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Klara

Bewertungen

Insgesamt 174 Bewertungen
Bewertung vom 22.03.2020
Die stummen Wächter von Lockwood Manor
Healey, Jane

Die stummen Wächter von Lockwood Manor


ausgezeichnet

Spuk auf dem Landsitz
Jane Healeys Roman “Die stummen Wächter von Lockwood Manor“ setzt 1939 ein. Die junge Museumsangestellte Hetty Cartwright begleitet die Abteilung für Säugetiere des Londoner Naturkundemuseums, als diese auf ein Landgut außerhalb ausgelagert wird, um die wertvollen Exponate vor den erwarteten deutschen Bomben zu schützen. Lord Lockwood hat einen Teil seines Hauses zur Verfügung gestellt. Hetty merkt jedoch sofort, dass weder sie noch ihre Schützlinge dort willkommen sind. Das Personal begegnet ihr mit Ablehnung, ja sogar unverhohlenem Hass, und der arrogante Lord lässt keine Gelegenheit aus, sie zu demütigen. Schon in der ersten Nacht verschwindet der Jaguar. In vielen anderen Nächten werden Tiere umgesetzt oder beschädigt. Auch Motten, Mäuse und Füchse von draußen greifen die ausgestopften Tiere an, die Hettys einziger Trost sind. Außerdem sind nachts immer wieder Schreie zu hören, und schemenhafte Gestalten huschen über dunkle Flure. Nur Lucy, die etwa gleichaltrige Tochter des Lords, begegnet Hetty freundlich. Beide Frauen haben jedoch eine Geschichte psychischer Störungen aufgrund einer unglücklichen Kindheit und leiden unter Albträumen. Auch Lucys ein Jahr zuvor verstorbene Mutter galt als geisteskrank. Lucy und Hetty entwickeln Gefühle für einander - der einzige Lichtblick in einer insgesamt sehr düsteren Geschichte. Zu der unangenehmen Situation im Haus kommt die Bedrohung von außen. Der Luftkrieg hat begonnen, kriegstaugliche Männer werden eingezogen, und Lockwood Manor muss mit immer weniger Personal auskommen.
Dieser an äußerer Handlung arme Roman steht in der Tradition des englischen Schauerromans (gothic novel), einem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandenen Genre, das sich bis ins 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob es in einem Roman des 21. Jahrhunderts tatsächlich spukt, oder ob es für die übernatürlichen Phänomene am Ende eine logische Erklärung gibt. Der Autorin geht es darum, eine Wortkulisse zu schaffen, die dem Leser die wachsende Bedrohung von innen und außen verdeutlicht. Das gelingt ihr hervorragend, unter anderem durch vielfache Wiederholung. Alles steuert auf eine Katastrophe zu. Werden Hetty und Lucy überleben?
Ich fand den Roman nicht besonders spannend, weil auf fast 380 Seiten einfach zu wenig passiert, finde aber schon, dass er durch seine atmosphärische Dichte überzeugt.

