Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 10.01.2021
Die Forelle
Fischer, Leander

Die Forelle


ausgezeichnet

Wir lernen in diesem außergewöhnlichen und eindrucksvollen Roman Siegi Heehrmann kennen, der in einem ländlichen Nest gelandet ist, wo er als Musikschullehrer für Saiteninstrumente seinen Lebensunterhalt verdient.

In seiner Freizeit hat Siegi aber eine andere Leidenschaft als das Musizieren.
Sein Herz schlägt für das Fliegenfischen, das ihm von Ernstl Thalinger beigebracht wird.
Aber mehr noch als für das Fliegenfischen selbst, interessiert und begeistert er sich für das Herstellen des perfekten Köders, der sog. Fliege.
Das Binden dieser Fliegen, die aus verschiedenen Materialien hergestellt werden und natürliche Beutetiere imitieren sollen, muss erstmal gelernt werden und ist ein eigenständiges und zeitintensives Hobby, dem Siegi verfällt und das er perfektioniert.

Ein seltsamer Mann mit ebenso seltsamen Freunden wird schnell zum Außenseiter im Dorf und bald brodelt die Gerüchteküche.

Ausgehend von der Thematik des Fliegenfischens, das sich auf die Themen Freundschaft, Feindschaft und Intrigen ausdehnt, eröffnet sich ein weiter thematischer Kosmos, der sich von Kunst über Gesellschaftspolitik bis zu den Folgen der NS-Zeit erstreckt.

Die überbordende, lebendige Sprache und der fesselnde Inhalt zogen mich schnell in ihren Bann. Leander Fischer jongliert mit den Worten und spielt mit seinen Lesern.

„Die Forelle“ ist eine sprachgewaltige literarische Perle, der es an Komik und Originalität nicht mangelt und die gleichzeitig zart und fesselnd ist.

Ich empfehle Leander Fischers Debütroman, der mir großen Lesegenuss bereitete und mich mit einer Tätigkeit bekannt machte, von der ich bis dato keine Ahnung hatte, dem Fliegenfischen, sehr gerne weiter!

„Die Forelle“ ist kein Pageturner im landläufigen Sinn, der sich einfach so weg liest, sondern es ist ein vielschichtiger Roman, der springt, abschweift und Kreise zieht und zum Assoziieren und Interpretieren anregt.
Man muss sich einlassen und aktiv lesen, man kann sich hier nicht nur berieseln lassen.

Ein außergewöhnlicher Autor hat ein außergewöhnliches Werk mit einem außergewöhnlichen Thema komponiert!
Komponiert, nicht geschrieben!

Bewertung vom 09.01.2021
Es wird wieder Tag
Pradelski, Minka

Es wird wieder Tag


ausgezeichnet

Frankfurt nach dem 2. Weltkrieg.

Bärel wird 1946 als erstes jüdisches Kind nach Kriegsende in einem katholischen Krankenhaus geboren.
Seine Eltern Klara und Leon haben das Grauen der Nazizeit als einzige Überlebende ihrer Familien überlebt. Mit der Geburt ihres Sohnes soll der Schrecken endgültig der Vergangenheit angehören.
Sie soll Neubeginn, Leben und Glück markieren.

Und dann passiert eines Tages in einem Park ein einschneidendes Erlebnis. Klara begegnet während eines Spaziergangs mit Bärel im Kinderwagen ihrer ehemaligen KZ-Oberaufseherin Liliput.

Es ist ein Augenblick, der sie schlagartig retraumatisiert und, nachdem sie panisch weggerannt ist, paralysiert.
Klara verfällt in eine Schockstarre, sperrt sich zu Hause ein, hört auf, zu sprechen und Bärel zu versorgen.
Leon ist verzweifelt und überfordert und hat dann einen brillanten Einfall, als er seiner Frau empfiehlt, all ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle niederzuschreiben.

