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Miro76
Wohnort: 
Österreich

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 12.06.2022
Die Lüge
Franko, Mikita

Die Lüge


ausgezeichnet

Miki ist noch sehr klein, als seine Mutter den Kampf gegen den Krebs verliert. Nach dem Wunsch der Mutter kommt er zu seinem Onkel Slawa, der mit seinem Freund zusammenlebt.

Dass sich die beiden seit Jahren lieben, darf keiner erfahren, denn sonst darf Miki nicht bei ihnen bleiben. Für Miki ist es ganz normal, zwei Väter zu haben, doch schon als kleiner Junge muss er lernen, zu lügen und zu verschweigen.

Früh quälen ihn diese Spannungen, denn Miki braucht seine beiden Väter. Papa Slawa ist der, mit dem man fast immer Blödsinn machen und eine Menge Spaß haben kann. Papa Lew ist der, der darauf achtet, dass Regeln eingehalten werden, der aber wie ein Fels in der Brandung steht.

Die Lügen haben Miki immer zugesetzt. Er ist deshalb sogar mal von zuhause weggelaufen. Aber mit dem Älterwerden, wird es für Miki immer schwieriger diese inneren Konflikte zu tragen, bis die ganze aufgestaute Wut in einem Gewaltausbruch kulminiert.

Beim Lesen hat es mir fast das Herz gebrochen, mit welchen Sorgen ein so geliebtes Kind sich abplagen muss, nur weil eine Gesellschaft etwas als normal tituliert hat und etwas anders dadurch abartig sein soll.

Die große Liebe in der Miki aufwachsen darf und sich immer angenommen fühlen darf, trotz Streitigkeiten und verbalen Ausbrüchen, ist aus jeder Zeile zu spüren. Der Autor hat seine Figuren äußerst liebevoll gezeichnet und mutet ihnen einiges zu. Die Spannungen zwischen Innen- und Außensicht sind so eindringlich beschreiben, dass man sie beim Lesen selbst zu spüren meint.

Und dann setzt ihm auch noch die Pubertät zu und sein eigenes sexuelles Erwachen. Aber ein Kind, dass in großer Liebe aufwachsen darf, kann auch viel aushalten. Es tut weh, zu lesen, dass es so sein muss. Und noch trauriger ist, dass es nicht nur in Russland so wäre. Auch bei uns ist es am Land schwer vorstellbar, wie es einem Kind mit zwei Vätern oder zwei Müttern ergeht. Auch dieses Kind sieht sich wahrscheinlich mit einer Menge Vorurteilen konfrontiert.

Mir hat dieser Coming-of-Age Roman ausgesprochen gut gefallen. Ich habe mit Miki gelitten, mit Wanja gelacht, war auch ein bisschen verleibt in Slawa und hatte unglaublichen Respekt vor Lew.

"Die Lüge" ist ein emotionales Buch, das ein Stück weit Regenbogen in die Literatur bringt und ich empfehle es allen, die bereit sind die alten Stereotypen endlich fallen zu lassen.

Bewertung vom 06.06.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Happy Récré - glückliche Auszeit - heißt der Familienkanal, den Melanie bespielt seit ihre Tochter Kimmy 2 Jahre alt ist.

Melanie wollte immer berühmt sein. Als Teenager hat sie ihre Zeit damit verbracht, Reality Shows zu schauen und wollte ihren Idolen nacheifern. Sie hat es sogar mal durch ein Casting geschafft, wurde allerdings bei den Probeaufnahmen bereits wieder gefeuert. Sie war nicht extrovertiert genug. Sie war zu sehr auf ihre Grenzen fixiert.

Das sollte sich später ändern, denn Melanie tut alles, damit ihre Kinder berühmt und glücklich sind. Für ihre Vorstellungen gehören diese zwei Adjektive zwingend zusammen. Nebenbei scheffelt die Familie ordentlich Geld mit diesem Kanal, dessen Follower die Millionengrenze längt überschritten haben und schließlich durch die Decke gehen, als Kimmy vermisst wird.

In diesem Roman begleiten wir nicht nur Melanie und ihre Familie, sondern auch die Ermittlerin Clara. Eine patente Polizistin, die ebenfalls eine ungewöhnliche Kindheit hatte. Allerdings nicht im Internet. Die Kapitel über sie und ihre Arbeit fand ich sehr interessant und geben der beklemmenden Story der Geschwister Kimmy und Sammy einen Gegenpol bzw. eine kleine Auszeit von der überbordenden Veröffentlichung des Privatlebens.

