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LaberLili

Bewertungen

Insgesamt 162 Bewertungen
Bewertung vom 02.03.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


gut

Gekratze an der Oberfläche

Ich habe so gut wie gar keine Ahnung von russischer Geschichte, wenn man mal vom wohl gängigen Stalin-Wissen absieht und davon, dass es da mal eine Zarenfamilie gab, von der bis in dieses Jahrhundert hinein ständig irgendeine alte Frau (die auch häufiger mal wechselte) behauptete, die Tochter zu sein. Aber ich mag Bücher, in denen alte Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, und Vorschusslorbeeren gibt es für Bücher dieser Art, in dem alte Menschen aus anderen Ländern und Kulturen ihre Lebensgeschichte erzählen: Rein formal hätte ich „Rote Kreuze“ also lieben müssen, aber hier haperte es für mich ein wenig an der Umsetzung.
Gleich zu Beginn erging es mir wie Alexander, der sich offen fragte, warum seine Nachbarin ihm unvermittelt ihre Biografie zu erzählen begann: ja, warum denn eigentlich? Der Grund blieb bis zuletzt unbekannt und wie auch Alexander ließ ich mich halt einfach darauf ein und ließ Tatjana erzählen, aber dabei hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, dass Tatjana ebensogut mit der Wand hätte sprechen können. Ich hatte an nicht einer einzigen Stelle das Gefühl, dass eine echte Beziehung zwischen diesen beiden Figuren entstand geschweige denn dass sie sich überhaupt mal nur ein wenig annäherten. Schließlich erzählt Alexander auf Nachfrage hin, wieso er mit seinem Baby alleine ist und ja, das ist eine tragische Geschichte, die mir aber auch eher nebenher abgefrühstückt zu werden schien. Das hatte für mich etwas von „der Alex muss zwecks Daseinsberechtigung in diesem Buch halt auch mal was Krasses von sich erzählen, damit er nicht völlig unnütz zwischen den Zeilen rumsteht; toll, wenn da ebenfalls Verlust drin vorkommen sollte!“

Tatjanas Leben fand ich sehr interessant, aber ich muss zugeben, dass es mir in diesem Fall besser gefallen hätte, würde sie nicht am Lebensende von sich erzählt haben, solange sie sich nun noch erinnern konnte, sondern wäre ihre Geschichte hier nun von außen und zwar von Anfang an erzählt worden, und zudem ganz ohne Nachbarn. „Rote Kreuze“ ist ein diogenes-typisch handliches Buch; Tatjana ist alt und in sehr unruhigen Zeiten erwachsen geworden und mir war das häufig zu komprimiert, zu viele Infos auf relativ wenige Seiten gepresst, und klar, dass da keine besondere Tiefe erreicht werden konnte. Das fand ich schade, denn ich hatte mir da deutlich weniger Distanz zur Figur erhofft. So wirkte „Rote Kreuze“ auf mich allerdings doch eher nüchtern bis steif erzählt.
Was bleibt, ist allerdings ein wenig mehr Einblick in die russische Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts – auch wenn er doch vergleichsweise oberflächlich bleibt, aber letztlich ist das doch der Aspekt, wegen dem ich „Rote Kreuze“ auch aufs Neue lesen würde, wenn ich es halt noch nicht kennen würde. Als Roman zum wiederholten Lesen sehe ich „Rote Kreuze“ allerdings nicht unbedingt an.

Bewertung vom 16.02.2020
Helsin Apelsin und der Spinner
Höfler, Stefanie

Helsin Apelsin und der Spinner


ausgezeichnet

Ein echt authentisches Dilemma! :)