Klara befolgt den Rat und bringt ihre Erinnerungen zu Papier.
Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort und Satz für Satz füllen sich die Seiten.
Klara schreibt aber nicht nur über die unmenschliche Zeit im Lager, sondern auch über das Schuhgeschäft ihres Vaters, über den überstürzten Abschied von ihren Eltern, die sie regelrecht wegjagten, um sie zu retten, über die furchtbare Zeit auf der Flucht, bei der sie sich als 13-jährige mit einem Decknamen als Deutsche tarnte, über die Trauer um Familienmitglieder uvm.
Alles schreibt sie sich von der Seele. Es ist eine regelrechte Schreibtherapie.
Klara durchlebt dabei entsetzliche Qualen, Rache-Phantasien und Gerechtigkeitswünsche und durchschreitet dabei tiefste Dunkelheit... aber „Es wird wieder Tag“. Das wird auch schon auf dem farbenfrohen und beschwingten Cover angedeutet, das erstmal nicht zu dem grauenhaften Thema zu passen scheint.

Auf diese Weise erfahren wir die tragische und ergreifende Geschichte von Klara.
Auch die die Perspektive Leons sowie Bärels Säuglingsblick und seine Sicht der Dinge beleuchten die Geschehnisse.
Diese Perspektive muss man mögen. Sie ist gewagt, gewöhnungsbedürftig und bestimmt nicht jedermanns Sache, aber wenn man bereit ist, sich an dieser Stelle auf ein etwas phantastisches Abenteuer einzulassen, kann man vielleicht seinen Gefallen daran finden. Außerdem ändert sich die Erzählperspektive nach ca. 40 Seiten und spätestens ab da ist das Buch ein 5 Sterne Roman.
Und was sind schon 40 von 384 Seiten?!
Ich wurde, was das Lautwerden der Gedanken eines Babies anbelangt, prompt an den Film „Kuck mal wer da spricht“ von 1989 erinnert.

„Es wird wieder Tag“ ist ein fesselndes, berührendes und beklemmendes Werk, das man am Schluss ergriffen und in nachdenklicher Stimmung zuklappt.

Neuartig und außergewöhnlich an diesem Buch über den 2. Weltkrieg war für mich, dass über diese Zeit hinaus erzählt wird.
Wir erfahren von Gedanken und Gefühlen Überlebender. Da ist eben nicht nur unendliche Erleichterung, sondern da sind auch Selbsthass, Schuld- und Schamgefühle.
Die Vorstellung, einem ehemaligen Täter zu begegnen muss ständig latent für die Opfer präsent gewesen sein, da sie ja lange Zeit frei herumliefen. Dass Minka Pradelski, die selbst Tochter Überlebender ist und kurz nach dem Krieg geboren wurde, genau diese Vorstellung und dieses Szenario aufgegriffen hat, finde ich gleichermaßen naheliegend, wie genial und originell.

„Es wird wieder Tag“ hat mich nachhaltig beeindruckt und ich empfehle es sehr gerne weiter.

Bewertung vom 09.01.2021
La Fenice
Singer, Lea

La Fenice


ausgezeichnet

Kann es denn so schlimm sein, „nein“ zu sagen... ja, sogar noch schlimmer!

Der Roman spielt im Venedig der Renaissance und es geht um La Zaffetta, eine junge Frau, die der italienische Maler Tizian um 1538 in einem seiner Werke verewigte, das zu einem der berühmtesten Ölgemälde der Welt wurde: Venus von Urbino.

Diese lasziv daliegende Schöne, die mit der Göttin Venus nichts zu tun hat, ist die Protagonistin des Romans, nennt sich eigentlich Angela del Moro und ist eine vielbegehrte Kurtisane, die eine unfassbar unmenschliche Bestrafung und brutale Rache erdulden musste, nachdem sie sich 16-jährig einem der mächtigsten Adeligen verweigert hat.

Nach sieben Jahren erzählt Angela, die von ihrem bisherigen Leben äußerlich und innerlich gezeichnet ist, rückblickend ihre Geschichte. Diese Ich-Perspektive und die authentische und feinfühlige Sprache machen die Geschichte zu einem höchst persönlichen und intimen Text und ermöglichen einen tiefen Einblick in das Innenleben der Protagonistin.

