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Juma

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 27.01.2023
Alma
Fohl, Dagmar

Alma


sehr gut

Vernichtetes Lebensglück, trotzdem ein Happy End
Dagmar Fohls Buch Alma hatte ich mir als Geschenk gewünscht, nachdem ich schon ihre Bücher „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“ und „Frieda“ gelesen hatte. Die Thematik des Nationalsozialismus, des Holocaust und auch der Euthanasie ist mir seit meiner Kindheit vertraut, immer wieder stoße ich seitdem auf neue Bücher, Filme oder Hörspiele. Aber die Verarbeitung der Thematik in fiktionale Geschichten sehe ich als eine besondere Herausforderung an, einerseits verlangt sie nach Geschichtswissen und klaren Fakten, andererseits muss ein Roman menschliches Leid und die Vielfalt der tatsächlichen Einflüsse auf menschliches Verhalten widerspiegeln. Das ist gar nicht so einfach, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Umso mehr gefallen mir die Bücher von Dagmar Fohl, denn sie hat eine große, empathische Fantasie, die ihr beim Schreiben hilft.
Nun zum Buch: Hamburg, 1938, Antisemitismus, Verfolgung, Entrechtung der Juden. Alma ist die zu früh auf die Welt gekommene Tochter des jüdischen Musikalienhändlers und Cellisten Aaron Stern und seiner jungen Frau Leah. Beide haben endlich die Papiere für die Schiffspassage nach Cuba in der Hand, als die Frühgeburt einsetzt. Ein befreundeter Arzt rettet das Kind und versichert den jungen Eltern, dass er sie bei sich behält, bis „alles vorbei sei“. Aaron und Leah begeben sich schweren Herzens auf die St. Louis, die tragische Geschichte dieser Schiffsreise ist bekannt, am Ende der Reise landen beide wieder in Europa. Sie werden von den Niederlanden aufgenommen, aber sofort im Lager Westerbork interniert. Westerbork ist nach der Besetzung durch Deutschland übergangslos zum Sammellager der Juden in den Niederlanden und zum Ausgangspunkt der Deportation von Hunderttausenden geworden. Aarons Cellospiel in Lagerorchester rettet weder ihn noch Leah, beide werden im Viehwaggon nach Auschwitz verfrachtet. Aaron schafft es wieder, im Orchester einen Platz zu erhalten, Leah aber ist den Strapazen nicht gewachsen. Das Einzige, was Aaron nun am Leben hält, ist der Wille, seine Tochter Alma nach der Befreiung wiederzufinden. Bis auf den Tod bleibt ihm aber nichts erspart, er gelangt nach Bergen-Belsen, überlebt knapp und begibt sich endlich in seiner Heimatstadt auf die Suche. Vergeblich. Mit seinem Freund Ludwig plant er die illegale Einreise nach Palästina, unglücklicherweise mit dem Schiff Exodus. Auch diese traurige Geschichte, die der Welt noch heute die Schamröte ins Gesicht treiben müsste, überlebt er und landet irgendwann wieder in Hamburg.
Sein ganzes Leben in Freiheit wird Aaron unter Panikattacken, Angstzuständen und Depressionen leiden. Dagmar Fohl beschreibt nicht nur seine seelischen Schmerzen, sie beschreibt auch, wie er damit umgeht. Gut nachvollziehbar, dass er teilweise versucht, den Mantel des Vergessens über seine Vergangenheit zu legen, andererseits das Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen niemals aufgeben kann.
Im letzten Drittel des Romans ist mir der Schreibstil manchmal ein wenig zu schwülstig, aber offenbar verlangt die Geschichte nach all den Schrecken der Vergangenheit auch nach ein wenig Romantik und Schönheit. Ein Happy End liefert das Buch dann auch.
Der Roman ist geschrieben als eine Art Lebensbericht des mittlerweile fast einhundertjährigen Aaron, das gibt dem Buch einen durchgehenden Halt und roten Faden.
Ich kann dieses Buch sehr empfehlen und bin gespannt, welches Thema die Autorin als nächstes aufgreift.