„Helsin Apelsin und der Spinner“ erzählt von einer hyperaktiven Zweitklässlerin, die in bestimmten Situationen zu extremen Wutausbrüchen neigt, womit sich ihr Umfeld aber recht gut arrangiert hat. Auch ihre Klasse ist auf den Umgang mit Helsins „Spinnern“, wie sie Helsins Ausfälle bezeichnen, „geschult“ und für ihre Klassenkamerden ist Helsin letztlich eine ganz normale 8Jährige, die in bestimmten Situationen halt mal austickt; insgesamt ist „Helsin Apelsin und der Spinner“ da sehr inklusiv und verständnisvoll. Als allerdings Louis neu zur Klasse stößt und in der Vorstellungsrunde einen gemurmelten Witz über Helsins Vornamen macht, gerät alles ein wenig durcheinander: Helsin kann Louis auf Anhieb nicht ausstehen, womit sie allerdings alleine ist; auch ihr bis dahin bester Freund Tom freundet sich zu ihrem Unbill rasch mit Louis an und Helsin begibt sich quasi rachelüstern in eine Art Schmollwinkel.
„Helsin Apelsin und der Spinner“ erzählt ab hier vornehmlich die Geschichte von Veränderungen, mit denen umgegangen werden muss, von neuen Arrangements, auch von entstehenden Konflikten, die sich in diesem Fall für Helsin, die als absolut zentrale Figur fungiert, auftun und die sie in Gewissensnöte stürzen, aber auch für vor sie schwierige Herausforderungen stellen…

Ich war zwar durchaus optimistisch gestimmt, als ich mit der Lektüre begann, hatte aber zugleich die leichte Befürchtung, dass die Geschichte ins Klamaukige abgleiten könnte, aber dem war absolut nicht so: Letztlich las sich „Helsin Apelsin und der Spinner“ wie ein Kindheitsabenteuer, das sich so oder zumindest so ähnlich tatsächlich zutragen könnte. Da sind viele Themen angesprochen, mit denen Kinder sich häufig auseinandersetzen müssen (Freundschaft, Courage, Hilfsbereitschaft, Vergebung…), und zwar auf eine Art und Weise erzählt, die einfach Spaß macht. Positiv fand ich auch, dass sich Helsins Probleme nicht einfach in Luft auflösen, sondern sie sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen muss, was der ganzen Erzählung wiederum eine gewisse Grundspannung verleiht.

Empfohlen wird dieses Buch ab 8 Jahren und generell ist es wohl auch ein tolle Lektüre für das erste richtig flüssige Selberlesen, aber ich sehe die Geschichte durchaus auch schon als für jüngere Kinder geeignet; mein Patenkind wird nun im kommenden Monat sechs Jahre alt und im Sommer eingeschult; ich würde mich nicht scheuen, ihm auch heute schon aus „Helsin Apelsin und der Spinner“ vorzulesen. Zudem würde ich mich freuen, gäbe es gar weitere Helsin-Geschichten – denn Helsin war für mich ein wenig auch wie eine zeitgenösse, weibliche Version von Michel aus Lönneberga. „Helsin Apelsin und der Spinner“ ist da definitiv ein Kinderbuch, das ich sehr gerne weiterempfehle!

Bewertung vom 06.10.2019
Im Wald der Lügen
Swanson, Cynthia

Im Wald der Lügen


gut

Ich zitiere meine Mutter, die das Buch zufällig bei mir entdeckte und angesichts des Klappentexts spontan rief: „Das klingt aber spannend! Hast du das schon durch, kann ich es mir ausleihen? Das würde ich auch gerne lesen!“ Zu jenem Zeitpunkt hatte ich den Roman allerdings just erst erhalten, einige Tage später habe ich mein ausgelesenes Exemplar jedoch an meine Mutter weiterreichen können, wobei ich auf ihre Nachfrage, wie mir der Roman denn nun gefallen habe, lediglich ein wenig verhaltener antworten konnte: Angie steht hier gar nicht so sehr im Mittelpunkt, wie der Klappentext es mich hatte vermuten lassen. Tatsächlich erzählt der achronologisch verlaufende Roman, in dem immer wieder auf die Vergangenheit zurückgeblickt wird, sehr viel von der Geschichte der Beziehung zwischen der verschwundenen Silja und dem toten Henry, die Anfang der 1940er Jahre spontan entbrannt ist, wobei aufgrund des Zweiten Weltkriegs und Henrys Tätigkeit für die US-Army die Ehe der Beiden eingangs auch eher eine Formalie war und Henry seine eigene Tochter auch erst kennenlernte, als sie bereits im Kleinkindalter angelangt war und er, kriegsversehrt, aus Europa zurückkehrte.
Für mich war Silja letztlich der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte; sie empfand ich als eine sehr starke, selbstbewusste Frauenfigur, die nun eben plötzlich mit einem nahezu völlig fremden Kriegstraumatisierten zusammenleben musste, obschon sie das merklich gar nicht wollte. Aber nun gut, das „Heute“ dieses Buchs findet eben 1960 statt und ich bin mir sehr sicher, dass Silja in der heutigen Zeit Henry ohne zu zögern vor die Tür setzen und sich scheiden lassen würde, zumal sie im Buch ebenfalls bereits mit einer Trennung liebäugelt, welche von Henry aber vehement abgelehnt wird.