Man fühlt mit Angela del Moro und muss sie bewundern, weil sie es schließlich schafft, sich nach dieser Demütigung wieder eine Zukunft aufzubauen. Es ist ihr nicht nur gelungen, zu überleben, sondern auch, der Opferrolle zu entkommen und aus dem Abgrund emporzusteigen. Was einerseits ein Skandal und eine Sensation ist, kann andererseits aber nicht nur gut gehen.

Diese Lebensgeschichte hat es in sich. Es ist ein Schicksal, das andere nicht ausgehalten und überlebt hätten und an dem viele zerbrochen wären. Angela del Moro ist ein Beispiel für eine kluge und disziplinierte Frau und ein Vorbild, was, Selbstbestimmung, Widerstandskraft und Selbstbehauptung anbelangt. Umso schöner und gerechter, dass sie am Ende als Heldin triumphiert.

Die 1960 geborene Lea Singer hat mit „La Fenice“ einen brillanten, atmosphärischen und fesselnden Roman über Macht und deren Missbrauch, Gewalt, Größenphantasien, Verweigerung und Selbstbestimmung, gekränkte Eitelkeiten und Rachegelüste, Heucheleien und Intrigen geschrieben, der wie ein bildgewaltiges Sittengemälde den Zeitgeist im Venedig des 16. Jahrhunderts wunderbar einfängt. Es ist interessant, von den damaligen Gepflogenheiten, dem Alltag, der Küche und der Kunst zu lesen.

Die Autorin bezieht sich dabei auf die historisch verbürgten Erlebnisse Angela del Moros, die unter dem Namen „Venus von Urbino“ unsterblich wurde.

Aufgrund seiner übergeordneten Themen ist „La Fenice“ ein zeitloser Roman, der Mut macht, an Widerständigkeit und Selbstvertrauen appelliert und Hoffnung gibt.

Für mich ist der Roman nicht nur eine Perle, die einen dauerhaften Platz in meinem Bücherregal bekommen wird, sondern darüber hinaus ein must-reread!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2021
Die Unschuldigen
Crummey, Michael

Die Unschuldigen


ausgezeichnet

Leben und Überleben.
Aufwachsen unter extremen Umständen.

Was für ein eindringlicher und besonderer Roman, der um das Jahr 1800 in einer kleinen, abgelegenen Bucht in Neufundland spielt!

Es geht um den 11-jährigen Evered und seine um zwei Jahre jüngere Schwester Ada.
Die beiden Kinder von Fischern wachsen in ärmlichen Verhältnissen in der kanadischen Wildnis auf.
Die Familie lebt vom Kabeljaufang im eiskalten Atlantik und vom Tauschhandel des gesalzenen Fisches in lebensnotwendige Waren, der alljährlich im Frühjahr mit dem ankommenden Versorgungsschiff getätigt wird. Trotz mühevoller Arbeit und großem Fleiß wachsen die Schulden an.

Als kurz nacheinander erst die Mutter und dann der Vater stirbt, müssen sich die Geschwister fernab jeglicher Zivilisation alleine durchschlagen.
Das Versorgungsschiff „Hope“ ist erst in einigen Monaten zu erwarten.
Ihr eiserner Überlebenswille verleiht ihnen Kräfte und sie führen das harte Leben ihrer Eltern weiter und kommen mit dem, was sie von ihren Eltern gelernt haben in der erbarmungslosen Einöde ganz gut klar. Lesen und Schreiben können sie nicht, ist aber in dem herausfordernden Alltag und täglichen Überlebenskampf auch kein Defizit.
Sie haben keinerlei Luxus, von Telefon, Strom oder fließend Wasser können sie nur träumen, und können sich nur auf sich selbst und den Bruder bzw. die Schwester verlassen.
Sie werden älter, haben keine Zeit, Kind zu sein und bewahren sich dennoch ihre „kindliche Unschuld“.

Obwohl das Versorgungsschiff in regelmäßigen, aber sehr großen Abständen vor Anker geht und es Alternativen wie Dorfleben, Schulbildung und Familiengründung gäbe, beschließen die Geschwister, weiterhin als Fischer in der Bucht zu bleiben, vom Fischfang zu leben und mit eiserner Disziplin die Schulden des Vaters abzutragen.