Bewertung vom 23.01.2023
Totes Moor / Janosch Janssen ermittelt Bd.1
Engels, Lars

Totes Moor / Janosch Janssen ermittelt Bd.1


sehr gut

Lars Engels präsentiert uns seinen ersten Krimi und der ist auch gut gelungen. Janosch Janssen, junger und etwas zu kurz geratener Kriminalkommissar, wird zu einem Leichenfundort gerufen. Nicht, weil er erste Wahl ist, sondern weil er ganz in der Nähe wohnt. Für Janssen in mehrerlei Hinsicht problematisch. Er muss seine kranke Mutter, in deren Haus er seit einer Weile wieder lebt, alleine zu Hause lassen und er fährt mit einem äußerst unguten Gefühl ins Rote Moor zum Leichenfund. Rund neun Jahre zuvor war seine heimliche Jugendliebe Matilda nach einem mysteriösen Autounfall, den sie noch selbst der Polizeileitstelle meldete, für immer verschwunden. Janssens Vater ist derjenige, der für den vermutlichen Tod Matildas verantwortlich zu sein schien. Er ertrug den Druck nicht und nahm sich das Leben. Nun ist Janssen derjenige, der ihn rehabilitieren möchte. Denn die gefundene Moorleiche wird als Matilda Nolte identifiziert. Aber Janssen ist nicht allein mit seiner Absicht, den Tod nun aufzuklären, auch Diana Quester, Kriminaloberrätin, und schon vor neun Jahren mit diesem vertrackten Fall beschäftigt, geht nun wieder in die Spur. Aus meiner Sicht nicht gerade die freundlichste Person im Spiel. Ihr Adlatus setzt noch einen drauf.
Janssen versucht alles, um Licht ins dunkle Moor zu bringen, ob die Lösung des Falles aber so einfach wird, verrate ich lieber nicht. Spannung bleibt bis zum Schluss, die will ich nicht kaputtschreiben.
Was mich ein wenig störte, sind die "Moorerklärungen", das war mir ein bisschen viel Biologie. Die Zeitwechsel im Buch aber sind gut gelungen, man liest sich mit der Zeit ein und versteht die Zusammenhänge. Mich störte rein optisch der kursive Satz der Rückblenden, in der kleinen Schriftart ist das Kursive schlecht lesbar. (Bin nicht mehr die Jüngste und Brillenträger.) Der Schreibstil insgesamt ist flüssig und gut lesbar, für einen Erstling sage ich "Hut ab!".
Übrigens: das Cover wird auf dem Büchertisch im Laden bestimmt ein Hingucker, gefällt mir sehr.

Bewertung vom 19.01.2023
NIGHT - Nacht der Angst
Sager, Riley

NIGHT - Nacht der Angst


sehr gut

Ungewöhnlicher "Kriminalfilm"
Aufgebaut sind die Kapitel dieses Krimis wie ein Drehbuch, z. B. "INNEN – PONTIAC GRAND AM – NACHT" - diese stakkatoartigen Überschriften sind wie kleine Hammerschläge. Was passiert? Was denkt die Studentin Charlie in den nächsten paar Minuten? Ist es klug, eine Mitfahrgelegenheit zu nutzen, wenn man weiß, dass ein Serienkiller noch nicht hinter Schloss und Riegel ist? Der gesunde Menschenverstand sagt eher nein, aber dann wäre das Buch bald zu Ende. So begibt sich Charlie in eine Situation, der sie stellenweise nicht gewachsen ist. Dann driftet sie kurz in die von ihr so sehr geliebte Filmwelt ab und weiß manchmal nicht so genau, hat sie geträumt oder phantasiert? Josh, der der Fahrer dieser Nacht ist, verhält sich auch höchst merkwürdig, Charlie glaubt sich in den Fängen des ominösen Serienkillers und setzt alles daran, dass ihr (Ex-)Freund sie aus der Misere befreit. Ob er das schafft, verrate ich hier natürlich nicht.
Nur soviel, bis zur Mitte des Buches muss man unbedingt durchhalten, man braucht da schon einen etwas längeren Atem, manchmal wollte ich das Buch schon zur Seite legen. Erst als es über den Peak ist, wurde es spannend. Manchmal dachte ich tatsächlich, Charlie wacht auf und hatte nur einen etwas zu wilden Traum. Aber die Sache wird dann doch noch sehr spannend.
Das Ende gefiel mir am besten, aber wehe, jemand liest es zuerst, das verdirbt den Spaß am spannenden Buch!

