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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 24.10.2021
Nichts als Gutes
Slupetzky, Stefan

Nichts als Gutes


sehr gut

REZENSION – Der Tod eines Menschen ist das natürliche Ende eines mehr oder minder aufregenden Lebens. Ebenso nüchtern und mit dem intellektuellen Abstand eines Schriftstellers vergleicht Stefan Slupetzky (59) in seiner im September beim Picus Verlag erschienenen Sammlung fiktiver Grabreden unser Leben mit einem Buch. Dessen vorderer Deckel entspricht einer sachlich gehaltenen Geburtsurkunde mit Namen des Neugeborenen (Buchtitel) und Angabe der Eltern (Verfasser, Verlag, ISBN). Nach Abschluss eines Lebens (Handlung) endet das Buch auf seinem hinteren Deckel mit einer kurzen, natürlich positiv klingende Zusammenfassung des Inhalts, gewissermaßen mit einem Nachruf oder einer Grabrede.
In seiner Sammlung teils längerer, oft nur kurzer, in jedem Fall aber fiktiver Grabreden, was man beim Lesen leicht übersehen könnte, lässt Slupetzky natürlich, wie sollte es auch anders sein, seine Trauerredner die Verstorbenen nur in bestem Licht erscheinen. Dennoch macht er uns dabei voller Raffinesse und Humor sowie gelegentlich mit einer kräftigen Prise Sozialkritik auf unsere unliebsamen Eigenarten, Eitelkeiten und Schwächen aufmerksam. Meistens sind es nicht die Verstorbenen, sondern vielmehr die Trauerredner selbst, die uns mit dem Gesagten mal nachdenklich, sehr oft aber auch amüsiert zurücklassen.
Denn selbst im Tod wie im Falle des beamteten Sachbearbeiters, der so gar keine erkennbaren Spuren auf seinem Lebensweg hinterlassen hat – keine Freunde, keine Hobbys, keine Eigenarten –, findet der Autor eine Spur Komik, wenn er den Grabredner folgern lässt: „Falls er in die Hölle kommen sollte, stehen seine Chancen gut, vom Teufel übersehen zu werden.“ Lebensnah wirkt die Grabrede der Ehefrau, die nach jahrzehntelanger und seine Marotten geduldig ertragener Ehe am Tag der Beisetzung ihres Mannes nicht nachsichtig, sondern zürnend zurückbleibt: „Heute wird keiner schnarchen neben mir, und heut nimmt keiner meine Hand. Nicht heute, wo ich's wirklich brauchen tät.“
Genüsslich liest man Slupetzkys Grabrede – natürlich ebenso fiktiv wie alle anderen! – auf den viel gerühmten und preisgekrönten Autor: Aus jedem Satz eines Schriftstellerkollegen quillt Neid auf den aus dessen Sicht unverdient erfolgreicheren Verstorbenen und tief empfundene Kränkung. Dem Grabredner gelingt es, „den gelobten Menschen …. liebevoll ins Licht [zu] rücken, dass ein paar Lichtstrahlen auch auf ihn, den Lobenden, zurückfallen“, wie Slupetzkys on seiner Vorbemerkung zum Text schreibt, und geschickt die Verdienste des Verstorbenen kritisch zu hinterfragen: „…., dass ich kein Byzantiner bin, der die Gesellschaft der Juroren sucht, um sich bei einem Gläschen Wein lieb Kind zu machen, und so blieb mir dieser – ohnehin weit überschätzte – Preis versagt.“
Mag der Tod eines Menschen für die Trauernden noch so tragisch sein, „Slupetzky findet das Komische im Tragischen“, wie der Verlag sein Buch rühmt – und dies trifft es genau. Manchmal scheint dem Autor beim Schreiben seiner nicht nur philosophisch intelligenten, sondern auch stilistisch beeindruckenden Grabreden förmlich der Schalk im Nacken gesessen zu haben – wie bei der Grabrede für den verstorbenen Padre Lorenzo, den der Prior des Schweigeklosters mit „...“ (übersetzt aus dem Italienischen) wahrlich „totschweigt“. Hier bleibt dem Leser sogar Gelegenheit zur eigenen Deutung des umfänglich Verschwiegenen. Denn ein Schweigen sagt doch mehr als tausend Worte.
„Ob wir ihm [dem Tod] glücklich folgen oder uns dagegen stemmen, macht nicht den geringsten Unterschied. Nur dass das eine viel mehr Spaß macht als das andere“, lässt uns Slupetzky an seinen Schlussgedanken zum Tod teilhaben. Nach der Lektüre seines Buches wünscht man sich ihn als Grabredner. Doch erst viel später. Denn noch sollten wir seiner Erkenntnis aus dem vorher Gesagten folgen: „Trinkt und singt und tanzt, … lebt und liebt.“