Mit dem Schiff kommen lebensnotwendige Vorräte, es triggert aber auch Bedürfnisse, Hoffnungen, Wünsche und Träume, die nicht nur mit dem Leben in dieser unwirtlichen Gegend und in der Zweisamkeit mit dem Geschwister zu tun haben.
Fremde und Seefahrer öffnen ihre Augen und erweitern ihren geistigen Radius, können aber das eintönige und isolierte Leben in der Bucht auch aufwühlen und in Unruhe bringen.

Aber eines Tages ereignet sich ein einschneidendes Erlebnis und werden basale Werte wie Zusammenhalt, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Vertrauen in Frage gestellt.

Michael Crummey verwendet kein Wort zu viel und keines zu wenig.
Er schreibt intensiv, präzise, atmosphärisch und bildgewaltig, so dass man die Protagonisten, deren Handlungen und die rauhe, majestätische Natur vor sich sieht.
Der Gegensatz zwischen der elenden Plackerei, dem kargen Alltag und der Schönheit der Natur wird dem Leser anschaulich vor Augen geführt.

„Die Unschuldigen“ ist ein faszinierender, nachdenklich stimmender und nachhallender Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle!
Man könnte ihn einen beklemmenden und beeindruckenden Survival- und Coming-of-Age-Roman nennen, wollte man ihn einordnen.

Bewertung vom 07.01.2021
Sieben Richtige
Jarck, Volker

Sieben Richtige


ausgezeichnet

In dem Roman geht es um Zufälle, durch die sich sieben verschiedene Lebenswege mehr oder weniger überschneiden.
Es sind unspektakuläre Geschehnisse, wenn man sie auf das große Ganze bezieht, aber für die jeweils Betroffenen sind es weltbewegende Ereignisse.

Auf diese Weise lesen wir von Schicksalsschlägen, erfahren wir verschiedene Lebensgeschichten, die ineinander greifen und lernen wir vielfältige Beziehungen und unterschiedliche und interessante Charaktere kennen.
Wir lesen vom ganz normalen Leben, über das außergewöhnlich fesselnd geschrieben wird.

Wir erfahren von der zerbrochenen Ehe zwischen Victor und Marie, zu der auch noch eine Krebsdiagnose kommt.
Wir werden Zeugen vom Alptraum aller Eltern, dem dramatischen Unfall des Töchterchens, den man nur beobachten, aber nicht verhindern kann.
Wir lesen vom völlig unerwarteten Tod eines Vaters, der gerade dabei war, den Umzug von Eva Winter zu bewerkstelligen, für die vor Jahren der o. g. Victor geschwärmt hat.

Der Kreis schließt sich. Die Welt ist so groß und doch so klein. Alles ist hier mit allem in Verbindung... so als hätte man einen Sechser im Lotto mit Zusatzzahl. Unwahrscheinlich, aber eben doch möglich.
Mir fiel das Bild der Kettenreaktion eines Dominospiels ein. Nachdem der erste Stein angestoßen ist, gerät alles in Bewegung...

Der Autor schreibt rasant, eindringlich und lebendig und seine Sprache ist ein Genuss.
Bildgewaltig und wortgewandt sind Adjektive, die sich beim Nachdenken über die Lektüre aufgedrängt haben.

„Sieben Richtige“ ist der bewegende und tiefgründige Debutroman des 1974 geborenen Volker Jarck.
Er liest sich leicht und schenkte mir einen ganzen Tag Lese- und Lebensfreude.
Er hat eine Wucht, die sich in viele Richtungen bemerkbar macht: man freut sich und muss lachen, man ist tief berührt oder traurig und muss die Tränen wegblinzeln, man bangt und hofft mit den Protagonisten... man muss einfach staunen, was Volker Jarck hier mit seinem Erstling geschaffen hat.

Ich empfehle „Sieben Richtige“ sehr gerne weiter.
Es ist nun eines meiner vielen Lieblingsbücher!

Bewertung vom 07.01.2021
Couscous mit Zimt
Koester, Elsa

Couscous mit Zimt


ausgezeichnet

Eine Geschichte von drei Frauen und drei Generationen - mitreißend, berührend und interessant erzählt.