Bewertung vom 07.03.2020
Milchmann
Burns, Anna

Milchmann


ausgezeichnet

Wir gegen die anderen
Die 18jährige im Mittelpunkt des Romans “Milchmann“ von Anna Burns hat keinen Namen wie die anderen Figuren dieses Romans auch – mit einer Ausnahme: Milchmann heißt wirklich so (S. 393-5). Die Protagonistin wächst als eines von zehn Geschwistern in einer katholischen Familie, wahrscheinlich in Belfast auf. Sie wird Mittelschwester genannt und trifft sich seit fast einem Jahr mit Vielleicht-Freund. Eines Tages wird Milchmann zu ihrem Stalker. Er weiß alles über sie, kennt ihren Tagesablauf und will sie für sich, obwohl er 41 Jahre alt und verheiratet ist. Mittelschwester wird nur zweimal mit dem Mann gesehen, und schon sagt man ihr eine Affäre nach und beschimpft sie als schamloses Flittchen. In dieser Gemeinschaft verbreitet sich Klatsch blitzschnell und wird sofort für die reine Wahrheit gehalten. Ohnehin ist es in diesen Zeiten gefährlich, aufzufallen. Die junge Frau war schon vorher ins Gerede gekommen, weil sie im Gehen Literatur des 19. Jahrhunderts las, ohne sich um die überall lauernde Gefahr zu kümmern. Mit ihrem zum Selbstschutz angenommenen abgestumpften Gesichtsausdruck wird sie für arrogant gehalten, zumal sie als angebliche Geliebte von Milchmann, einem IRA-Führer, sowieso eine Sonderstellung annimmt. Die IRA-Mitglieder werden im Roman Verweigerer genannt. Mit ihnen legt man sich besser nicht an. Schon der Verdacht, ein Denunziant zu sein, kann das Todesurteil bedeuten. Die Katholiken in diesem Viertel – aus der Sicht der Protagonistin „Wir“ - müssen jeden Anschein vermeiden, mit den „anderen“, den Protestanten, den englischen Soldaten und jeder Art von Obrigkeit Kontakt zu haben. Werden sie Opfer einer Straftat, gehen sie nicht zur Polizei, sind sie schwer verletzt oder todkrank, wagen sie es nicht, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. Die „anderen“ leben in ihrem eigenen Viertel, auf der anderen Seite der Straße oder auf der anderen Seite der See, d.h. in England.
Was hat das alles zu bedeuten? In Nordirland herrscht seit Jahren eine Art Bürgerkrieg, der insgesamt 30 Jahre dauern und mehr als 3500 Opfer fordern wird. Im Roman hat fast jede Familie schon Opfer zu beklagen. Die Bombenanschläge der IRA und die Massaker der anderen paramilitärischen Gruppen sowie die Vergeltungsschläge der englischen Armee gehen durch die Weltpresse. In diesem Konflikt geht es nicht um Religion, sondern um politische Ziele. Am Beispiel von Mittelschwester lässt sich sehr gut erkennen, was es bedeutete, in solchen Zeiten an diesem Ort aufzuwachsen. Angst und Misstrauen bestimmen das Leben der Menschen. Leider ist das Buch nur verständlich, wenn man schon vorher über den Nordirlandkonflikt Bescheid weiß. Hinzukommt, dass der Roman auch sprachlich wegen des kreativen Umgangs der Übersetzerin mit der deutschen Sprache harte Kost ist. Bandwurmsätze, weitgehend fehlende Absätze und eine Gliederung in nur sieben Kapitel machen die Lektüre mühsam. Das Wenige, das passiert, wird in unerträglicher Breite erzählt. Mir hat dieser Roman nicht gefallen.

Bewertung vom 04.02.2020
Von Oma mit Liebe
Mayer, Katharina

Von Oma mit Liebe


ausgezeichnet

Omakuchen machen den Alltag besonders
Das Backbuch ist in folgende Kategorien aufgeteilt:
Kleine Leckerbissen, Lieblingskuchen für jeden Tag, Torten für jeden Anlass, Trendig & Aus aller Welt, danach folgt das Register (nach beliebten Zutaten wie Apfel oder Schokolade alphabetisch eingeordnet und hervorgehoben).
Die Rezepte enthalten alle wichtigen Informationen, die man zum Nachbacken benötigt. Welche Form wird gebraucht, wie lange muss der Kuchen in den Ofen und wie lange dauert die Zubereitung und das eigentliche Backen? Die Zutatenlisten enthalten keine exotischen oder schwer zu beschaffenden Zutaten, das meiste ist in einer gut sortierten Küche vorhanden. Die Rezepte sind altbewährt und tausendmal gebacken und bestimmt immer wieder verfeinert worden, ohne dass sie altmodisch wirken. Jede Oma bringt ihre Rezepte aus einem wahrscheinlich unendlich großen Repertoire ein. Für den Hobbybäcker gibt es viele Tipps und Tricks, wie z.B. Biskuit, Mürb- oder Hefeteig hergestellt wird und wie der eine oder andere Kuchen noch abgewandelt werden kann. Ich habe den Zwetschgenkuchen mit Sauerrahm von Oma Anni und die Pfirsich-Schmand-Torte von Oma Renate gebacken. Beide Kuchen schmecken hervorragend, auch wenn sie nach unseren heutigen Kenntnissen von gesunder Ernährung etwas viel Zucker enthalten. Doch das war früher wahrscheinlich so, süß sollte und musste es sein. Das kann jeder nach seinem eigenen Geschmack ändern. Ich werde auf jeden Fall noch viele Rezepte nachbacken. „Von Oma mit Liebe“ ist für mich das beste Backbuch in meiner Backbuchsammlung. Ich kann es jedem empfehlen, der gern backt, egal ob Anfänger oder Profi. Hier findet jeder das passende Rezept.