Den Handlungsstrang, der die Geschichte von Silja (und Henry) erzählt, fand ich ungemein packend; die hat mir sehr gut gefallen – leider fand ich dieses ganze spätere Angie-Paul-Ruby-Scharmützel rund um Henrys Tod und Siljas Verschwinden eher völlig überflüssig. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass Angie eine allzu glückliche Ehe mit Paul führt und in einer absolut heilen Welt lebt; sie war halt eine Frau Anfang 20, die einen etwas älteren Mann geheiratet und mit dem nun ein Baby hatte, aber ein Gefühl von echter Liebe und tiefem Vertrauen kam für mich zwischen den Beiden nicht raus. Tatsächlich hatte es mich sogar überrascht, als Angies noch ziemlich junges Alter irgendwann erwähnt wurde; altersmäßig hatte ich sie bis dahin mindestens zehn, eher noch 15, Jahre älter eingeschätzt, zumal sie Ruby gegenüber eher sehr, sehr mütterlich auftritt, während sie rein rechnerisch ihre große Schwester hätte sein können, ohne dass der Abstand zwischen ihren Jahrgängen in irgendeiner Form außergewöhnlich gewesen wäre.

Ich hätte den Roman weitaus besser gefunden, hätte die Autorin einfach die Geschichte der Familien von Silja, Henry und Ruby erzählt und Angie und Paul komplett außenvorgelassen bzw. nur als Nebenfiguren auftreten lassen: Grade Angie hat einfach überhaupt keine Rolle für die grundsätzliche Erzählung gespielt und ich war irgendwann richtiggehend genervt, wenn die Handlung von der Vergangenheit abrupt wieder in die Gegenwart sprang. Der simple Hintergrund von Henrys Tod und Siljas Verschwinden hätte mir als Ende auch ausgereicht, aber in diesem Punkt musste ebenfalls noch ein Schritt weitergegangen und dem Ganzen noch mehr „Dramatik“ verliehen werden, was das Ganze in meinen Augen letztlich viel zu überzogen wirken ließ. Dieses „Über-Ende“ und im Allgemeinen das reichlich überflüssige Auftreten Angies in der Geschichte haben mir das gesamte Buch letztlich leider doch auch reichlich verleidet; schade, denn die Geschichte von Silja und Henry, um die es eigentlich ging, war eigentlich viel zu gut um sie schließlich wie eine ausgepresste Zitrone minderer Qualität aussehen zu lassen!

Bewertung vom 08.08.2019
Glück ist meine Lieblingsfarbe (eBook, ePUB)
Günak, Kristina