Bewertung vom 17.10.2021
Julius oder die Schönheit des Spiels
Saller, Tom

Julius oder die Schönheit des Spiels


sehr gut

REZENSION – Mit seiner Romanbiografie „Julius oder die Schönheit des Spiels“, im August beim List Verlag erschienen, hat Autor Tom Saller (54) ein Buch vorgelegt, das nicht nur für Freunde des Tennissport zur Pflichtlektüre werden könnte, sondern auch allen anderen Lesern gefallen dürfte. Eng angelehnt an die reale Biografie des vor allem zu seiner Zeit weltberühmten „Tennis-Barons“ Gottfried Freiherr von Cramm (1909-1976), schildert der Autor und Psychotherapeut, der durch seinen Debüt-Bestseller „Wenn Martha tanzt“ (2018) bekannt wurde, vor allem die psychologischen Aspekte im ruhmreichen Werdegang seines Protagonisten Julius Graf von Berg in den 1920er und 1930er Jahren und dessen seelischen Konflikt als deutscher Spitzensportler, der sich 1937 von den NS-Machthabern politisch missbraucht sieht.
Auf seiner Europa-Reise im Jahr 1984 erinnert sich ein alter Herr im Tenniscourt von Wimbledon an das Finale im Davis Cup des Jahres 1937 gegen den Deutschen Julius von Berg, das er zur eigenen Überraschung gewann. Tatsächlich unterlag damals Gottfried von Cramm auf der Höhe seines Ruhms überraschend dem Amerikaner Donald Budge. Im entscheidenden Spiel steht Sallers Protagonist Julius unter Beobachtung politischer Funktionäre des NS-Regimes. In deren Augen steht Julius für den NS-Staat am Netz. „ …. in erschreckender Klarheit wird mir bewusst: Ich bin auf dem besten Weg, Hitlers Befehl auszuführen“, erkennt Julius. Gewinnt er, gewinnt das NS-Regime; verliert er, verliert auch das Deutsche Reich. Selbstbestimmung oder Mitläufertum? Ruhm oder Schande? Der Spitzensportler steht vor einem scheinbar unlösbaren Gewissenskonflikt.
Zuvor hatte sich Julius nie um Politik gekümmert. Aufgewachsen als Spross einer alten Adelsfamilie, erzogen zu ehrenwerter Haltung und Anstand, muss er nach Jahren unbeschwerten, sorgenfreien Lebens in Berlin allerdings die Missachtung der Nazis aller ihm anerzogenen und in Fleisch und Blut eingegangenen Werte erkennen. Dies bestätigt dem „Ehrenmann und sportsman, .... dass Politik ein eher ungutes Geschäft für eher ungute Menschen ist.“ Doch Julius bleibt seiner Haltung treu: „Manche Dinge unterliegen nun einmal nicht der Mode oder einem Zeitenwandel. Würde, Anstand und Respekt kennen kein Verfallsdatum, und Verantwortung trägt man jederzeit – für sich und den anderen.“
Für den Ehrenmann gibt es auf dem Tennisplatz nur sportliche, nicht aber politische Gegner: „Sobald ich ihn betrat, frohlockte ich innerlich, war eins mit mir, mit dem Ball und meinem Gegner, den ich keine Sekunde lang als solchen empfand.“ In diesem Sinne hatte auch sein Freund Erich Maria Remarque, damals noch Redakteur der Zeitschrift „Sport im Bild“, den Tennissportler zu einem Symbol „für ein geeintes Europa“ gemacht und damit „zur Zielscheibe für die erstarkenden Nationalsozialisten.“
Tom Saller hält in seiner Romanbiografie an die historischen Fakten im Leben des Gottfried von Cramm. Wir erfahren von Freundschaften mit dem gerade durch seinen Roman „Im Westen nichts Neues“ als Schriftsteller berühmt werdenden Erich Maria Remarque (1898-1970), mit der Schauspielerin Marlene Dietrich (1901-1992), die nach ihrem Erfolg mit dem „Blauen Engel“ 1930 nach Hollywood geht, und mit Schwedens König Gustav V. (1858-1950), der sich tatsächlich 1938 persönlich bei den Nazis für die Freilassung von Cramms eingesetzt hat.
Die Romanbiografie „Julius oder die Schönheit des Spiels“ animiert zum unmittelbaren Vergleich und zur weiteren Beschäftigung mit der wahren Biografie des Gottfried von Cramm, weshalb das Buch allein schon deshalb empfehlenswert ist. Kein Geheimnis ist auch von Cramms tatsächliche Niederlage 1937 in Wimbledon. Doch warum diese so überraschend kam, interpretiert Autor und Psychotherapeut Saller auf seine Weise, was seinen Roman zu einer dramaturgisch sich gut entwickelnden und zunehmend spannender werdenden Lektüre macht.