Es geht in dem packenden Debutroman von Elsa Koester um drei aufrechte, respektable und eigenwillige Frauen, die in ihrem Leben so allerlei mitgemacht haben.

Lisa kommt in den Genuss einer Eigentumswohnung in Paris, nachdem ihre Großmutter Lucile mit über 100 Jahren und kurz danach ihre Mutter Marie an Krebs gestorben sind...zwei charakterstarke und unabhängige Frauen, deren Verhältnis alles andere als harmonisch war.

Lucile hat ihre letzten Jahre zurückgezogen in dem Pariser Apartment verbracht. Ihre Begleiter waren Zigaretten, Alkohol und Bücher.

Lisa weiß von ihrer Mutter Marie so Einiges aus ihrer Vergangenheit. Aber es ist eben nur eine Sicht der Dinge und wer weiß schon, ob ihr vollständig und wirklich zu trauen ist.

Ihre willensstarke Großmutter Lucile musste nach der Unabhängigkeit Tunesiens mit ihren Töchtern Marie und Solange Hals über Kopf die Heimat verlassen.
In Frankreich wurden sie sesshaft, aber die energiegeladene lebhafte Marie verkraftete den Weggang aus ihrem Geburtsland nie zur Gänze. Immer wieder geriet sie in der neuen Heimat aus dem Tritt, nie gelang es ihr, wirklich anzukommen und Fuss zu fassen.
Marie hatte nicht nur diese qualvolle Entwurzelung, sondern auch eine aufwühlende erste Liebe zu verdauen, bevor sie schließlich vor ihrer zudringlichen Mutter Lucile nach Berlin floh, wo schließlich Lisa zur Welt kam.

Nachdem Lisa nach dem Tod der beiden Frauen in Paris ankommt, um sich um den Nachlass zu kümmern und das Notwendige zu regeln, wird sie von Erinnerungen an ihre chaotische und komplizierte Familie eingeholt.

Die Autorin erzählt einfühlsam, feinfühlig, voller Natürlichkeit und mit spürbarer Freude und Wärme, die die Lektüre zu einem Genuss machen.
Mit scheinbarer Leichtigkeit verknüpft sie die Schicksale ihrer in all ihrer Vielschichtigkeit gezeichneten Figuren, so dass ein harmonisches und stimmiges Ganzes entsteht.
Gut herausgearbeitet hat sie die transgenerationale Weitergabe von Konflikten und das Nach- und Hineinwirken vergangener Erfahrungen und Geschehnisse in die Gegenwart.
Zeitweise ist es harte Kost, die es zu verdauen gilt, aber das ist der schonungslos offenen, ehrlichen und schnörkellosen Schilderung geschuldet, was meines Erachtens ein Pluspunkt des Buches ist.

Die 1984 in Berlin geborene Elsa Koester hat mit „Couscous mit Zimt“ einen bewegenden, authentisch wirkenden, bildgewaltigen und lesenswerten Familienroman geschrieben, bei dem ich Neues erfuhr und den ich sehr gerne weiterempfehle.
Vor der Lektüre hatte ich keine Ahnung, was der Begriff „Pied noir“ bedeutete und dass er die Algerienfranzosen meint, die nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehrten.

Bewertung vom 05.01.2021
Herbst / Jahreszeitenquartett Bd.1
Smith, Ali

Herbst / Jahreszeitenquartett Bd.1


ausgezeichnet

Der Herbst des Lebens und viel mehr als ein Brexit-Roman.


„Herbst“ ist der erste Band des Jahreszeitenquartetts der 1962 in Schottland geborenen Ali Smith, die mit diesem Roman zum vierten Mal auf der Shortlist des Man Booker Prizes platziert war.

Hier werden die gesellschaftspolitischen Veränderungen und der gegenwärtige Zustand nach dem Brexit-Votum beschrieben, aber auch die Themen Freundschaft, Kurzlebigkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit spielen eine Rolle.

