vergangenheit des Erzählers zurücktreten. Aber diese Bilder auf die Momente und insbesondere auf die Menschen aus dem Leben des Erzählers, das sind die, die der Erzähler sich eigentlich nicht zutraut: die besonderen, die einzigartigen, die einen großen Moment außerhalb von Zeit und Raum für immer festhalten.
Ein sehr leises Buch, ein sehr intensives Buch, an dessen Ende der Leser nicht weiß, ob er erschüttert oder getröstet ist.

Bewertung vom 31.08.2021
Wellenflug
Neumann, Constanze

Wellenflug


ausgezeichnet

"Das faszinierende Doppelporträt zweier höchst unterschiedlicher Frauen", schreibt die Schriftstellerin Julia Franck über den Roman "Wellenflug" von Constanze Neumann, einen Roman, der auf historischen Begebenheiten beruht.
Treffender könnte man es nicht auf den Punkt bringen, dabei haben die beiden Frauen aber doch mehr gemein, als ihnen beiden bewusst und der einen lieb ist. Beide, Anna und Marie, kommen aus einfacheren Verhältnissen, beide erleben den Aufstieg in die Welt der gehobenen Gesellschaft, die eine fühlt sich dazu eher berechtigt, der anderen will Anna dies nicht vergönnen. Beide erleben das Auf und Ab des Lebens: von den äußeren Umständen her könnten beide ein glückliches Leben führen, aber beide haben mit den Widrigkeiten des Schicksals zu kämpfen.
Im zweiten Teil des Romans rückt die Figur der Marie immer stärker in den Mittelpunkt, Anna wird zu einem Schatten, der allerdings Maries Leben stets dunkel überzieht und auch Heinrichs Leben bestimmt. Diese Marie, die die Missachtung der Familie ihres Mannes ertragen muss, meistert ihr Leben an der Seite ihres sprunghaften Ehemannes mit Bravour. Immer wieder in völlig neue Lebensumstände geworfen, immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt, richtet sie sich in diesem Leben immer wieder und immer wieder ein, macht das Beste daraus, findet ihre Inseln des Glücks. Marie benötigt keine aufgetürmten Frisuren und überbordenden Hüte, die für sie die Machtstellung Annas in der Familie demonstrieren, als Ausruck von Größe. Sie ist eine stille, aber starke Helden und, wenn sie auch schon nicht die Anerkennung ihrer Schwiegermutter erlangen kann, so doch die des Lesers für ihren Lebenswillen, ihren Pragmatismus, ihren Einsatz für ihre kleine Familie, ihre kleine Welt, die zunehmend mit der größeren Welt um sie herum auf Kollisionskurs gerät, als der Nationalsozialismus ihre jüdische Familie bedroht.
Die verschiedenen Schauplätze des Geschehens - die jüdischen Viertel der Tuchhändler in Schlesien, das jüdische Leben im aufsteigenden Berlin um die Jahrhundertwende, die Ozeanüberquerung auf einem Schiffsdampfer 1. Klasse, die mondäne Großstadt New York und das beschauliche Erie in Pennsylvania, die Sommerreise Heinrichs und Maries ins Mittelmeer und nach Italien sowie die Rückkehr in ein von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit bedrohtes Deutschland sowie das Aufkommen der "braunen Rotte" und deren Untergang in Dresden - schildert die Autorin so atmosphärisch dicht und greifbar, dass der Leser mit auf die Reise geht und die unterschiedlichen Stimmungen der unterschiedlichen Stationen auf der Lebensreise - insbesondere Maries - hautnah miterlebt und sich einfühlen kann in ihr Leben. Er spürt das brodelnde Berlin der Jahrhundertwende, die Größe und Lebendigkeit und Enge New Yorks, die kalten Winter und lauen Sommer in dem ruhigen, weiten Erie und den rauchigen, nebligen Herbst in Dresden.
Der Roman rührt an, nicht durch große Gefühle und Dramatik, nicht durch viele emotionale Worte, sondern gerade durch die ruhige, klare, kraftvolle Darstellung. Die Zeiten in Deutschland werden finster - wie sollten sie auch anders werden für einen Juden aus wohlhabender Familie, auch wenn er seine vaterländische Pflicht geleistet und diese mit dem Eisernen Kreuz vergolten bekommen hat. Aber gerade weil die Autorin darauf verzichtet, die Grausamkeiten und Greultaten zu beschreiben, die Parolen der Braunen herausschreien zu lassen und die zunehmende Zuspitzung der Lage für die Juden in Deutschland immer nur in Nebensätzen andeutet, wird diese Finsternis für den Leser um so bedrohlicher greifbar. Er muss die Schrecknisse nicht noch einmal in aller Deutlichkeit hören, er benötigt nur die Andeutung, den kurzen Verweis und die Bangigkeit und Schwere der Protagonisten legt sich auch auf sein Herz.
Genauso still und stark wie seine Heldin Marie klingt der Roman zum Ende aus - und hinterlässt doch großen Nachhall im Leser.
Ein absolut lesenwertes, starkes Buch!