Delphine de Vigan thematisiert hier die Folgen oder Traumata, die Kinder ertragen müssen, deren Leben sich in der Öffentlichkeit abspielt. Das vermeintlich sichere Zuhause wird hier zu Bühne und die Persönlichkeit geht unter in der Rolle, die es täglich zu spielen gilt.

Was mit Kimmy passiert, verrate ich hier natürlich nicht. Nur so viel: diese Geschichte ist spannend bis zuletzt. Fast ein Thriller, den die Autorin hier vor dem erneuten Hintergrund aufgezogen hat.

Für mich war das Buch ein echter Pageturner. Es ist abwechslungsreich, es bietet sich eine gewisse Themenvielfalt, es gibt einen Spannungsbogen, der nicht überstrapaziert wird und der Stil ist ansprechend zu lesen. Eignet sich auch hervorragend als Sommerlektüre!

Bewertung vom 05.06.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


gut

Mit "Milchmann" hat uns Anna Burns bereits tiefe Einblicke in die andauernden Konflikte in Nordirland geboten. Auch dieser Roman war nicht einfach zu lesen. Die sperrige Sprache und die alltägliche Gewalt waren nicht leicht zu ertragen. Ihr Debüt "Amelia", das erst jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist noch ein ganz anderes Kaliber.

Die Autorin lässt uns in Episoden an Amelias Leben teilhaben. 1969, als die Konflikte so richtig ausbrechen, ist Amelia 8 Jahre alt - ein neugieriges Kind, das versucht die Welt um sich zu verstehen und in eine Zeit hineinwächst, die von Gewalt und Missbrauch durchdrungen ist.

Die arbeitende Klasse ist den Straßenkämpfen völlig ausgeliefert. Familien werden zerrissen, Freunde werden zu Feinden, Auge um Auge und nie, aber wirklich niemals davonlaufen, denn es gilt das Gesicht zu wahren. Lieber sehenden Auges in den Tod gehen, als Schande über die Familie bringen.

Amelia aber, geht einer Schlägerei lieber aus dem Weg. Sie flüchtet sich in ihre Magersucht, entfremdet sich immer mehr von ihrer gewalttätigen Familie und driftet schließlich in die Alkoholsucht ab. Sie weiß, dass sie ihrer Heimat den Rücken kehren muss, aber sie schafft es erst, als es fast zu spät ist. Sie nimmt ihre Neurosen mit in ihre neue Heimat.

Anna Burns zeigt uns mit diesem Roman, dass die über Jahre andauernde Gewalt auf den Straßen niemanden unbeeinflusst lässt. Sie greift um sich und zieht alle in ihren Bann. Ein Entkommen ist kaum möglich. Die Auswirkungen auf den Alltag und die Psyche der Betroffenen sind enorm.

Für meinen Geschmack veranschaulicht die Autorin das ein bisschen zu genau. Manche Szenen strotzen vor Gewalt, Verrohung und Missbrauch. Ich hätte das gerne nicht so detailliert geschildert gehabt. Ich hätte die Botschaft auch dann verstanden, wenn die Tragödien nicht so auserzählt gewesen wären. Das war mir schon fast zu viel.

Bei der Lektüre begleiten wir Amelia bis zu den Friedensverhandlungen 1994. Also fast dreißig Jahre ihres Lebens und doch kämpft sie immer noch mit ihren Wurzeln. Es gibt einen klitzekleinen Lichtblick am Ende, aber der innere Kampf ist längst nicht ausgestanden. Die vielen Toten, die am Wegrand liegen, machen das Überleben auch nicht leichter.

Das Buch ist sehr eindringlich und lässt bestimmt niemanden kalt, aber ich bin mir sicher, dass es vielen Leser*innen zu direkt, zu brutal und zu heftig ist und dadurch vielleicht sogar weniger Menschen erreicht, als es möchte. Mir hat es streckenweise viel Überwindung gekostet weiter zu lesen und deshalb kann ich auch nur 3 Sterne vergeben für diesen schonungslose n Roman, der wie ein lauter Hilferuf aus Belfast klingt.

Bewertung vom 09.05.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


sehr gut

Eulabee und Maria Fabiola sind die allerbesten Freundinnen. Sie leben in einem schmucken Stadtteil von San Francisco, besuchen eine Privatschule für Mädchen und wachsen eigentlich recht behütet auf.