Bewertung vom 05.01.2023
Das Sams und die große Weihnachtssuche / Das Sams Bd.11
Maar, Paul

Das Sams und die große Weihnachtssuche / Das Sams Bd.11


sehr gut

Wundersame Geschichten, die das Sams-Leben so schreibt
Paul Maar ist mit seinen Sams-Büchern einer Vielzahl von Lesern bekannt, und das schon seit fast genau 50 Jahren. Mit „Das Sams: Ein Leben voller Samstage“ hat 1973 alles begonnen. Unterdessen sind also nicht nur Generationen mit dem Sams aufgewachsen, sondern, wie ich, auch mit ihm alt geworden. Nun habe ich das erste Mal seit vielen Jahren ein Kinderbuch gelesen und mich damit sehr amüsiert und gut unterhalten.
Dass man vielleicht einige „Vorkenntnisse“ haben sollte, sei auch erwähnt, aber der Autor stellt dem Buch einige Seiten an den Anfang, die zumindest die Grundlagen der Sams-Welt erklären. Und dann ist man auch schon ganz schnell drin im aktuellen Sams-Leben, bei Sams‘ Papa Taschenbier und der Nachbarin Frau Rotkohl. Weihnachtsfeier und Drumherum lesen sich lustig und die immer wieder eingefügten Reime sind meist auch niedlich. Manchmal scheint durch all den Spaß ein bisschen der erhobene Zeigefinger durch, wenn die Leser bzw. Vorleser auf das eine oder andere Fehlverhalten mit der Nase gestoßen werden: z. B. Weihnachtspapier zusammenfalten und wiederverwenden, das interessiert wohl eher die Alten als die Kleinen.
Das Reimen und das Worte Verwechseln und Verdrehen macht gewiss den älteren Lesern Spaß, für die jüngeren sehe ich das eher problematisch. Kinder mit sieben oder acht Jahren kennen die richtige Schreibweise noch nicht, manchmal wahrscheinlich nicht einmal die verwendeten Begriffe (z. B. adoptieren/apportieren). Da sollte der Vorleser auch ein Erklärer sein, um den Kindern die Bedeutung dieser Wortspiele vielleicht auch spielerisch zu erklären. Das reine Selbstlesen dürfte für Kinder dieser Altersklasse schwer sein.
Ich habe mich aber zum Beispiel sehr über das Rodeln mit dem „Dzongo“ (ein Backblech dieses Namens ist eine super Idee) gefreut. Dass Paul Maar sich dann ein Alterego bastelt, in dessen Haustür das Sams und Papa Taschenbier rumsen, fand ich köstlich. Ebenso wie das „Selbstporträt“ auf Seite 79, das macht diesen Abschnitt für mich zum genialsten im ganzen Buch. Nur, wie Paul Maar gerade auf den Familiennamen „Weinstein“ kam, habe ich mich dann doch gefragt, er ist für Leser Ü 18 doch etwas negativ besetzt. Paul Maar hat so eine schöne, blühende Fantasie, er hätte ja auch Sektkühler oder Weinberg oder Schiller nehmen können.
Als das Mini-Sams dann zu Gast bei Familie Schemmel ist, musste ich immerzu an Horst Schlemmer denken, genauso stellte ich mir den Vater vor. Das Buch befeuert geradezu die Fantasie!
Mir hat dieses Buch wirklich gut gefallen, das Mini-Sams mit seinen frechen Sprüchen und den Wunschpunkten, die hinten und vorne nicht gereicht haben, habe ich wirklich ins Herz geschlossen.
Das Cover ist übrigens der absolute Hingucker auf dem Büchertisch, wer greift da nicht gern gleich zu. Sollte es wieder einmal eine Sams-Geschichte geben, werde ich ganz gewiss auch wieder deren Leser sein.