Der 101-jährige jüdische Pflegeheimbewohner Daniel, ein ehemaliger Schlagerkomponist, liegt im Sterben.
Die 32-jährige Aushilfdozentin Elizabeth, seine ehemalige Nachbarin, begleitet ihn in dieser letzten Phase seines Lebens.
Sie sitzt jeden Tag lesend an seinem Krankenbett und jedes Mal, wenn er aus seinem Dämmerschlaf erwacht, fragt er sie: „Was liest Du gerade?“

Daniel hatte eine große Bedeutung in Elizabeths Leben. Er war gleichermaßen Vaterersatz, Vertrauter, Freund und Mentor, führte sie in die Welt der Bücher ein und ermunterte sie durch Fragen und Diskussionen zu selbstbestimmtem, unabhängigem und kritischem Denken.
Er begleitete sie sozusagen ins Erwachsenenleben, was von ihrer Mutter skeptisch beäugt wurde.
Ist es nicht verdächtig, wenn sich der Fremde aus dem Nachbarhaus so intensiv der Tochter widmet? Muss man nicht misstrauisch werden, wenn man deren gegenseitige Zuneigung wahrnimmt?

Während dieser letzten gemeinsamen Zeit im Pflegeheim, in der Elizabeth dem Greis etwas von dem zurückgeben möchte, was er ihr einst geschenkt hat, hängen sie zusammen Gedanken nach und schweigen in Erinnerungen und Rückblenden.

Es sind gegenwartsbezogene Gedanken, wie Kunst, Rassismus und Brexit-Votum, Rückblenden in die Zeit des Krieges und Erinnerungen an die Kindheit, die die beiden beschäftigen und verbinden.

Ali Smith schreibt anschaulich, ergreifend und poetisch und appelliert subtil an mehr Menschlichkeit. Den typisch britischen Humor hat sie dabei gekonnt eingebaut.

„Herbst“ ist ein beeindruckender und wortgewandter Roman, der Politik fast nebenbei, äußerst unaufdringlich, unterhaltsam und poetisch vermittelt und viele Denkanstöße gibt.

Ich empfehle dieses besondere, außergewöhnliche und aktuelle Buch, das mich bald in seinen Bann zog, äußerst gern weiter, bin nun gespannt auf die Folgebände und freue mich schon sehr darauf, sie zu lesen.

Bewertung vom 04.01.2021
Hinter diesen Türen
Ware, Ruth

Hinter diesen Türen


ausgezeichnet

„Hinter diesen Türen“ spielt in einem riesigen, idyllisch gelegenen und abgeschiedenen Anwesen in den schottischen Highlands, das von außen betrachtet recht bodenständig und konservativ daherkommt, aber innen durch und durch mit intelligenter Technologie ausgestattet ist.

Die 27-jährige Erzieherin Rowan meint, genau dort ihren Traumjob als Kindermädchen bei einer wohlhabenden Familie mit vier Töchtern gefunden zu haben.
Eine üppige Bezahlung dafür, dass sie sich um zwei kleine Mädchen und ein Baby kümmern soll, klingt mehr als verlockend.
Sie ist fasziniert von dem prächtigen Herrenhaus mit seiner High-Tech-Ausstattung in überwältigender Landschaft.

Doch sie wird bald eines Besseren belehrt. Die Stelle ist stressig und der abstoßende Familienvater kommt ihr zu nahe. Außerdem geschehen plötzlich unerklärliche, verstörende und beängstigende Dinge. Rowan hört nachts Geräusche; es scheint zu spuken.

Sie meint, ständig beobachtet zu werden und auch die Mädchen legen ein zunehmend eigenartiges Verhalten an den Tag.
Und dann passiert das Ungeheuerliche: ein Todesfall ereignet sich und Rowan soll die Schuldige sein, weshalb sie erstmal ins Gefängnis muss...

„Hinter diesen Türen“ ist ein stimmiger und schlüssiger, spannender und schaurig-mysteriöser Psychothriller mit überraschenden Wendungen, der mich von Anfang an in seinen Bann zog.

Ich mochte die durchgehend unheimliche Atmosphäre und es gefiel mir sehr, dass Gefühle und Verhalten der Protagonistin nachvollziehbar waren.

Zweierlei muss ich beanstanden:
Es ist kaum nachvollziehbar und für mich eher wenig glaubwürdig, dass eine Angeklagte ihrem potentiellen künftigen Anwalt einen ganzen Roman schreibt und das Ende des Thrillers war mir etwas zu übereilt.