Bewertung vom 02.10.2021
Der Hochsitz
Annas, Max

Der Hochsitz


sehr gut

REZENSION – Mit seinem neuen Roman „Der Hochsitz“, im Juli beim Rowohlt Verlag erschienen, wagt sich der für seine Kriminalromane bereits fünf Mal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnete Schriftsteller Max Annas (58) in die entlegensten Niederungen westdeutscher Provinz gegen Ende der Siebziger Jahre und widerlegt mit seiner facettenreichen Geschichte die gängige Meinung, auf dem Land sei die Welt noch in Ordnung. Doch dieser Schein trügt: In einem kleinen Eifel-Dorf an der Grenze zu Luxemburg werden Banken ausgeraubt, Drogen geschmuggelt, zwei RAF-Terroristinnen verbergen sich im Wald, ein Deutsch-Amerikaner bietet Bauern für ihre Höfe überhöhte Summen und dann gibt es sogar noch einen Mord. Der Dorfpolizist fühlt sich von Amts wegen nicht zuständig, den Kriminalbeamten aus der Stadt fehlt der nötige Durchblick.
Zum Glück sind gerade Osterferien. So haben die Schülerinnen Sanni und Ulrike viel Zeit, sich neben ihrer Jagd nach Fußballer-Klebebildern fürs selbstgebastelte Sammelalbum – die WM '78 in Argentinien steht bevor – auch noch den Mörder zu jagen. „Wir sind elf Jahre alt. Aber wir sind nicht blöd. Würden sie [die Erwachsenen] uns ernster nehmen, wenn wir Jungs wären? Vielleicht. Wahrscheinlich. Ganz sicher eigentlich.“ Sanni ist die Forschere von beiden und Erzählerin, braucht aber die Besonnene: „Ulrike ist schlau. Sonst wäre sie auch nicht meine beste Freundin.“
Von den Erwachsenen unverstanden, ziehen sie sich in ihre eigene Welt zurück: „Wenn man sich ernsthaft unterhalten will, muss man einen Ort haben, an dem das überhaupt möglich ist. [….] Zum Glück haben wir den Hochsitz. [….] Wir stehen lange auf der Plattform und gucken auf unser Dorf. Einfach so.“ Sanni und Ulrike beobachten im Dorf viel, auch wenn sie nicht alles verstehen. Aber dass der einzige Langhaarige nicht der Bankräuber sein kann, das wissen sie genau, denn ihn haben sie zum Tatzeitpunkt mit einer Blondine im Heuschober beobachtet. Doch den Mörder des Motorradfahrers vom Petershof wollen sie finden. So machen sie sich beim Austragen des Anzeigenblattes bei Abwesenheit der Hausbewohner auf detektivische Suche nach dem schwarzen Anzug, dem Umhang und Schlapphut und vor allem dem Drillingsgewehr des Täters.
Aus Andeutungen bastelt Max Annas ein schillerndes Kaleidoskop des Jahres 1978: Es ist die Zeit des RAF-Terrors, der im Krimi durch zwei junge Frauen in die Provinz vordringt. Wir erfahren von dunklen Machenschaften in der NS-Vergangenheit, die erst jetzt ihren Rächer finden. Schließlich erfahren wir, dass mit dem Drogenschmuggel die organisierte Kriminalität auch in diesem beschaulichen Winkel Westdeutschlands bereits Fuß gefasst hat. Doch all dies verstehen Sanni und Ulrike nicht und sie interessieren sich nicht dafür. Sie schneiden lieber ein paar Fotos aus einem Fahndungsplakat aus und kleben das Porträt des gesuchten Christian Klar neben Rainer Bonhof ins Sammelalbum, weil ihnen noch Bilder deutscher Fußballer fehlen.
„Der Hochsitz“ ist ein ungewöhnlicher, in seinem Aufbau gewöhnungsbedürftiger, aber gerade deshalb interessant gemachter Krimi: Mehrere Handlungsstränge laufen nebeneinander, kreuzen sich gelegentlich. Es scheint anfangs an durchgängiger Handlung zu fehlen. Momentaufnahmen wirken zusammenhanglos. Beobachtungen der beiden Mädchen, von ihnen selbst oft nicht verstanden, kommen hinzu. Was nur scheinbar wie ein „Hanni&Nanni“-Roman für Erwachsene beginnt, entlarvt kaleidoskopartig die bundesdeutsche Provinz und ihre Bewohner als nicht so harmlos, wie man glauben mag.