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Bewertung vom 19.12.2022
Codename: Sempo
Neuenkirchen, Andreas

Codename: Sempo


sehr gut

Der Titel Codename Sempo hat in mir zuerst den Gedanken ausgelöst, es handele sich um einen Spionageroman. Erst der Untertitel wies den richtigen Weg. Danach habe ich eine Biographie erwartet, keinen Roman – bei Biographien ist es in der Regel ja so, dass Zeitgeschichte, Ortkenntnis, beteiligte Personen, Episoden, die nichts mit der Hauptperson zu tun haben, viele Spekulationen und viel Phantasie den Mantel um das "Skelett" der Hauptperson legen. Dieser Mantel wird dann vom Autor mehr oder weniger gekonnt und heftig ausgepolstert. So auch hier in den ersten Kapiteln. Der Autor ist mangels vieler historischer Dokumente zu Chiune Sugihara auf Sekundärliteratur und auch auf das Internet u. a. Quellen bzw. Zeitzeugen angewiesen.
Andreas Neuenkirchen führt den Leser also nach Japan, wo Chiune Sugihara aufwächst, später nach Harbin, in das sagenhafte Paris des Ostens. Diese Stadt ist wie ein Moloch, die japanische Herrschaft wird zur Tortur, die angelandeten Flüchtlinge sind sich ihres Lebens nicht sicher, besonders die Juden (insb. aus der damaligen Sowjetunion) geraten in Gefahr. Mich verblüfft diese angehäufte Vielfalt von Militär, Diplomatie, Spionage und Luxusleben auf der einen Seite, auf der anderen wird die dramatische Armut und Verelendung der chinesischen Bevölkerung natürlich nicht so ausführlich behandelt.
Chiune Sugihara selbst bin ich in diesem Teil noch nicht so recht nahegekommen, das liegt sicher auch daran, dass viele seiner Gedanken und auch Tätigkeiten eher nur gemutmaßt werden können. Für mich ist er nach dem Studium der perfekte Spion in öffentlichen Diensten. Egal wie seine Funktion genannt wird, es steht wahrscheinlich niemals in seinen Papieren, was er wirklich tut/tun soll. Harbin ist da genau der Schmelztiegel, den es braucht für die "Aufzucht" von Spionen.
Der Schreibstil mit seiner manchmal etwas flapsigen, umgangssprachlichen Attitüde ist vielleicht nicht für jeden angenehm, für mich hat er den (kultur)-geschichtsträchtigen, langwierigen Lesefluss etwas aufmischt. Ich gebe ehrlich zu, es sind so einige Passagen, gerade mit den vielen ungewohnten japanischen Namen, die auch etwas müde machen.
Die Kapitel über Sugiharas Arbeit als Diplomat (und gleichzeitig Spion) sind sehr interessant, seine zweite Ehefrau begleitet ihn ohne zu klagen, die Kinder werden in dieses unstete Leben einbezogen. Eigentlich hätte ich mir gerade in diesem Teil des Buches etwas mehr Ausführlichkeit, vielleicht auch künstlerische Freiheit gewünscht. Wirklich dramatisch gestaltet sich der Aufenthalt in Kaunas. Sugihara lernt hier jüdische Familien kennen und schätzen, hilft das eine oder andere Mal mit einem Transitvisum aus und befindet sich plötzlich in der Situation, Hunderten, ja Tausenden Juden das bedrohte Leben retten zu können. Kurz bevor die deutsche Wehrmacht in Litauen einmarschiert, kann er durch sein beherztes Eingreifen tatsächlich vielen zur Flucht auf dem Landweg durch die Sowjetunion nach Japan verhelfen. Seine Frau und Botschaftsmitarbeiter helfen dabei. Doch die japanische Regierung unterstützt das Vorhaben nur halbherzig, so dass er nicht allen helfen kann, er muss das Land verlassen, das Konsulat wird geschlossen.
Für Sugihara und seine Familie beginnt dann eine mehrere Jahre währende Odyssee, ehe er und die Seinen fast mittellos und erschöpft 1947 Japan wieder erreichen. Der Autor hat für diesen bewegenden Lebensabschnitt einen anderen, „seriöseren“ Schreibstil gewählt. Ironische Bemerkungen finden sich kaum mehr. Trotzdem fehlt mir ein wenig Empathie im Gelesenen, ich meine, eine gewisse Distanziertheit zu erkennen. Fast, als würde der Autor die den Japanern als charakteristisch nachgesagte Kühle und Beherrschtheit für sich übernehmen.
Eines der wichtigsten Erkenntnisse aus den letzten Kapiteln ist für mich die Tatsache, dass die von Chiune Sugihara geretteten Juden (rund 10.000 plus/minus) 250.000 Nachkommen haben.
Der literarische und monetäre Wettstreit um seine Biographie nach Sugiharas Tod wird ausführlich beschrieben, ist aber für mich nicht unbedingt erhellend. Eine Ehefrau, ein Sohn und (ein) Historiker im Wettstreit um die Deutungshoheit, das ist ein übliches Geplänkel, wenn es um so brisante Themen geht.
Für mich ist viel entscheidender, dass Sempo/Chiune Sugihara in Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt wird. Auf der Internetseite zu diesem Eintrag befinden sich diverse Fotos und auch Kopien des Visums für Zorach Wahrhaftig, das er ausgestellt hat. Natürlich kann jeder heutzutage im Internet recherchieren, aber warum hat der Autor sein Buch nicht mit einem kleinen Bildteil versehen? Das Buch wäre dadurch bestimmt etwas persönlicher und emotionaler geworden.
Fazit: viele interessante und detaillierte Informationen über ein für mich unbekanntes Land und seine Kultur und Geschichte, die verwoben sind mit der Biographie eines stillen Helden. Chiune Siguhara bekommt ein würdiges literarisches Denkmal auf deutsch.