Bewertung vom 03.01.2020
Pinch of Nom
Allinson, Kate;Featherstone, Kay

Pinch of Nom


ausgezeichnet

So gut schmeckt Abnehmen
“Pinch of Nom“ ist das ein bisschen andere Kochbuch, das die vorhandene Kochliteratur sinnvoll ergänzt. Die beiden Autorinnen haben es sich zum Ziel gesetzt, leckere, interessante Rezepte anzubieten, die den Gedanken an Diät und Gewichtsabnahme in den Hintergrund treten lassen und dennoch funktionieren. Mich hat dieses Konzept überzeugt, zumal Kay und Kate offensichtlich “Frauen von Format“ sind und kein Interesse an Fettmachern haben. Ich habe einige Rezepte nachgekocht, zum Beispiel das Gulasch auf S. 140. Das Rezept war einfach zuzubereiten und lecker. Interessant ist, dass Paprikaschoten und gehackte Tomaten an das Gulasch kommen. In dieser Variation kannte ich das Gericht noch nicht. Ganz hervorragend ist auch das Essen auf S. 106. Shakshuka. Es darf für mich in keinem guten Kochbuch fehlen. Das nordafrikanische Eintopfgericht mit gebackenen Eiern in Paprika-Tomaten-Suga hat mich voll überzeugen können. An dem Apfelstrudel auf S. 258 habe ich mich versucht, bin allerdings gescheitert. Das Rezept ist mehr als knifflig zuzubereiten. Insgesamt finde ich das Kochbuch hervorragend. Die Rezepte sind einfach nachzukochen, verständlich beschrieben und was ich gekocht habe, war köstlich. Überzeugt hat mich auch die Aufteilung, die eine leichte Orientierung ermöglicht. Es gibt Rezepte für jeden Tag. Sie sind ausgewogen, kalorienarm und machen satt. Einmal die Woche, diese Gerichte sollten in Maßen gegessen werden, denn hier schlägt der kalorienbewusste Esser über die Stränge. Und es gibt Rezepte für besondere Anlässe, die man sparsam und wirklich nur zu besonderen Anlässen kochen sollte. Der Erfolg dieses innovativen Kochbuchs ist verdient, und ich werde sicher noch so manches ausprobieren.

Bewertung vom 18.12.2019
Weihnachten in Amsterdam
Boven, Yvette

Weihnachten in Amsterdam


sehr gut

Eine kulinarische Reise nach Amsterdam
Auf Yvette van Bovens Kochbuch “Weihnachten in Amsterdam“ war ich schon sehr gespannt. Das Buch besticht durch seine Optik mit den stimmungsvollen Fotos von Amsterdam, aber auch durch die außergewöhnlichen Rezepte. Ich habe einige davon ausprobiert, z.B. die Blumenkohlcremesuppe und den Hirschschmortopf mit Blätterteighaube. Ich hatte keine Probleme bei der Zubereitung, und beide Gerichte schmeckten sehr gut. Die Blutorangen-Baiser-Törtchen waren mir dagegen ein bisschen zu süß.
Neben der liebevollen und hochwertigen Gestaltung gefällt mir vor allem der Aufbau. Praktische Tipps sind immer gut, vor allem solche, die durch optimale Organisation helfen, Stress zu vermeiden oder die Ideen für komplette Festtagsmenüs, die insgesamt zum Teil sehr mächtige Speisefolgen ergeben. Mein Einwand betrifft die Alltagstauglichkeit sowohl, was den zeitlichen Aufwand als auch die Beschaffung der teilweise sehr ungewöhnlichen Zutaten betrifft. Die kauft man nicht mal so eben im Supermarkt um die Ecke. “Weihnachten in Amsterdam“ ist ein für das Fest gut geeignetes Kochbuch, und die Rezepte sind der holländischen Tradition entsprechend anders, als wir es in Deutschland gewohnt sind. Das wunderschöne Buch wird einen Platz in meiner Kochbuchsammlung finden, auch wenn ich die meisten Gerichte nicht in mein Repertoire aufnehme.