Bewertung vom 24.09.2021
Dürre
Laub, Uwe

Dürre


sehr gut

REZENSION – Nicht zuletzt durch seinen vorigen Roman „Leben“ (2020) hat sich der deutsche Schriftsteller Uwe Laub (50) als Autor spannender Umwelt- und Wissenschaftsthriller hervorgetan, was er mit seinem neuen, im September im Heyne Verlag veröffentlichten Thriller „Dürre“ erneut bestätigt. Sein neuer Roman spielt in nicht allzu ferner Zukunft in Deutschland. Bei immer stärker fortschreitendem Klimawandel und über Jahre andauernder Dürre haben Ernteausfälle zugenommen und in ganz Europa für Hungersnot gesorgt. Alle größeren landwirtschaftlichen Betriebe wurden bereits verstaatlicht, den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden abhängig von der Höhe ihrer CO²-Emission die Lebensmittel zugeteilt, Einwohner müssen sich ihre Zuteilung auf dem Markt abholen. Um die EU-Bürger zum Umweltschutz zu zwingen und Missbrauch kontrollieren zu können, hat die EU eine von den Informatikstudenten Alex Baumgart und Tom Valcke entwickelte App namens Aequitas zur Messung individueller CO²-Fußabdrücke zwangsweise eingesetzt. Jedem Menschen steht – vergleichbar dem heute schon bekannten Emissionshandel bei Unternehmen – auf seinem Aequitas-Konto ein gewisses Maß an CO²-Credits zu, die bei jeder Fahrt, bei jedem Einkauf, bei jeder emissionsgebundenen Handlung automatisch an den Zentralrechner im Valcke-Tower gemeldet und von seinem Konto abgebucht werden. Spart der EU-Bürger CO²-Emission, darf er überschüssige Credits verkaufen. Verbraucht er übermäßig viel, wird er bestraft. Doch dieses nur in der Theorie gerecht erscheinende System bringt durch allzu knappe Credit-Zuteilung die meisten Bürger in Armut und Hunger, was in Folge zu Betrug und Diebstahl verführt. Die von der EU gegründete Kontrollgesellschaft ACON hat als eine Art Geheimpolizei über die Aequitas-App absoluten Zugriff auf alle persönlichen Daten eines jeden Bürgers und verfolgt Fehlverhalten. Eines Tages steht Oberinspektorin Dane Kilian vor den Geschwistern Julian und Leni Thaler, die den kleinen Hof ihres abwesenden Vaters allein bewirtschaften, und beschuldigt sie des CO²-Betrugs.
Wieder verbindet Autor Uwe Laub auch in „Dürre“ wissenschaftliche Fakten – diesmal zum Klimawandel – mit Fiktion und Vision in einem locker geschriebenen Roman. So macht er es seinen Lesern leicht, sich auf unterhaltsame Weise auch als Laie diesem ernsten Thema zu nähern. Laub gehört nicht zu jenen Autoren, die als „Publikumsbeschimpfer“ ihre Leser für allzu sorgloses Verhalten mit schlechtem Gewissen strafen. Er droht vielmehr mit einer beängstigenden Dystopie, die wir alle nicht Wirklichkeit werden lassen wollen.
Bei etwas kritischerer Betrachtung ist festzustellen, dass sich der erste Teil des Romans von seinem zweiten im Niveau unterscheidet: Ist es anfangs eine durchaus fundierte, anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen – mit einem zehnseitigen Nachwort faktisch unterlegt – logisch aufgebaute Szenerie, die als Vision ernst genommen werden kann, flacht der Roman später zum reinen Actionroman ab, der mit Mord und Totschlag endet. Manches Handeln der Protagonisten, wenn auch der Dramaturgie geschuldet, erscheint dann unlogisch. Statt des romantischen Schlusskapitels wäre ein offenes Ende mit Blick in eine ungewisse Zukunft wirkungsvoller und dem ernsten Thema gerechter gewesen. Doch alles in allem ist „Dürre“ ein packender Umweltthriller, den man nur ungern aus der Hand legt. Nach der Lektüre bleibt es unsere Entscheidung, unsere Lebensweise zu überdenken und notfalls Konsequenzen zu ziehen.