Maria Fabiola ist eine schillernde Schönheit, immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Eulabee ist schlau, eine gute Schülerin und steht immer etwas im Schatten ihrer Freundin.

Doch so untrennbar sind die beiden Mädchen gar nicht, denn eines Tages behauptet Maria Fabiola, dass der Mann, der sie nach der Uhrzeit gefragt hatte, sich währenddessen im Auto selbst befriedigte. Die beiden anderen Mädchen in ihrem Kreis zeiht sie schnell auf ihre Seite, doch Eulabee steht zu ihrer Sicht der Situation und sagt aus, dass da nichts war.

Die Folgen hat sie zu tragen und Maria Fabiola ist manipulativ. Für Eulabee ändert sich alles. Maria Fabiola allerdings macht einfach weiter.

Eulabee überzeugt als Protagonistin in diesem Roman. Ihre Gedankengänge und Ideen sind gut nachvollziehbar. Sie ist sich der Macht der Worte bewusst und trägt auch die Konsequenzen. Die ganze Situation mit den Mädchen entgleitet, Eulabee wird in ihren Grundfesten erschüttert und lässt dabei ihre Kindheit zurück.

Dieses Buch ist eine etwas andere Coming-of-Age Geschichte. Die Dramen sind nicht so unmittelbar, es gibt keine große Liebe, aber es gibt ein Mädchen, die zu ihrer Meinung steht, Verantwortung übernimmt und ihren Weg geht, auch wenn dieser steinig ist.

Vendela Vida konnte mich auch mit diesem Buch begeistern. Ihre Sprache ist einfach und direkt, die Entwicklung der Persönlichkeiten hat mir gut gefallen. Einzig der Schluss, der im Schnelldurchlauf mehrere Jahre abhandelt war mir etwas zu kompakt. Das Buch hätte durchaus ein paar Seiten mehr vertragen. Allerdings sollte der Fokus wohl bei den kleinen und größeren Lügen und deren Folgen bleiben. Wäre alles auserzählt worden, hätte sich vielleicht die Gewichtung verlagert.

Mir hat gut gefallen, wie die Autorin die Macht der Worte hervorhebt und bewusst macht, welche Auswirkungen kleine Lügen haben können!

Bewertung vom 23.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


gut

Andrew Haswell Green (1820 - 1903) war der Sohn eines Farmers. Mit dem Kopf in den Wolken und einem untrüglichen Gespür für Strukturen konnte er schon als Kind einigen Ideen auf dem Hof umsetzen. Doch ein Skandal veranlasste seinen Vater, ihn nach New York in die Lehre zu schicken. Er fristete sein Dasein in einem Kabuff eines Gemischtwarenladens, der ihm eine kräftige Lungenentzündung und die Freundschaft zum späteren Präsidentschaftskandidaten Samuel Tilden einbrachte.

Einige Jahre verbrachte Green in Trinidad, als Vorarbeiter, was ihn zu einem noch größeren Menschenfreund machte und ihm ausreichend Geld einbrachte, um im Anschluss Jura zu studieren. Das war sein Sprungbrett für seine Karriere. Als Vater von Greater New York und Schöpfer des Central Parks sollte er eigentlich unvergessen sein. Aber so ist es wohl nicht gekommen.

Die Lebensgeschichte von Andrew H. Green habe ich mit größtem Vergnügen gelesen. Sein Weg ist berührend und beeindruckend. Seine Lebensart lässt weinen und lachen zugleich.

Die Art und Weise, wie uns der Autor diese Geschichte erzählt, hat mir leider nicht so gut gefallen. Der Versuch einen Krimi aus dieser Biografie zu machen, sagt mir nicht zu. Das Leben des Anwalts, des Ermittlers und der wichtigsten Zeugin sind in Zwischenkapiteln ausschweifend ausgearbeitet und haben mich leider gar nicht begeistert. Ich hätte gerne mehr über Andrews Geschwister erfahren, die immer nur am Rande vorkommen.

So bin ich Zwiegestalten bei der Bewertung des Buches. Die Hälfte verdient fünf Sterne, ist interessant, lehrreich und berührend. Die andere Hälfte hat mich leider gelangweilt. Somit vergebe ich 3 Sterne mit Bedauern für ein Buch, das mich eigentlich auch restlos begeistern hätte können!

Bewertung vom 13.04.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


sehr gut

Maserati lebt in einem kleinen Dorf bei ihrer Großmutter, in deren Snackbude sie als Kellnerin arbeitet. Der Sommer steht vor der Tür und die Gäste werden langsam mehr. Die legendären Teigtaschen der Großmutter schmecken wirklich allen, auch den Bauarbeitern, die plötzlich begonnen haben, die leerstehende Nachbarvilla zu renovieren.