Bewertung vom 09.12.2022
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Elisabeth Günther hat sich mit dieser tragisch-komischen Geschichte in mein Herz gelesen. Sie spricht Gretel und die anderen Figuren mit soviel Gefühl und Stimmmodulation, dass man glaubt, einem stundenlangen Hörspiel zu lauschen. Chapeau, Frau Günther, und Glückwunsch an den Hörbuch-Verlag für diese Sprecherwahl plus perfekte Dramaturgie.

Zur Geschichte: John Boyne liefert einen gelungenen Nachfolgeroman zu „Der Junge im gestreiften Pyjama“, der tief ins Herz sticht. Gretel, Tochter eines (fiktiven) KZ-Kommandanten, die in Auschwitz aufwächst, dort ihren Bruder verliert und das erste Mal verliebt ist in einen jungen, schicken SS-Mann, ist die absolut anziehende Hauptperson in dem sich entwickelnden Drama. Gretel erzählt wie nebenbei ihre Lebensgeschichte, die sich zum Ende als Lebensdrama erweist. Sie ist unterdessen 90 Jahre, lebt in London und ist verwitwet. Ihr Sohn, um die 60, heiratet zum vierten Mal, Nachbarin Heidi hat eine Demenz, aber von Zeit zu Zeit lichte Momente, die neu eingezogene Familie mit dem kleinen Sohn Henry bringt zuerst Abwechslung, dann Tragik ins alltägliche Einerlei. Boyne schildert alles, das Heutige wie das Vergangene mit unglaublicher Leichtigkeit und trotzdem einer psychologischen Tiefe, die niemanden kalt lassen kann.
Einzig die Begegnung Gretels mit dem ehemaligen SS-Mann Kurt in Australien einige Jahre nach dem Krieg birgt eine gewisse Trivialität. Dorthin hatte sich Gretel nach dem Tod der Mutter in Paris, wohin beide am Kriegsende geflüchtet waren, aufgemacht, um das alte Leben und die von ihr als bedrückend empfundene Schuld endgültig hinter sich zu lassen. Das funktioniert nicht und ihr Weg führt sie weiter nach England. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann Edward kennen und lebt viele Jahre ein halbwegs normales Leben. Dass dieses Leben im hohen Alter noch einmal völlig auf den Kopf gestellt wird, wird höchst unterhaltsam und doch tiefgründig erzählt.
Die Last der Schuld, die einem Mädchen aufgebürdet wird, das neben einem Vernichtungslager, mit einem Vater, der das Morden verantwortet, mit einer Mutter, die es toleriert, mit einem Bruder, der in diesem Vernichtungslager auch durch ihr Zutun „versehentlich“ stirbt, diese Last wird geradezu körperlich spürbar. Ob diese Schuldgefühle berechtigt sind, kann auch Boyne nicht abschließend beantworten. Ja, Gretel hat auch für den Führer geschwärmt und an das tausendjährige Reich geglaubt, aber irgendwann ist auch bei ihr der Gedanke gereift, dass es Unrecht war, was sie als Kind erlebt hat.
Gretel, die ein ganzes Leben lang damit leben muss, sich immer damit quält und die Wahrheit verstecken möchte bis zum Ende ihrer Tage, diese 90jährige Gretel aber erlöst sich auf gänzlich unerwartete Art am Ende des Romans selbst. Großartig. 5 Sterne.