Bewertung vom 19.09.2021
Der Junge, der ans Meer glaubte
Basile, Salvatore

Der Junge, der ans Meer glaubte


sehr gut

REZENSION - „Wir alle sind, jeder auf seine ganz persönliche Weise 'verlorene Gegenstände', aber wir haben immer und überall die Möglichkeit, uns wiederzufinden“, meinte der italienische Schriftsteller Salvatore Basile (66) zum Erscheinen seines ersten Romans „Die wundersame Reise eines verlorenen Gegenstands“ (2017), der von einem allein lebenden 30-Jährigen handelte, den seine Mutter schon als Kind verlassen hatte. Auch in seinem zweiten Roman „Der Junge, der ans Meer glaubte“ - im Juni beim Blanvalet Verlag erschienen - schildert der Autor, der nach eigener Aussage selbst erst im Alter von fast 40 Jahren nach wechselnden Jobs zu sich fand und aus seinem Leben etwas machte, das Schicksal eines als Pflegekind aufgewachsenen jungen Mannes auf der Suche nach sich selbst und dem Glück des Lebens: „Manchmal muss man sich erst selbst verlieren, um wieder zu sich zu finden.“
Allein mit sich und dem beklemmenden Gefühl, auf alle Zeit ein glückloses Leben führen zu müssen, arbeitet der 18-jährige Marco als Reinigungskraft im städtischen Schwimmbad. Nur wenn er abends heimlich vom Springturm ins Wasser eintaucht, empfindet er das Gefühl von Freiheit. Bei einem Ausflug mit Gleichaltrigen, zu dem ihn die von ihm angebetete Virginia eingeladen hat, springt Marco, nur um ihr zu imponieren, von einer Felsklippe ins Meer und verletzt sich dabei schwer. Lähmungserscheinungen lassen ihn im Krankenhaus verzweifeln und resignieren. Doch seine Physiotherapeutin Lara gibt ihm neue Zuversicht. Mit dem Versprechen, ihn vollends heilen zu können, lockt sie den 18-Jährigen in ihren Heimatort Sarcola, wo er die nächsten Wochen mit ihr im Haus ihrer Eltern Giuseppe und Rosa lebt. Dort lernt Marco den zurückgezogen lebenden ehemaligen Fischer Antonio kennen, der ihn auf Laras Bitte hin mit seinem Ruderboot aufs Meer hinaus nimmt. Laras eigentlicher Grund, Marco nach Sarcola einzuladen, war allerdings nicht allein dessen Genesung.
Dieser zweite Roman des italienischen Schriftstellers unterscheidet sich in seiner inhaltlichen Botschaft kaum vom Vorgängerband. Wieder geht es um Menschen, die sich selbst oder einen Partner verloren haben und nun bewusst oder unbewusst auf der Suche nach neuem Lebensglück oder nach sich selbst sind. Der bei wechselnden Pflegeeltern aufgewachsene Marco sucht nach der eigenen Identität. Laras Mutter Rosa hat sich durch ihre Demenz-Erkrankung selbst verloren, wodurch sie auch ihrem Ehemann Giuseppe verloren ging, der vor Jahren bereits von seiner Tochter Lara verlassen worden war. Der frühere Fischer Antonio verlor in jungen Jahren seine innig geliebte Ehefrau durch Leukämie. Obwohl er damals sein altes Leben aufgeben und wegziehen wollte, lebt er immer noch einsam in seinem Haus, als würde er unbewusst auf etwas warten. „Denn es gibt immer einen Moment, in jedem Leben, in dem auch der Knoten des tiefsten Schmerzes schmilzt und endlich zulässt, dass Nostalgie seinen Platz einnimmt.“
„Der Junge, der ans Meer glaubte“ ist trotz psychologischer Tiefgründigkeit und schicksalsbedingter Melancholie ein positiv stimmender, ein Hoffnung machender Roman, dessen Handlung erwartungsgemäß ein glückliches Ende nimmt. Es ist schnell absehbar, wie die Geschichte ausgehen wird. Doch der Reiz des Romans liegt nicht in seiner Dramaturgie, sondern in der für den Autor typischen, atmosphärischen und lebensnahen Erzählweise, die den Leser auf jeder Seite des Buches berührt, ihn mit den Protagonisten in Schmerz und Glück mitfühlen lässt. Es ist ein besinnlicher, ein lebenskluger und lebensbejahender, auch lebensfroher Roman. So liebevoll wie des Autors Sicht auf das Leben trotz seiner tragischen Verstrickungen, so liebevoll und formschön ist seine Sprache, wofür natürlich auch Übersetzerin Elvira Bittner wieder zu danken ist.

Bewertung vom 12.09.2021
Revolution der Träume / Wege der Zeit Bd.2
Izquierdo, Andreas

Revolution der Träume / Wege der Zeit Bd.2


ausgezeichnet

REZENSION – Im ersten Band „Schatten der Welt“ (2020) der historischen Romanreihe „Wege der Zeit“ des deutschen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Andreas Izquierdo (53) lernten wir drei Jugendliche kennen, die sich - in ihren doch so unterschiedlichen Charakteren, Temperamenten und Talenten perfekt ergänzend - im westpreußischen Thorn ab 1910 bis in die Wirren des Ersten Weltkrieges hinein zu einem unzertrennlichen Trio verbunden hatten: Der schüchterne Carl Friedländer, Sohn eines jüdischen Schneiders, die emanzipatorische Isi, Tochter eines bürgerlichen Emporkömmlings und populistischen Reichstagsabgeordneten. Artur Burwitz, geschäftstüchtiger Sohn eines Stellmachers, der notfalls auch illegale Wege geht, um seine Träume zu verwirklichen.
Alle drei treffen sich nun im zweiten Band „Revolution der Träume“, im August beim Dumont Buchverlag veröffentlicht, nach verlorenem Krieg mehr oder minder zufällig in Berlin wieder, wo gerade der Kaiser verjagt wurde, die meisten Menschen in bitterer Armut leben und Sozialisten gegen Monarchisten in blutigen Straßenkämpfen bewaffnet gegen einander losgehen. „Hier hatte Preußens Herz zu schlagen aufgehört.“ Wieder ist Carl der Erzähler der Geschichte und schildert seine Ankunft in der Reichshauptstadt: „Ich kam mir wie der verspätete Gast des größten Feuerwerks aller Zeiten vor, der auf nasses Konfetti, leere Flaschen und zerbrochenes Glas schaute, den alkoholschwangeren, schweißigen Muff der verschwundenen Gäste in der Nase.“
Es ist diese bildhafte Sprache, die auch Izquierdos zweiten Band so leicht lesbar und die deutsche Geschichte jener Zeit trotz ihrer Komplexität auch für Nichthistoriker verständlich und nachvollziehbar erlebbar macht. Er beschreibt die berüchtigten Goldenen Jahre Berlins – geprägt durch Widersprüche, politische Verwerfungen und gesellschaftliche Gegensätze – nicht in oberlehrerhafter Art des nachgeborenen Besserwissers, sondern aus damaliger Sicht der kleinen Leute, zu denen zweifellos auch seine drei jungen Freunde gehören, wenn auch durch Kriegserfahrung reifer geworden. „So lag auch kein Schatten über unserem Wiedersehen, es war, als wären wir wieder die, die wir immer gewesen waren, außer dass ein Weltkrieg uns vor der Zeit gezwungen hatte, endgültig erwachsen zu werden.“
Mit ungebrochenem Ehrgeiz, der alle drei schon als Minderjährige in Thorn zu Unternehmern hatte werden lassen, versuchen sie nun den Wandel der Zeit für sich zu nutzen: Artur ist Clubbesitzer und steigt dank seiner Gewitztheit und Unerschrockenheit zum Paten seines Viertels auf. Isi setzt sich immer noch für Frauen in Not ein, versucht aber durch Heirat gesellschaftlich aufzusteigen. Carl wird Kameramann bei der jungen UFA-Filmgesellschaft, hängt aber den alten Werten an. „Unsere Welt ist nicht mehr Thorn“, mahnt ihn Isi deshalb. „Hier ist alles neu, alles dreht sich rasend schnell! Bleib stehen, und du wirst herausgeschleudert. Du musst nicht alles gut finden, Carl, aber finden musst du dich! Sonst bist du verloren.“
Zwar ist „Revolution der Träume“ die chronologische Fortsetzung der Lebensbeschreibung der drei Freunde. Doch durch verlorenen Krieg und Ortswechsel nach Berlin beginnt für alle drei ohnehin ein neues Leben, so dass sich dieser zweite Band gefahrlos ohne Kenntnis des ersten lesen lässt und unbedingt zu lesen lohnt. Denn wieder ist es Izquierdos sanfte, empathische, seine Leser ansprechende Erzählweise, die uns mit seinen Protagonisten mitleiden, mitfühlen, aber auch mitfeiern lässt und uns mittels humorvoller Einschübe zu verstehen gibt, dass das Leben auch in schwierigster Situation immer lebenswert ist.