Glück ist meine Lieblingsfarbe (eBook, ePUB)


sehr gut

Als ich anfing, „Glück ist meine Lieblingsfarbe“ zu lesen, hatte ich noch einen Roman erwartet, der in Richtung „heiterer Frauenroman“ ginge und zudem eine reichlich schnulzige Liebesgeschichte beinhalten würde; tatsächlich hatte ich damit gerechnet, dass der Fokus hier ganz klar auf dem Genre „Liebesroman“ liegen würde. Letztlich war es dann aber doch eher eine Art Selbstfindungsroman, in dem sich eher nebenbei eine Liebesgeschichte anbahnte: Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass die Liebesthematik hier im absoluten Mittelpunkt stehen würde.
Stattdessen konzentrierte sich der Roman sehr stark auf die ich-erzählende Protagonistin Juli, die ihr „sicheres“ Leben in Deutschland gegen ein „Hippie-Dasein“ auf La Palma eingetauscht hatte, wo sie mit verbesserungswürdigen Spanischkenntnissen in einer winzigen Einliegerwohnung hauste und sich als Mitarbeiterin eines Foodtrucks sowie professionelle Gassigeherin mehr schlecht als recht durchschlug, dabei aber doch recht glücklich war und sich sehr viel wohler fühlte als zuvor in starrere Strukturen eingebunden und eben nur wusste, dass ihr Leben nicht auf ewig so aussehen sollte – aber nicht, wonach sie stattdessen eigentlich genau strebte.
Generell passiert in „Glück ist meine Lieblingsfarbe“ eigentlich nicht viel; man erlebt halt eine Frau, die da lebt, wo im Allgemeinen mehr Touristen als Einwohner sind: Das Ganze lässt sich fluffig-leicht weglesen, fällt in meinen Augen gemeinhin unter „typische Strandlektüre“ und auch, wenn es für mich nun nicht der ganz große Wurf war, so habe ich den Roman einfach mal zwischendrin ganz gerne gelesen. „Glück ist meine Lieblingsfarbe“ ist halt etwas Leichtes für Zwischendurch und unabgerundet läge meine Wertung bei 4,2*.

Bewertung vom 03.08.2019
Dunkelsommer
Jackson, Stina

Dunkelsommer


ausgezeichnet

Stimmungsvoll, auf eine schwere Weise

Im Falle von „Dunkelsommer“ ist der Titel Programm: Die Handlung trägt sich zwar (vornehmlich) im Sommer zu, das jedoch in einer eher abgelegenen, dicht bewaldeten Gegend Schwedens, wo die Natur schon entsprechend viel Licht schluckt – das eben selbst zu einer Jahreszeit, während der es in Schweden nahezu rund um die Uhr taghell ist. Ohnehin ist „Dunkelsommer“ auch vom Text her ein sehr düster-atmosphärischer Roman, der zum Einen den trunksüchtigen, lethargischen Lelle, der seit dem Verschwinden seiner Teenie-Tochter vor einigen Jahren Nacht für Nacht die weitere Umgebung etappenweise durchforstet, in der Hoffnung, Spuren seiner Tochter zu finden und der zum Anderen die Jugendliche Meja in den Mittelpunkt stellt, die zusammen mit ihrer Mutter eine relativ dysfunktionale Familie bildet und deren Mutter nun, quasi Hals über Kopf, gemeinsam mit ihr in diese dichte Waldregion gezogen ist, zum neuen „Lebensgefährten“ der Mutter, ursprünglich eine Onlinebekanntschaft, wobei der neue Partner auch recht schmierig und eigenbrötlerisch wirkt… letztlich wirken hier alle Figuren sehr auf sich allein gestellt und in kein gefestigtes Umfeld eingebettet, so dass es schon fast erschreckend auffällig ist, als Meja sich spontan in einen von drei Brüdern verknallt, die sie zufällig kennenlernt und deren Familiengefüge völlig solide erscheint. Auf den ersten Blick. Für den Leser scheint hier aber schon bald etwas leicht Archaisches durch – von Anfang an kann man sich zudem denken, nicht zuletzt des Klappentexts wegen, dass sich Lelles und Mejas Wege letztlich kreuzen werden. Zu unterschiedlich sind diese beiden Stränge, zu wenig haben sie zunächst miteinander zu tun als dass es sonst Sinn ergeben könnte, warum ausgerechnet diese beiden Figuren im selben Buch behandelt werden: Man ist sich auch ohne die Buchbeschreibung gelesen zu haben sehr früh sicher, dass es hier eine Schnittstelle geben muss; zudem klingt Meja sehr nach Lina, der verschwundenen Tochter Lelles, und man befürchtet frühzeitig, dass Meja drauf und dran ist, zum nächsten Opfer zu werden. Nur von welchem Täter? In diesem Roman scheinen alle ein wenig dubios zu sein; der neue „Stiefvater“ wirkt sofort besonders verdächtig, aber irgendwie bleibt zunächst alles kaum greifbar. Es ist mehr Intuition als Miträtseln gefragt – ich hatte zwar relativ früh eine ganz bestimmte Ahnung, die in die letztlich richtige Richtung ging, aber diese erschien mir auf Anhieb doch zu extrem.