Bewertung vom 09.11.2022
Kant und der Schachspieler / Kommissar Kant Bd.2
Häußler, Marcel

Kant und der Schachspieler / Kommissar Kant Bd.2


ausgezeichnet

Spannend bis zum Schluss

Wer den Münchner Ermittler Kant noch nicht kennt, sollte das bald möglichst nachholen. Es lohnt sich, Häußlers Krimis zu lesen. Ein feiner, unprätentiöser Stil, die Protagonisten kommen als echte Menschen daher, der Kriminalfall ist geheimnisvoll, aber ohne Mystik oder völlig abgedrehte Ideen. Ein handfester, bodenständiger Krimi!
Joachim Kant ist leitender Kriminalhauptkommissar mit einem festen Team, das in diesem zweiten Teil noch Zuwachs bekommt. Seine Kollegen sind Anton Rademacher, Petra Lammers und Ben Dörfner, die „Neue“ ist Hanna Weiß. Alle werden im Allgemeinen nur beim Familiennamen genannt, was mich überhaupt nicht störte, nur bei Hanna ist das anders, das Küken heißt eben Hanna. Jeder der Kriminalisten hat sein privates Päckchen zu tragen. Kant ist mitten in der Scheidung, seine pubertäre Tochter Frida ist bei ihm eingezogen und fühlt sich zeitweise mehr zu FFF als zu ihm hingezogen. Trotzdem nehmen bei beiden Liebe und Verantwortungsgefühl einen ersten Platz ein. Rademacher ist in einer tiefen Krise, er verheimlicht seine Krebserkrankung und die geplante OP vor seinen Kollegen, bis es nicht mehr anders geht (insbesondere Kant ist davon schwer getroffen). Dörfner hat immer seinen Vater im Kopf, wenn es um Verwahrlosung und Obdachlose geht. Lammers versucht, über allem zu stehen, was ihr meistens ganz gut gelingt. Und das Küken Hanna hat neben einer sehr hohen Intelligenz jede Menge psychische Probleme, die sich als Zwangsneurosen und Minderwertigkeitskomplexe darstellen, trotzdem ist sie taff und eine echte Bereicherung. Ein ganz normales, sympathisches Team also mit jeder Menge Macken und trotzdem viel Zuneigung untereinander.
Der Fall: man findet in einem Leinöltank auf einem Abrissgelände eine Leiche, bekleidet mit einer noch erkennbar teuren Lederjacke und einer Schachspieldame in der Hand. Hanna findet tatsächlich eine passende vermisste Person, Jakob Holler, und die Suche nach dem Täter beginnt. Dass die Aufklärung des Falles nicht ganz so einfach ist, man sich noch mit anderen Verschwundenen und Toten und mit jeder Menge Verdächtiger zu beschäftigen hat, liegt auf der Hand. Sonst wäre es ja kein Krimi geworden, sondern eine Kurzgeschichte. Mir hat die Art der Ermittlungen gut gefallen, Zeugenbefragungen und (Outdoor)-Schachspieler inklusive, ein paar Bösewichte gibt es natürlich auch, Immobilienspekulanten und Rechtsanwälte müssen ebenso herhalten wie ein Ex-Boxer und ein Dame, die harmloser tut, als sie ist. Das Obdachlosenmilieu spielt auch eine Rolle, wird aber nicht für hypermoralische Erklärungen, sondern für die Aufklärung des Falles benötigt. Es gibt jedenfalls ein fulminantes, nicht vorhersehbares Ende. Mehr sei nicht verraten.
Fazit: Die Geschichte ist spannend, hat ein paar kleine Längen in der ersten Hälfte, läuft aber dann zur Hochform auf.
Und ich empfehle dieses Buch aus ganzem Herzen!