Bewertung vom 26.08.2021
Die schiere Wahrheit
Hasler Roumois, Ursula

Die schiere Wahrheit


sehr gut

REZENSION - „Die Wahrheit wirkt nie wahr.“ Nur die arrangierte Wahrheit wirke wahrer als die nackte Wahrheit, lässt Autorin Ursula Hasler (71) den Schriftsteller Georges Simenon in ihrem zweiten Roman „Die schiere Wahrheit“ über das Schreiben eines Krimis philosophieren. Was ist also Wahrheit? Die promovierte Germanistin und frühere Professorin am Züricher Institut für Angewandte Medienwissenschaft macht sich in ihrem Ende August beim Limmat Verlag veröffentlichten zweiten Roman einen wundervollen Spaß daraus, mit dieser Wahrheit zu spielen, wenn auch die Idee des Buches nicht neu ist: Ähnlich wie Michael Dangl in seinem im Januar erschienenen Roman „Orangen für Dostojewskij“ den russischen Schriftsteller im Jahr 1862 mit dem weltberühmten Komponisten Gioachino Rossini in Venedig fiktiv zusammenbringt, so lässt die Schweizer Autorin den belgischen Kriminalschriftsteller Georges Simenon (1903-1989) im Sommer 1937 im französischen Atlantik-Badeort Saint-Jean-de-Monts auf seinen Schweizer Kollegen Friedrich Glauser (1896-1938) treffen.
Der von Drogenabhängigkeit und Anstaltsaufenthalten zerrüttete Glauser (41) - im Vorjahr mit seinem zweiten Wachtmeister-Studer-Krimi „Matto regiert“ endlich zu erster Anerkennung gekommen - wird mit dem zwar jüngeren, nach 18 Maigret-Krimis aber schon berühmten und von Glauser als „Lehrmeister“ verehrten Georges Simenon (34) bekannt gemacht. Beide Autoren finden Gefallen aneinander und entwickeln nun bei Strandspaziergang und Mittagessen einen Kriminalroman, zu dem jeder seine Ideen beisteuert: Simenon legt einen Toten an den französischen Strand, Glauser macht aus der Leiche einen Schweizer, um seinen Wachtmeister Studer, „das Salz der Berner Kantonspolizei“, an den Atlantik holen zu können. Simenon lässt ihm seine ältliche Mademoiselle Amélie Morel dazwischenfunken. Die gelernte Krankenschwester und Tante des vor Ort eigentlich zuständigen Inspektors Laurent Picot ähnelt in ihrer Art Agatha Christies Miss Marple.
Immer wieder wird die Kriminalgeschichte unterbrochen, wenn beide Schriftsteller über das Wesen des Schreibens, über Kritiker und Leser, über Recht und Gerechtigkeit und eben über die Frage nach der Wahrheit philosophieren. Gerade diese eingestreuten Kapitel geben Haslers Roman seinen literaturwissenschaftlichen Reiz, erfahren wir doch viel über die beiden Autoren, die sich in ihren Vorstellungen und ihrer Arbeitsweise verwandt und von den Lesern oft verkannt fühlen. Beide sehen in einem Krimi mehr als die Lösung eines schlichten Rätsels: Simenon „interessiert das Leben dieser Menschen“ und auch Glauser will sehen, „wie es seinen Leuten beliebt zu leben.“ Da kann es passieren, dass die Figuren ein Eigenleben entwickeln und der Autor am Ende „hundert Fäden, die lose herumhängen“, zusammenführen muss, um die Geschichte sinnvoll zum Ende zu bringen. Doch wie zu erwarten lösen Wachtmeister Studer und Mademoiselle Amélie den Fall, „der sich hartnäckig weigerte, einer zu werden“, da Glauser zu Simenons Überraschung unbedingt noch eine unerwartete Wendung einbauen musste.
Hasler ist es überzeugend gelungen, sich in die beiden Schriftsteller hineinzudenken und in deren unterschiedlichen Sprachstil einzufühlen, wodurch der Roman auf beiden Handlungsebenen so realistisch wirkt, als wäre es „die schiere Wahrheit“. Es macht Spaß zu beobachten, wie Fiktion und Realität verschmelzen. Nicht nur, dass sich Simenon und Glauser bei ihrer Geschichte von ihrer realen Umwelt inspirieren lassen. Am Ende vermischen sich Fiktion und Realität sogar vollends, wenn die beiden realen Kriminalschriftsteller nach Abschluss ihres fiktiven Treffens plötzlich ihren doch nur erfundenen Ermittlern wahrhaftig gegenüberstehen.