Dass „Dunkelsommer“ als bester schwedischer Spannungsroman ausgezeichnet worden ist, kann ich durchaus verstehen. Dies ist in meinen Augen ein definitiv empfehlenswerter Roman für alle Leser, die düster-atmosphärische Thriller, die sich eher wie ein (Sozial)Drama abspielen, mit einem Hauch Verlorenheit und einer Prise Melancholie sehr schätzen.

Bewertung vom 23.05.2019
heimelig (eBook, ePUB)
Imboden, Blanca

heimelig (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ker, wat war dat schön! Auch wenn ich mich frage, ob dieser Untertitel unbedingt hatte sein müssen, der zum Einen das Ende des Romans spoilert und zum Anderen, zumindest für mich, aufgrund seiner Länge viel zu gewollt nach Jonassons Hundertjährigem klingt…

Ich lebe ja nun in der Schweiz und habe diesen herauslesbaren leichten schweizerischen Lokalkolorit sehr gemocht: „heimelig“ war nun nicht völlig durchgeschweizert ;) und man hat zudem durchaus den in der Schweiz prinzipiell nicht üblichen Buchstaben „ß“ eingesetzt, so dass der womöglich ausländische Leser zwar nicht über zig Scheinfehler stolpert, aber bei der ein oder anderen Phrase wahrscheinlich doch denkt: „Ach, das sagt man in der Schweiz echt so?“ (Lieber nichtschweizerischer Leser: Wenn du dir diese Frage während des Lesens von „heimelig“ stellst, lautet die Antwort in jedem Fall: Ja, genauso heißt das in der Schweiz!)

Ich habe diesen Roman tatsächlich ungemein gerne gelesen; die erzählende Hauptfigur Nelly war voller Esprit und generell eine sehr aufmerksame ältere Dame, welche die Dinge wunderbar auf den Punkt bringen konnte. Nelly, die Altersheim wohnt, stellte das Leben (und auch das Sterben) dort sehr facettenreich da, ohne zu überdramatisieren, ohne zu untertreiben: Ihre Erzählung wirkte einfach authentisch und man konnte sich ganz genau vorstellen, wie(so) sie sich fragte, ob das denn nun alles gewesen sein sollte… Mir war sie sehr sympathisch; ihre Erlebnisse wirkten so sehr aus dem Leben gegriffen, dass ich schon fast geneigt war, eine agile Seniorin, oder meinetwegen auch einen fitten Senior, aus dem nächsten Altersheim für einen Tagesausflug zu „entführen“ – da scheint man immerhin etwas erleben zu können! ;)

Ein Wermutstropfen blieb beim Lesen des Romans aber doch: Er war eindeutig zu kurz. Dabei war er letztlich gar nicht soooo kurz, also für eine Novella wäre er eindeutig zu lang gewesen, aber die Geschichte war so anheimelnd kurzweilig; ich hätte gerne noch deutlich mehr (Reiseerlebnisse) von Nelly gehört.

Bewertung vom 12.05.2019
Der Zopf meiner Großmutter
Bronsky, Alina

Der Zopf meiner Großmutter


sehr gut

Dysfunktional funktioniert auch irgendwie...