Bewertung vom 25.11.2019
Drei
Mishani, Dror

Drei


ausgezeichnet

Die Sehnsucht nach Liebe kann gefährlich sein
Im Mittelpunkt von Dror Mishanis neuem Roman “Drei“ stehen drei Frauen, die nacheinander dem sympathischen Anwalt Gil, Anfang 40, begegnen . Orna ist von ihrem Mann wegen einer anderen Frau verlassen worden und ist seitdem geschiedene, alleinerziehende Mutter des 9jährigen Eran. Emilia aus Lettland arbeitet als Pflegekraft in Israel und pflegt Gils Vater bis zu seinem Tod. Danach ist sie mittellos, ohne Wohnung und Einkommen. Gil hilft ihr, und man kommt sich näher. Die Dritte im Bunde ist eine Mutter von drei Töchtern, die auf der Suche nach Anerkennung ein Masterstudium absolviert. Über den zurückhaltenden, geheimnisvollen Gil erfährt man wesentlich weniger, außer dass er Vater von zwei Töchtern ist und beruflich öfter in Bukarest und Warschau zu tun hat. Mehr kann man über die Handlung kaum sagen, ohne zu viel zu verraten.
In seinem raffiniert konstruierten Roman liefert Mishani Psychogramme der drei Frauen, die gestresst, in unsicheren Lebensumständen auf der Suche nach Liebe und Anerkennung sind. Lange weiß der Leser nicht, wohin die Reise in diesem literarisch anspruchsvollen Roman geht, der sich allmählich zum Krimi entwickelt. Mir hat diese spannende Geschichte hervorragend gefallen.

Bewertung vom 23.11.2019
Der Sprung
Lappert, Simone

Der Sprung


ausgezeichnet

Leben oder Sterben?
In Simone Lapperts Roman “Der Sprung“ steht eine Frau namens Manu auf dem Dach eines Hauses. Was hat sie vor? Der Roman ist in drei große Kapitel unterteilt: Der Tag davor, Erster Tag und Zweiter Tag. Vor jedem Kapitel findet sich ein Abschnitt aus der Sicht der Protagonistin, die das Fallen beschreibt und was sie dabei denkt und fühlt bis zum Aufprall. Hat der Sprung in den Tod bereits stattgefunden? Eine große Zahl kürzerer Kapitel bietet den Blick einer Vielzahl von Personen auf die Ereignisse. Diese Menschen stehen Manu nahe oder kennen sie flüchtig: Maren, Felix, Finn, Theres, Egon, Winnie, Astrid usw. Sie haben alle ihre eigene Geschichte, Schwierigkeiten im Alltag, belastende Erinnerungen. Gleichzeitig erfährt der Leser auch einiges über Manu, z.B. durch ihre Schwester Astrid oder ihren Freund Finn, der allerdings nicht einmal ihren Nachnamen kennt, geschweige denn ihre Vergangenheit. Niemand liefert jedoch irgendeine Information, die einen Todeswunsch erklären könnte.
Während Manu auf dem Dach bis zur Kante hin und herläuft, sammelt sich unten eine Menschenmenge, die vor allem eins will: das Foto des Todessprungs schießen. Die Polizei ist im Einsatz, hat eine Absperrung angebracht und nimmt von der obersten Wohnung aus Kontakt zu der Frau auf, um ihren Selbstmord zu verhindern. Man lässt niemand zu ihr, nicht einmal ihren Freund Finn. Manu verlässt das Dach nicht, sondern bekommt dort Wutanfälle und wirft immer wieder Dachziegel und Gartengeräte nach unten. Das Drama zieht sich über zwanzig Stunden hin.
Die Autorin zeichnet das Porträt einer Kleinstadt an der Schweizer Grenze und ihrer Bewohner. Anfangs ist die Personenvielfalt etwas verwirrend, jedoch werden viele Figuren dem Leser im Laufe der Geschichte sehr vertraut. Wir erleben, wie die Extremsituation eines scheinbar bevorstehenden Selbstmords sie alle verändert. Sie setzen sich mit belastenden Erinnerungen auseinander, treffen wichtige Entscheidungen für ihr Leben oder wagen einen längst überfälligen Neuanfang. Das wird von der Autorin, die übrigens mit dem bekannten Schweizer Autor Rolf Lappert verwandt ist, spannend und auch sprachlich sehr überzeugend dargestellt. Ein beeindruckender Roman.