Bewertung vom 22.08.2021
Lazare und die Spuren des Todes
Hültner, Robert

Lazare und die Spuren des Todes


sehr gut

REZENSION – Nach „Lazare und der tote Mann am Strand“ (2017) schickt Schriftsteller Robert Hültner (71) seinen erfahrenen Kommissar aus Montpelier auch im zweiten Band „Lazare und die Spuren des Todes“, im Juni erschienen beim btb-Verlag, ein weiteres Mal gegen dessen Willen ins malerische Küstenstädtchen Sète, das sich rühmt, das Venedig Südfrankreichs zu sein. Mouhamad Yassin hatte dort vor einigen Tagen seine bald 18-jährige Tochter Nadia als vermisst gemeldet und die Lokalpolizei kommt in ihren Ermittlungen nicht weiter. Man vermutet, Nadia habe sich radikalisieren lassen und nach Syrien abgesetzt. Vermisstenfälle sind eigentlich ein Fall für die lokale Polizei, weshalb Siso Lazare nicht versteht, weshalb ausgerechnet er als Ermittler der Police National in die Provinz geschickt wird. „Dass ein Beamter mit ihrer Erfahrung nicht mit Fällen behelligt werden sollte, die schon bei einem Polizeischüler ein Gähnen hervorrufen würden, darüber herrscht zwischen Richter Simoneau und mir Konsens“, bleibt der Polizeidirektor trotz Lazares Einspruch bei seiner Weisung.
Lazare beginnt also in Sète mit seiner Ermittlung, muss sich allerdings nicht lange um den Fall kümmern: Bei seiner nächtlichen Verfolgung des vermeintlichen Geliebten der jungen Muslimin wird er hinterrücks niedergeschlagen und nach kurzem Krankenhausaufenthalt in zweiwöchigen Erholungsurlaub geschickt. Lazare zieht sich liebend gern in seine Berghütte zurück. Doch auch dort scheint die Welt nicht mehr in Ordnung zu sein: Die Gegend soll auf einmal radioaktiv verseucht sein, das Quellwasser nicht mehr trinkbar, das angebaute Gemüse unverkäuflich. Als sein einsam lebender Nachbar dann ermordet aufgefunden, zudem noch eine zweite Leiche entdeckt wird, führen Gerüchte sogar in den katalanischen Untergrund und in längst vergangene Zeiten des Widerstandskampfes gegen das faschistische Franco-Regime. Natürlich kann es Lazare trotz ausdrücklicher Empfehlung, sich von seiner Verletzung zu erholen, nicht lassen, sich unauffällig in die Ermittlungen der Polizei einzumischen und sich bei den Bewohnern umzuhören, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen und Licht in das Dunkel zu bringen.
„Lazare und die Spuren des Todes“ ist kein herkömmlicher Krimi, wie man ihn vielleicht von einem „Tatort“-Autor, der Hültner ja auch ist, erwarten könnte. Zumal Kommissar Siso Lazare nicht einmal als Ermittler selbst aktiv wird, sondern lediglich als Beobachter die einzelnen Fälle verfolgt. Es ist vielmehr ein inhaltlich vielschichtiger Roman mit Elementen eines Umwelt- und Politkrimis. Die Historie der südfranzösischen Provinz in Nachbarschaft zum spanischen Katalonien findet ebenso Eingang in die Handlung wie aktuelle Themen der Umweltverschmutzung, der Korruption des politischen Systems und der aktuellen inneren Bedrohung Frankreichs durch islamistischen Terror. Diese Vielschichtigkeit und Vielfalt verschiedener Handlungsstränge mag es manchem Leser anfangs erschweren, den roten Faden zu finden. Doch zu guter Letzt fügt sich natürlich alles zusammen und ergibt ein plausibles Gesamtbild.
Wichtiger als die Kriminalfälle und faszinierender sind im neuen Roman von Robert Hültner, der bereits dreimal mit dem Deutschen Krimipreis und einmal mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde, die Charakterisierung seiner eigenwilligen Dorfbewohner und die ins Detail gehende Beschreibung der südfranzösischen Berglandschaft, die mit ihrem ursprünglichen Wesen sogar einen wesentlichen Beitrag zur Handlung und Spannung dieses durchaus anspruchsvollen und gerade deshalb lesenswerten Krimis beiträgt.