Es kündigt sich schnell an, dass dieser Sommer anders werden wird, denn ins Nachbarhaus ziehen zwei Jungs ein - der Sunnyboy Caspar und sein ernster Cousin Theo. Alle tragen ihre Geheimnisse mit sich herum und es stellt sich heraus, dass Theos und Maseratis Geheimnis irgendwie in Zusammenhang stehen.

Ganz unkompliziert verläuft die Annäherung nicht zwischen den Dreien, denn sie haben alle ihr Päckchen zu tragen. Vor allem Maserati, die sich hauptsächlich ums Geschäft kümmert, denn die Oma leidet wohl unter beginnender Demenz. Niemand soll das merken, denn Maserati ist noch nicht volljährig. Sie schmeisst den Laden, hält alles am laufen und sucht die vermisste Großmutter, wenn es not tut.

Man erkennt schnell, dass sie Hilfe gut gebrauchen könnte und die kommt dann auch von ganz anderer Seite als erwartet.

Alina Bronsky hat hier einen ganz besonderen Coming-of-Age Roman geschrieben. Es gibt keine rosige Liebesgeschichte, aber es gibt ein Aufflammen von Gefühlen, es gilt Verantwortung zu übernehmen und auch mal andere Wege zu gehen.

Es gibt kein fulminantes Happy End, aber es gibt einen Ausblick, der hoffen lässt. Einen Ausblick, der zeigt, dass niemand ganz allein steht mit seinen Problemen.

Ich habe Schallplattensommer sehr gerne gelesen. Es liest sich einfach und flüssig, bietet eine spannende Geschichte und ist somit ein wunderbares Sommerbuch. Für den fünften Stern hätte es noch etwas mehr in die Tiefe gehen können. Das wäre auch Jugendlichen zuzutrauen gewesen.

Bewertung vom 01.04.2022
Für diesen Sommer
Klönne, Gisa

Für diesen Sommer


ausgezeichnet

"Für diesen Sommer" kehrt Franziska in ihr Elternhaus zurück. Sie soll sich um ihren Vater kümmern, denn ihre große Schwester braucht eine Auszeit. Sie hat ihr Elternhaus im Streit verlassen und ihren Vater zuletzt bei der Beerdigung der Mutter kurz gesehen. Und das ist auch schon 2 Jahre her.

Sie soll außerdem packen, denn ein Umbau steht an. Der Vater kann nicht mehr in den ersten Stock und schläft auf der Chaiselongue im ehemalige Nähzimmer der Mutter.

Einen Abend nur verbringt Franziska außer Haus. Da kommt es zu einem folgenschweren Unfall. Der Vater stürzt, fällt ins Koma, bricht sich die Hüfte.

Über Franziska bricht vieles herein. All das Ungesagte, ausstehende Entschuldigungen und ausstehende Versöhnungen brechen alte Wunden auf und Franziska merkt, dass sie einen anderen Weg gehen möchte, als ihre Schwester vorgesehen hat.

Und was ist überhaupt mit ihrer Schwester los? Sie geht nicht ans Telefon, beantwortet keine Nachrichten?

Viele Themen hat Gisa Klönne in dieser Familiengeschichte verarbeitet. Wir lesen von der Kindheit des Vaters, der während des Krieges in ein Erholungslager nach Polen geschickt wurde und aus dem kaum Kinder lebend zurück kamen.

Wir lesen von der Flucht ihrer Mutter, deren Familie es leider nicht mehr über die Ostsee geschafft hat. Und wir lesen von Franziskas Kindheit und rebellischer Jugend, die so gar nicht ins Familienkonzept gepasst hat.

Die Autorin erzählt diese Geschichte in etwas ungewöhnlicher Form. Sie springt dabei leichtfüssig zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und fordert so die Aufmerksamkeit der Leser*innen. Immer wieder muss man sich einfühlen in den Text, dann kann man ihn schon zuordnen. Dieser Stil ist nicht alltäglich, passt für mich aber gut zur Geschichte. Erinnerungen kommen selten chronologisch geordnet. Manchmal überfallen sie uns regelrecht. So ist es auch hier in diesem Buch.