Bewertung vom 21.09.2019
Harz
Riel, Ane

Harz


ausgezeichnet

Eine Dunkelheit voller Schmerz
In “Harz“, dem neuen Roman der preisgekrönten dänischen Autorin Ane Riel, geht es um eine Familie, die auf einem einsamen Hof im Norden einer dünn besiedelten dänischen Insel lebt, dem sogenannten Kopf. Die Familie besteht aus dem Schreiner Jens Haader, seiner Frau Maria und der Tochter Liv. Ursprünglich hatte Liv einen Zwillingsbruder namens Carl, der zu ihrem unsichtbaren Freund wird. Er hilft ihr, ein Leben zu ertragen, das alles andere als normal ist. Jens Haader hat anfangs Möbel und Särge auf Bestellung gezimmert, seinen Beruf aber später aufgegeben. Irgendwann sammelt er nur noch die Dinge ein, die andere wegwerfen und geht nachts auf Beutetour. Anfangs nimmt er seine Tochter mit, später zieht sie allein los, um Gegenstände und Lebensmittel zu stehlen, denn Jens ist nicht mehr in der Lage, seine Familie und die Tiere auf dem Hof zu versorgen. Liv wurde den Behörden als ertrunken gemeldet, damit sie nicht zur Schule muss und lebt seitdem in einem alten Container inmitten von allerlei Gerümpel. Livs Mutter wird immer dicker und liegt schließlich nur noch im Bett. Niemand hat Zugang zu Haus und Hof, denn Jens hat seinen Besitz mit allerlei tödlichen Fallen gesichert. Alles scheint unausweichlich auf eine Katastrophe zuzusteuern.
Erzählt wird diese düstere, beim Leser Beklemmung verursachende Geschichte überwiegend aus Livs Perspektive, aber es gibt auch von einem auktorialen Erzähler berichtete Teile, und immer wieder kommt Maria, Livs Mutter und Ehefrau von Jens Haader, zu Wort. Sie wendet sich in kursiv gedruckten Briefen direkt an ihre Tochter, will ihr alles erklären, vor allem, dass sie Jens liebt, obwohl sie vermutet, dass sie irgendwann von seiner Hand sterben wird. Wie soll Liv diese prekäre Situation, ein Leben umgeben von Müll, Gestank und Ratten überleben? Wie könnte sie nach vielen skurrilen Erlebnissen noch ein normales Leben führen? Als kleines Mädchen ist sie dabei, als ihr Vater die Großmutter ermordet. Bizarr ist auch das Probeliegen in gezimmerten Särgen, bevor sie den Kunden überlassen werden oder das Konservieren von toten Körpern mit Hilfe von Harz, das schon die alten Ägypter für diesen Zweck nutzten.
Der Roman ist kein typischer Thriller, sondern das Soziogramm einer Familie in der Hand eines psychisch Kranken. Ein außergewöhnliches Buch, aber keine leichte Kost.