Bewertung vom 13.08.2021
Wo niemand uns sehen kann
Chancellor, Bryn

Wo niemand uns sehen kann


gut

Meine Frau hat sich durch den Roman "durchgebissen" und fand das Buch endlich, wenn auch spät zunehmend besser. Ich habe nach 100 Seiten - mein Leseziel bei jedem Buch! - abgebrochen. Ständig wuden neue Akteure vorgestellt, dass man leicht die Übersicht verlieren konnte, und die Handlung dümpelte so vor sich hin, dass keine Spannung aufkam. Atmosphärisch war das Buch allerdings gut geschrieben. Aber dies allein reichte mir nicht, um weiterzulesen.

Bewertung vom 08.08.2021
Unser letzter Tag
Suchanka, Stefan

Unser letzter Tag


sehr gut

REZENSION – Sieben Menschen, alle etwa so alt wie der 39-jährige Romanautor, haben noch 13 Stunden und genau 42 Minuten zu leben, bis ein unaufhaltsam auf die Erde zurasender Asteroid um 20:12 Uhr alles Leben auslöschen wird. In sieben Kapiteln, inhaltlich aufgeteilt in die sieben biblischen Todsünden Hochmut, Habgier, Wollust, Wut, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit, begleiten wir in Stefan Suchankas Debüt „Unser letzter Tag“, im Mai im Kirschbuch-Verlag erschienen, diese sieben Menschen während ihrer letzten Stunden. Was sich anhört, wie eine düstere Dystopie, entpuppt sich allerdings als ein durchaus unterhaltsames Szenario um sieben Freunde, von denen jeder für sich seinen ganz eigenen Lebensweg gegangen ist, die aber alle über die gemeinsame Schul- und Jugendzeit doch irgendwie miteinander verbunden sind und nun durch ihren gemeinsamen Jugendfreund Ludwig wieder zusammenfinden.
Für jede Sünde, jede Charaktereigenschaft steht im Roman eine Person: Die erfolgreiche Künstlerin Larissa steht für den Hochmut, ihr früherer Lebensgefährte Alexander, der für Geld seine Liebe opferte, für Habgier. Der Möchtegern-Musiker Franco neidet nicht nur Larissa und Alex den Erfolg, sondern missgönnt ihn jedem, und Neonazi Peter ist wütend auf das herrschende System. Die wollüstige Jacqueline betrügt ständig ihren voller Trägheit unentschlossenen Ehemann Kevin und die verfressene Inga steht symbolisch für Maßlosigkeit. Mit ihnen allen trifft sich Ludwig in den noch verbleibenden Stunden. Man unterhält sich über alte Zeiten, über verpasste Chancen, über Fehlentscheidungen. Und alle treffen an ihrem letzten Tag früher oder später auf Kaczmarek. Er ist der unvoreingenommene Fremde, der als emotionsloser Beobachter seinen Gesprächspartnern die Maske vom Gesicht zieht und ihre Lebenslügen aufdeckt. Von ihm müssen sie sich fragen lassen, ob jenes Leben, das sie bisher geführt haben, tatsächlich das Leben ist, das sie einst leben wollten. Kaczmarek konfrontiert die Sieben mit der Wahrheit über sich selbst und gibt ihnen den Anstoß, ihr bisherigen Verhalten und Handeln zu überdenken und zu ändern.
Würdest du heute dein Leben ändern, wenn es kein Morgen mehr gäbe? Diese Frage richtet Autor Suchanka an uns Leser und hält uns in gewisser Weise den Spiegel vor. Denn irgendwie entsprechen diese charakterlich so unterschiedlichen Menschen uns allen. Jeder Leser mag sich in dem einen oder anderen Punkt doch irgendwie wiedererkennen. Jeder von uns hat in seinem Leben Fehlentscheidungen getroffen, egoistisch gehandelt, einen Mitmenschen verletzt. Doch Suchanka urteilt oder verurteilt nicht. Er gibt uns Lesern lediglich die Anregung, schon heute unser bisheriges Handeln zu überdenken und nicht erst auf „unseren letzten Tag“ zu warten. Sein Romandebüt ist ein Appell, frühzeitig und immer wieder über den Sinn des eigenen Lebens nachzudenken, und zugleich die Erinnerung an die individuelle Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung.
Ob der schon als ,Bestseller von morgen’ gewürdigte Roman die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllen wird, mag sich erweisen. In jedem Fall ist „Unser letzter Tag“ trotz des dystopischen Titels und des im Roman drohenden Weltuntergangs bei allem philosophischen Hintersinn eine wider Erwarten recht locker und liebevoll geschriebene, deshalb leicht lesbare und unterhaltsame Satire.