Aber ansonsten gefiel mir dieser Roman ausgesprochen gut und ich empfehle ihn sehr gerne weiter!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.01.2021
Die Vögel
Vesaas, Tarjei

Die Vögel


ausgezeichnet

Der ca. 37-jährige Mattis ist anders.
Er ist in sich gekehrt, lebt in seiner eigenen Welt und wird von den Dörflern verspottet, verlacht und als zurückgeblieben abgestempelt.
Sie nennen ihn abfällig „Dussel“.
Er weiß, dass er nicht ist, wie alle anderen.
In seinem Kopf ist oft ein Durcheinander und seine Gedanken schweifen immer wieder ab.

Zusammen mit seiner um ca. drei Jahre älteren Schwester Hege, die sich um ihn und den Haushalt kümmert, wohnt er in einem kleinen alten Häuschen am See.
Die beiden haben viele Gemeinsamkeiten, aber harmonisch geht es bei weitem nicht immer zu. Für Hege ist es nicht immer einfach, freundlich und geduldig mit ihrem „...einfältigen Bruder...“ (S. 8) zu sein. Vieles versteht er nicht und oft hat er einfach keine Lust.
Am Liebsten verbringt er seine Zeit im Freien.

Hege erledigt Strickarbeiten und der naturverbundene Mattis verrichtet einfachste Hilfsarbeiten auf dem Feld und im Wald. Damit bestreiten die beiden ihren Lebensunterhalt. Auch Mattis erhält einen Lohn obwohl er sich oft ungeschickt und unbeholfen anstellt.

Mattis, der die Welt mit neugierigen und kindlichen Augen betrachtet, hat ein Faible für Waldschnepfen und er fühlt sich mit seiner Schwester sehr verbunden, auch wenn geschwisterliche Konflikte nicht ausbleiben.

Alles hat sich gut eingespielt, läuft in gewohnten Bahnen und wie am Schnürchen bis eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, der sich in Hege verliebt und sich bei ihnen einnistet.
Und zu allem Überfluß wird dann auch noch eine Waldschnepfe, die er gern und oft beobachtet hat, erschossen.

Diese beiden Geschehnisse bringen den kindlichen Mattis ziemlich durcheinander, sein inneres Gleichgewicht gerät in eine Schieflage und seine bis dahin sichere Welt beginnt zu wanken.
Er empfindet eine gewisse Bedrohlichkeit...

Mit einzigartiger Sprache - einfach und gleichzeitig wortgewaltig, fesselnd, poetisch und bildhaft - erzählt Vesaas die bezaubernde und melancholische Geschichte von Mattis, in den man sich wunderbar hineinversetzen und mit dem man problemlos mitfühlen kann. Egal ob Kummer, Sorgen, Nöte, Freude oder Angst... alles wird spürbar und greifbar.

Faszinierend ist, dass das Ungesagte zwischen den Zeilen nicht minder fesselt. Da wird etwas ganz Bedeutsames ohne Worte transportiert und das ist große Kunst!

Nicht unerwähnt sollen die eindrücklichen Landschafts- und Naturbeschreibungen bleiben. Wälder, Seen, Bäche, die Tierwelt und Wetterphänomene werden vor dem geistigen Auge lebendig.

Es macht große Freude, den Außenseiter Mattis zu begleiten und einen Einblick in die Innenwelt dieses sonderbaren, in sich gekehrten jungen Mannes zu bekommen, der Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Beziehungen hat.

Ich empfehle diesen unaufgeregt, glaubwürdig und feinfühlig erzählten Roman sehr gerne weiter! Er hat eine Intensität und übt einen Sog aus, obwohl er nicht spannend im eigentlichen Sinn ist.
Man kann sich hineinfallen und treiben lassen.
Lesevergnügen und Entspannung pur, obwohl schon ganz bald klar ist, dass etwas Tragisches passiert.

Ein Buch zum Genießen... trotz aller Ernsthaftigkeit und Tragik.