Bewertung vom 21.09.2019
Die Altruisten
Ridker, Andrew

Die Altruisten


gut

Wie lebt man richtig?
In Andrew Ridkers Debütroman “Die Altruisten“ geht es um eine Mittelschichtfamilie im Mittleren Westen. Arthur Alter, 65, ist seit knapp zwei Jahren Witwer. Seine Frau Francine, eine Paartherapeutin, starb an Krebs. Arthur ist in seinem Beruf als Ingenieur und Universitätslehrer gescheitert. Sein Wunsch nach einer Festanstellung an der Universität hat sich nie erfüllt, und inzwischen hat er so wenige Kurse, dass es nicht zum Überleben reicht, erst recht nicht, um nach dem Wegfall von Francines Einkommen die Hypothek für das Haus zu bezahlen. Als letzten Ausweg aus der Krise bleibt ihm nur noch, sich an seine in New York lebenden Kinder Ethan und Maggie zu wenden, denen die Mutter ihr Vermögen vererbt hat. Er lädt sie nach St. Louis in sein Haus ein. Arthur und seine Kinder sind einander entfremdet und haben seit dem Tod der Mutter keinen Kontakt mehr. Maggie nimmt dem Vater übel, dass er die Mutter bis zu ihrem Tod betrogen hat, und Ethan hatte wegen seiner Homosexualität schon immer einen schweren Stand. Tatsächlich geht es aber auch den Kindern nicht gut, weder finanziell noch in ihren Beziehungen. Maggie hat zwar ihr Erbe nicht angerührt, schlägt sich stattdessen mit mehreren schlecht bezahlten Nebenjobs durch und hat dennoch Schuldgefühle wegen ihrer privilegierten Situation.
Ridker erzählt mit wechselnder Erzählperspektive die Vorgeschichte der Überlebenden, aber auch Kindheit und Jugend der Verstorbenen sowie die ersten Jahre mit Arthur. Dabei holt er sehr weit aus, und das ist nicht immer spannend zu lesen. Es gibt einen satirischen Blick auf das Amerika von 2015 vor Trump sowie komische und teilweise sehr poetisch formulierte Szenen. Komisch und traurig zugleich sind zum Beispiel die Passagen, in denen Maggie einen von ihr betreuten Jungen Kampfsporttechniken an sich ausprobieren lässt, wodurch sie sichtlich gezeichnet von diesen Arbeitseinsätzen zurückkehrt. Die überlebenden Mitglieder der Familie Alter sind mit ihren Plänen und guten Vorsätzen grandios gescheitert, vor allem Arthur, der bei seinem von einer dubiosen Organisation finanzierten Projekt in Simbabwe schwere Schuld auf sich geladen hat. Ridker liefert das Porträt einer schlecht funktionierenden Gesellschaft und einer dysfunktionalen Familie, von denen es in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur eine ganze Reihe gibt. Er bietet keine Lösungsvorschläge an, lässt aber Vater und Kinder am Ende aufeinander zugehen, wodurch die Geschichte etwas weniger trostlos ist. Der Roman ist nicht schlecht, für mich aber kein Sensationsdebüt eines Ausnahmeautors.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.07.2019
Bell und Harry
Gardam, Jane

Bell und Harry


sehr gut

Ferien in Yorkshire
Im Mittelpunkt von Jane Gardams Roman “Bell und Harry“ steht die Freundschaft zwischen zwei Jungen. Bell Teesdale und Harry Bateman werden als Kinder Freunde, seit die Batemans aus London Jahr für Jahr im ländlichen Yorkshire ein Bauernhaus mieten. Anfangs sind die Gegensätze zwischen den Städtern und den Bauern und Schafzüchtern aus der Region groß, aber allmählich werden nicht nur die Kinder Freunde. Die Jungen erleben zum Teil gefährliche Abenteuer, z. B. in einer still gelegten Silbermine oder im eisigen Schneesturm bei einem Fahrradausflug. Wer die Faszination dieser Landschaft mit ihren Sagen und Bräuchen und der langen Geschichte von Invasoren erfahren hat, kommt immer wieder zurück oder bleibt wie Poppet, Tochter einer namenlosen prominenten Londonerin, die hier als 11jährige einige Tage verbringt, danach immer wieder zurückkehrt und schon beim ersten Treffen beschließt, sechs Jahre später Harry Teesdale zu heiraten und für immer zu bleiben.
Die Autorin reiht neun Geschichten um die beiden Familien und andere Dorfbewohner aneinander. Sie decken einen Zeitraum von fast 30 Jahren ab und zeigen Bell und Harry auch im Erwachsenenalter. Gardams im Original unter dem Titel “The Hollow Land“ bereits 1981 veröffentlichtes Buch wurde mit dem Whitbread Book Award in der Kategorie Kinderbuch ausgezeichnet, wendet sich aber inzwischen an Leser jeden Alters. Das Buch ist humorvoll und mit großer Wärme geschrieben und zeigt, wie tief die Menschen in ihrer Heimat verwurzelt sind und das schon seit Generationen. “Bell und Harry“ macht alle Fans von Gardams berühmter Trilogie um den Richter Edward Feathers mit dem lohnenden Frühwerk der Autorin bekannt. Ein schönes kleines Buch.