Bewertung vom 08.11.2022
Agent Sonja
Macintyre, Ben

Agent Sonja


sehr gut

Der Autor Ben Macintyre hat sich vor einigen Jahren daran gemacht, das außergewöhnlich Leben von der Frau mit den vielen Namen unter dem Titel „Agent Sonya“ ausführlich zu beleuchten. Mich haben zuerst die von ihm aufgezählten Quellen interessiert, diese gehen weit über Sonjas Rapport hinaus, Tausende Seiten Staatssicherheitsakten, Bundesarchivdokumente, MI5-Akten, viele Briefe, Bücher und Dokumentationen hat der Autor für sein Werk gesichtet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie anstrengend gerade das Aktenstudium sein kann, Geheimdienstakten neigen zu einer endlosen Ausführlichkeit, die wirklich relevanten Extrakte muss der Leser mühsam herausfiltern. Über die vermutlich jetzt noch beim FSB in Moskau oder in russischen Militärarchiven lagernden Akten wird nicht berichtet.
Entstanden ist ein beeindruckendes Buch, dass sich teilweise wie ein spannender Agententhriller liest. Würde man manche Details in einem Roman finden, würde man dem Schriftsteller sicher eine besondere Phantasie bescheinigen – in Agent Sonja beruhen diese unfassbaren Details auf tatsächlichen Ereignissen und Erlebnissen. Ich glaube, es gäbe heute nur wenige Menschen, die bereit wären, so große Risiken auf sich zu nehmen für ein rein ideelles Ziel. Dass für „Sonja“ das Leben kein Zuckerschlecken wird, konnte man schon an den Schilderungen über die überaus eigenwillige Jugendliche im Berlin der Zwanziger Jahre erkennen. Wie sie später ihr Weg um die halbe Welt führt, wie sie zu einer Topagentin wird, wie sie das versucht mit ihrem Privatleben und mit ihren insgesamt drei Kindern von drei verschiedenen Männern unter einen Hut zu bringen, das wird aufs Anschaulichste beschrieben. Gerade was die Kinder betrifft, die ständiger Gefahr und einem unsteten Leben ausgesetzt waren, wird „Sonja“ immer ein schlechtes Gewissen behalten, bis ins Alter.
Ich werde an dieser Stelle weder die Kurzbeschreibung vom Klappentext noch die einzelnen Schritte ihrer Agententätigkeit wiederholen. Dazu gibt es bereits ausreichend Kommentare und Rezensionen.
Aber ich möchte auf die Übersetzung eingehen, die von zwei Übersetzern – Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger – übernommen worden ist. Ich habe einen Teil des Buches im englischen Original gelesen und kann hier nur feststellen, dass die Übertragung den Stil des Autors perfekt wiedergibt. Dass sich in die deutsche Fassung das Gendern bzw. die heute geforderte „political correctness“ an manchen Stellen eingeschlichen hat, störte mich ein wenig. Nur zwei Beispiele: Aus Flüchtlingen (den englischen refugees) werden Geflüchtete, Kandidaten sind plötzlich Kandidierende. Ganz anders wird mit dem Titel umgegangen, hier wird das englische „agent“ im Deutschen ein „Agent“. Warum wurde hier nicht die weibliche Form gewählt „Agentin Sonja“ liest sich doch auch gut. Oder soll hier die Ebenbürtigkeit zu den männlichen Agenten hervorgehoben werden?
Mir hat dieses Buch sehr gefallen, ich habe noch einmal das alte Buch von 1977 hervorgeholt und mir „Sonjas Rapport“ angesehen. Macintyers Buch ist nicht nur viel umfangreicher, es gibt auch Einblicke, die Ruth Werner 1977 nicht gewährte, nicht gewähren wollte und auch nicht durfte.
Dieses Zitat (S. 120) erscheint mir sehr bezeichnend für die gesamte Biographie: „Ursula wurde dem Proletariat und der Revolution zuliebe eine Spionin; doch sie tat es auch für sich selbst, getrieben von einer außerordentlichen Kombination aus Leidenschaft, Romantik und Abenteuerlust, die in ihr sprudelten.“
Diese Biographie ist es wert, gelesen zu werden, ich könnte mir auch gut vorstellen, dass hier ein Hörspiel, ein Podcast, vielleicht ein Film oder eine TV-Dokumentation das Thema noch einmal aufgreifen werden. Für mich ist das Buch Anlass, mich dem einen oder anderen der im Buch erwähnten Kampfgefährten zu beschäftigen, seien es Agnes Smedley oder Richard Sorge oder ihre Ehemänner, auch Ursulas Kinder und Geschwister haben ja interessante Biografien. Die Ausgewählte Bibliografie verzeichnet hinreichend Lesestoff.
Vielen Dank an Verlag und Autor.