Ach ja: Das Nachwort von Judith Henkel ist übrigens auch sehr lesenswert, weil sie interessante und informative Anmerkungen und Interpretation zum Besten gibt.

1 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2021
Schatten der Welt / Wege der Zeit Bd.1
Izquierdo, Andreas

Schatten der Welt / Wege der Zeit Bd.1


ausgezeichnet

Wir lernen in „Schatten der Welt“, einer gelungenen Mischung aus historischem Roman, Abenteuerroman und Coming-of-Age-Geschichte, die drei Jugendlichen Carl, Artur und Isi kennen, die in einer Stadt in Westpreußen (heutiges Polen) leben.

Der jüdische Schneidersohn Carl kommt aus ärmlichen Verhältnissen, ist sensibel, herzensgut und zurückhaltend.
Artur, der Sohn eines grobschlächtigen und gewalttätigen Wagners, der dem Alkohol nicht abgeneigt ist, ist selbstbewusst, lösungsorientiert und gerissen und die Lehrertochter Isi ist kess, aufmüpfig, clever, mutig und hat es faustdick hinter den Ohren.

Obwohl die drei recht unterschiedliche Charaktere haben, eint sie der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie haben Sehnsüchte und Träume, sind lebenshungrig und wollen der Provinz den Rücken kehren.

Das dreiblättrige Kleeblatt ist unzertrennlich, geht miteinander durch dick und dünn, stärkt einander den Rücken und hilft sich gegenseitig.

Es gelingt ihnen doch tatsächlich mit dem Aberglauben ihrer Zeitgenossen Geld zu machen und aufgrund von Arturs Fingerspitzengefühl werden sie zu frühen und modernen Spediteuren.
Die drei mausern sich zu erfolgreichen und unschlagbaren Jungunternehmern.

Eine erste Veränderung in ihrer Freundschaft beginnt, als Carl eine Ausbildung zum Fotografen macht und Artur und Isi ein Paar werden.

Ausserdem brodelt es unter der oberflächlichen Idylle gewaltig. Soziale Missstände werden immer eklatanter und politische Unruhen rumoren zunehmend.

Die Unbeschwertheit des Trios endet, als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht.
Carl und Artur werden eingezogen, Isi muss in der Heimat an ganz anderen Fronten kämpfen. Es sind Kämpfe gegen den Vater und gegen die Obrigkeit.

Nach Kriegsende ist alles anders. Schlagartig hat sich alles verändert. Türen haben sich geschlossen, neue Türen öffnen sich.

Andreas Izquierdo bringt uns kenntnisreich und phantasievoll die äußerst unterhaltsame und wendungsreiche Geschichte von Carl, Artur und Isi näher.
Er erzählt fesselnd und feinfühlig, rührend und berührend... aber niemals sentimental oder gar kitschig!
Mit großem Talent spielt er auf der Klaviatur der Gefühle seiner Leser: manchmal ist man wütend, manchmal traurig und manchmal muss man lachen.

„Schatten der Welt“ ist ein äusserst lebendiger Text, in dem nichts beschönigt wird. Nicht das Grauen des Krieges und nicht die innere Not der Menschen.
Und trotzdem ist es kein schwermütiger und deprimierender Text. Immer wieder gibt es Lichtblicke und durchgehend schwingt Hoffnung mit.
Man fiebert mit diesen drei liebenswerten und mutigen jungen Menschen mit, die in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit gezeichnet werden.

Der Wechsel der Erzählperspektive zwischen einem auktorialen Erzähler und dem Ich-Erzähler Carl gibt der Geschichte Pep, macht sie noch abwechslungsreicher und erhöht die emotionale Intensität. Ein kluger Schachzug!

Für mich war diese authentische und atmosphärische Lektüre, die den damaligen Zeitgeist, sowie historische und gesellschaftliche Hintergründe wunderbar wiedergibt, ein großes Lesevergnügen.
Es ist spannend, den drei Protagonisten zu folgen und es ist interessant, von den Geschehnissen der damaligen Zeit, der klaffenden Schere zwischen arm und reich, der rigiden Gesellschaftsordnung usw. zu lesen.

Ob es wohl eine Fortsetzung gibt?

Klare Leseempfehlung!