Die Lebensgeschichten der drei Protagonist*innen habe ich mit großem Interesse verfolgt. Es gibt ein Familiengeheimnis, das gelüftet wird und irgendwie alles klärt. Ich fand es stimmig, wie weitreichende Folgen manche Entscheidungen mit sich bringen und das versöhnliche Ende hat mir ausgesprochen gut gefallen.

Wer solche Geschichten mag, sollte unbedingt zu diesem Roman greifen!

Bewertung vom 27.03.2022
Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten
Jamalzadeh, Elyas;Hepp, Andreas

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten


ausgezeichnet

Elyas Jamalzadeh erzählt uns seine Geschichte. Bereits im Exil geboren holt er etwas weiter aus und beginnt sein Buch 2 Kapitel vor seiner Geburt. Seine Eltern waren schon damals von den Taliban bedroht und ihr Haus wurde in die Luft gejagt. Sie entschieden sich, in den Iran zu flüchten, wo Elyas ds Licht der Welt erblickte.

Als Flüchtling im Iran hat man keine Rechte. Man darf nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen und zahlt für alles circa das Dreifache. Kaum vorstellbar, so ein Leben! Und immer, aber wirklich immer muss man auf den Hut vor der Polizei sein, denn man kann jederzeit nach Afghanistan abgeschoben werden. Ein Land, das angeblich Elyas Heimatland ist, das er aber noch nie betreten hatte.

Es kommt wie es kommen musste und Elyas wird aufgegriffen und in ein Abschiebezentrum gebracht. Zum Glück hat er Hilfe, aber der Druck wird größter und die Familie entschließt sich, weiter zu fliehen.

Der lange Weg nach Europa, den bereits zwei Brüder geschafft haben, ist für Elyas und seine Eltern eine wahre tour de force. Die Eltern sind nicht so fit und die Abschnitte, die zu Fuss bewältigt werden müssen, bringen sie immer wieder an ihre Grenzen und darüber hinaus.

Was auf dem Weg passiert, kennen wir teilweise. Der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, die "Games" - also die Versuche - immer wieder eine Grenze zu übertreten und das ewige Festsitzen an Orten, die wir eigentlich gar nicht sehen möchte. Vieles ist aus den Nachrichten bekannt, doch Elyas erzählt das so unmittelbar und sein Freund Andreas Hepp hat seine Sprache in geschriebenes Wort übertragen. Beim Lesen hat man das Gefühl, man sitzt mit den beiden irgendwo am Lagerfeuer und lauscht den unglaublichen Geschichten einer Reise.

Elyas erzählt mit einer großen Menge Humor, der stellenweise so schwarz ist, das mir als Leserin, das Lachen im Hals stecken bleiben muss. Elyas scheint ein grenzenloser Optimist zu sein, der noch dem übelsten Ereignis irgendwas Gutes abgewinnen kann. Er verliert nie den Mut und das macht ihn zu einem ganz besonderen Menschen!

Seine Geschichte steckt voller Hoffnung und Zuversicht auch in den schwärzesten Momenten. Das macht seine Erzählung zu etwas ganz speziellem, gibt uns Einblick in sein Leben und erweitert unseren Horizont.

Ich wünsche diesem Buch ganz viele Leser*innen, die vielleicht auch Mut aus seinem Schicksal schöpfen können. Und ich wünsche Elyas alles Gute auf seinem weitern Weg in seinem neuen Heimatland!

Bewertung vom 23.03.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Hüseyin ist in den 70er Jahren nach Deutschland gegangen, zum Geld verdienen. Im Hinterland der Türkei ist sein Auskommen nicht mehr gesichert. Seine Familie holt er nach acht Jahren nach.

Sein Leben war geprägt durch harte Arbeit und Sparen, denn einen Traum wollte er sich erfüllen: eine großzügige Wohnung für die Familie in Istanbul, wo er seinen Lebensabend verbringen will.

Als die Zeit gekommen ist, reist er allein in die Stadt, um die Wohnung einzurichten. Alles soll schön sein, wenn er seiner Frau Emine seinen Traum zeigen kann. Doch dazu kommt es nicht. Er stirbt an einem Herzinfarkt nach der ersten Nacht im neuen Domizil.

Der Schock sitzt tief bei den Angehörigen, die sich schnellstmöglich auf den Weg in die Türkei machen. Die beiden jüngsten Kinder und Emine fliegen sofort. Die älteste Tochter verpasst ihren Flug und der älteste Sohn reist mit dem Auto an.

Und dann kommen die Kinder zu Wort. Alle mit ihren eigenen Problemen, ihren eigenen Dschinns.