Bewertung vom 29.10.2022
Herzschuss / Kreuthner und Wallner Bd.10
Föhr, Andreas

Herzschuss / Kreuthner und Wallner Bd.10


sehr gut

Ein guter und unterhaltsamer Krimi
Wallner und Kreuthner in ihrem 10. Fall, das verspricht jede Menge Mord und Verwirrung. Kreuther landet als Verdächtiger im Knast, Wallner und seine Kollegen, allen voran Janette, ermitteln aufs Feinste. Karla Tiedemann wird als neue Chefin eingeführt, natürlich auch mit Ecken und Kanten, aber auch mit privatem Ballast. Alte Liebe und neue Verbindungen, jede Menge bayerische Mundart, die nie übertrieben wirkt, Andreas Föhr kann das wirklich gut. Einen lustigen Solopart übernimmt Opa Manfred Wallner als abgehalfterter Freiherr, der Alte ist echt nicht totzukriegen. Wie Wallner und natürlich Kreuthner am Ende den Mord an Philipp Gansel aufklären, verrate ich natürlich nicht. Ein paar Überraschungsmomente gibt es im Verlauf auf jeden Fall, manchmal auch kleine Längen, die werden aber nie zu lang. Ich freue mich schon drauf, wie es weitergeht bei der Kripo Miesbach, da menschelt es so schön! Leseempfehlung!

Bewertung vom 28.10.2022
Totentanz - 1923 und seine Folgen (ungekürzt)
Hoffritz, Jutta

Totentanz - 1923 und seine Folgen (ungekürzt)


ausgezeichnet

Jutta Hoffritz ist ja nicht die erste Autorin, die sich ein bedeutsames Jahr deutscher Geschichte herauspickt und daraus ein Sachbuch macht, aber sie ist eine Autorin, der es gelingt, daraus ein echtes Geschichts- und Unterhaltungsbuch zu machen. Die Personen und die Ereignisse im Jahr 1923 sind so mannigfaltig, dass es eine Freude ist, Stefan Schad stundenlang zuzuhören. Seine Stimme mit dem leicht ironischen Unterton passt zur Thematik bestens. Einige näher betrachtete Lebensläufe waren mir natürlich schon bekannt, gerade zu Käthe Kollwitz und Kurt Tucholsky hörte ich nichts Neues. Aber es gab da auch Hugo Stinnes, über den ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht hatte, weil er nicht unbedingt in meine Interessengebiete Kunst und Kultur passte. Oder der Reichsbankchef Rudolf Havenstein, der zufällig aus Meseritz stammt wie meine Familie. Sehr unterhaltsam auch die Biographie der Anita Berger, Willi Münzenbergs Lebenslauf würde wahrscheinlich ein dickes Buch ganz alleine füllen. All diese Menschen, ihre Schicksale und die mit ihnen verknüpften Ereignisse ergeben eine gute Mischung! Mir hat das Hörbuch nicht nur Spaß gemacht, ich habe auch Dinge erfahren, die mir nicht so präsent waren. Es lohnt sich sehr, das Nachwort von Jutta Hoffritz zu hören/zu lesen, die Verknüpfung mit der heutigen politischen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland und in Europa, besonders nach Beginn des Ukrainekrieges, und die aufgezeigten Parallelen sind schlüssig und wohlformuliert.
Ein tolles Hörbuch bzw. Buch, das ich gern weiterempfehle.

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