Fatma Aydemir hat in die Geschichten der Kinder extrem viele Themen untergebracht. Gender und Identität sind die Hauptthemen, aber es geht auch um Rassismus, Traditionen, Selbstmord und Kindererziehung. Was alles durchzieht ist das Schweigen in der Familie, das alles zusammenhält, aber auch alles trennt. Die Sprachlosigkeit geht so weit, dass die Kinder nicht einmal wissen, dass sie eigentlich Kurden sind und keine Türken.

Spannend ist außerdem der Aufbau des Romans. Hüseyin wird direkt angesprochen bei seinem endgültigen Drama, welches so unglaublich traurig ist. Es spricht viel Liebe aus ihm, die sich in der übrigen Familie kaum wiederfindet. Beginnend mit dem jüngsten Kind baut sich dann ein Bild der Familie auf, das immer mehr Tiefe gewinnt und immer mehr Geheimnisse birgt. Vieles scheint in dieser Familie schief zu laufen. Die Ursache dafür erfahren wir erst ganz zum Schluss, wenn die Mutter zu Wort kommt.

Gut gefallen hat mir außerdem, wie sich die Sprache der jeweiligen Person anpasst. Ümit ist noch sehr jung, seine Geschichte ist in einfacher, moderner Sprache gehalten. Sevda hatte es am schwersten und wurde vielleicht am wenigsten geliebt. Ihre Geschichte ist etwas distanzierter geschrieben. Peri hat durch Bildung alle kulturellen Barrieren überwunden. Ihre Teil ist reflektierter und Haken ist der junge Wilde, sein Part hetzt nur so dahin.

Fatma Aydemir hat hier viele Klischees eingebaut, um sie gleichzeitig wider aufzubrechen. Niemand ist nur gut und nur böse, niemand hat es einfach nur leicht und niemand ist nur Opfer der Umstände.

Das Ende ist vielleicht etwas überspitzt, aber nach ein bisschen drüber nachdenken hat mich das dann doch nicht gestört. Irgendwie ist es passend, wird hier aber natürlich nicht verraten. Wer es wissen möchte, muss das Buch schon lesen. Ich verspreche, es bietet tiefe Einblicke in die türkische Kultur, in die Sorgen und Nöte migrierter Menschen und der 2. Generation.

Es wird auf jeden Fall den Horizont der Leser*innen erweitern!

Bewertung vom 12.03.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


weniger gut

Ein ausgesetztes Baby, eine unzuverlässige Verdächtige, ein Vermisster in einem Hotel und ein Toter aus dem Meer.

Das ist die Ausgangslage für Avi Avrahams Ermittlungsteam. In beiden Fällen gibt es schnell Anhaltspunkte in welche Richtung die Aufklärung verlaufen muss. Doch in dem einen Fall ändert die zwingend Tatverdächtige ständig ihre Aussage, um in die Irre zu führen. Sie ist extrem unsympathisch, manipulativ und ziemlich dominant. Sie hält sich für unbesiegbar und scheint einen Plan zu verfolgen, der dann aber nirgendwo hinführt.

In dem anderen Fall, fliegen dem Inspektor die Beweise nur zu in die Hände, sodass er an deren Richtigkeit zweifeln muss. Es ist nicht mehr klar, wem er hier vertrauen kann.

Die angebliche Verbindung zwischen den beiden Fällen ist leider sehr mager. Beide Spuren führen nach Paris, bleiben aber völlig unabhängig voneinander.

Außerdem fand ich die Erzählweise sehr anstrengend. Die ersten 100 Seiten sind so verwirrend und mysteriös, dass man kaum Zusammenhänge erkennen kann. Das soll wohl Spannung aufbauen, hat bei mir aber das Gegenteil erreicht. Es war so undurchsichtig, dass es mich eher gelangweilt hat. Als alles klarer wurde, habe ich ständig auf die Verbindung gewartet, die es aber auch nicht wirklich gibt. Die eine versteckt sich in Paris, der andere hatte vorher dort gelebt. Das war mir definitiv zu wenig.

Und der Schluss konnte die ganze Geschichte für mich auch nicht retten. Beide Fälle können geklärt werden, verlaufen aber dennoch irgendwie im Nirgendwo. Die Motivationen bleiben hier zu unklar. Das konnte mich wirklich nicht begeistern.

Meine Erwartungen waren sehr hoch, denn "Drei" habe ich sehr gerne gelesen. Leider wurden sie hier so gar nicht erfüllt.