Ach, Mäxchen… als Kind kommt der Ich-Erzähler dieser Novelle in Begleitung seiner Großeltern nach Deutschland, wobei nicht nur der Großvater, sondern vor Allem auch der kleine Maxim, völlig unter der Fuchtel der bestimmten (und bestimmenden) Großmutter stehen. Sie schreibt ihrem Enkel alle möglichen Krankheiten zu, obschon es diesem auf den ersten Blick sehr gutgeht, und hält dann auch die deutschen Ärzte prompt für inkompetent als diese dem kleinen Max beste Gesundheit bescheinigen; auch Lehrkräfte werden später von ihr abgekanzelt – schlimmer: Vor Allem ihr Enkel wird von ihr ständig abgekanzelt und auch im Beisein Anderer verbal gedemütigt. Die zudem antisemitische, rassistische, sexistische, schwulenfeindliche Großmutter spricht allenfalls gebrochen Deutsch, während Maxim sich schnell mit und in der neuen Sprache arrangiert; ständig muss er für seine Oma dolmetschen, die ihm daraufhin stets eröffnet, er könne ja gar nicht wissen, was da gesagt wurde, weil er habe doch keine Ahnung von der Sprache, er sei dumm, er sei schwächlich…, während sie zugleich anhaltend darüber lamentiert, wie sehr sie sich doch für ihren Enkel aufopfere, dass dieser ohne sie völlig verloren sei. Abgesehen davon, dass sie ihm immerfort beteuert, er würde ohnehin nicht besonders alt werden (können). Maxim lässt alles stoisch über sich ergehen; auf seine mangelnde Gegenwehr angesprochen antwortet er später, dass diese dann doch nur endlos wäre und er den „Aufwand“ darum von vornherein scheut.
Damit sind sowohl Maxim als auch seine Großmutter ebensolche tragischen Gestalten wie der Großvater, der von der Großmutter stets als untauglicher Nichtsnutz deklassiert wird; „Der Zopf meiner Großmutter“ zeichnet kein einfaches Bild einer übergesiedelten Familie, sondern das einer dysfunktionalen Familiengemeinschaft, was auf mich als Leserin eine ganz seltsame, düstere Faszination ausübte.

Durch den Tunnelblick des Ich-Erzählers, der auch eher objektiv berichtet als dass er tatsächlich seine Gefühle direkt beschreibt, bleibt letztlich auch Einiges offen; die familiäre Symbiose mit Nina, die sich letztlich ergibt, habe ich beispielsweise nicht so recht nachvollziehen können, weil es für mich unverständlich blieb, dass Nina (nicht nur) sich so unter die Fittiche der Großmutter Maxims nehmen ließ. Da hätte ich es durchaus auch interessant gefunden, wenn noch einige der Ereignisse aus der Sicht des Großvaters oder eben auch Ninas erzählt worden wären.

Ich habe dieses Buch wirklich gerne gelesen - wobei ich nicht ausschließen wollen würde, dass da auch ein wenig Sensationsgier mitgespielt haben mag; denn so wie mit ihm umgesprungen wurde, hatte ich auch bereits damit gerechnet, dass Maxim noch zum Amokläufer werden konnte. Für mich klang die Geschichte derart unheilvoll, dass mich tatsächlich hauptsächlich interessierte, ob Max noch aus diesem ungesunden Familienkonstrukt ausbrechen können würde.

Bewertung vom 12.05.2019
Schatz, wir werden reich! (vielleicht)
Böss, Gideon;Böss, Christine

Schatz, wir werden reich! (vielleicht)


sehr gut

„Schatz, wir werden reich! (vielleicht)“ ist ein unglaublich unterhaltsames Buch und eine wohltuende Abwechslung in einer Zeit, in der man vor Allem online ständig mit unfassbaren (und in den meisten Fällen wohl auch rein ausgedachten) Erfolgsstories, à la „gestern noch unter der Brücke, heute im Palast“, „gestern noch zu Fuß unterwegs, heute mit dem Ferrari on the road“, „gestern noch insolvent, heute Multimillionär“…, zugespamt wird. „Schatz, wir werden reich! (vielleicht)“ ist dabei definitiv keine Parodie; hier wird sich nicht über die diversen „Schnell reich werden“-Methoden lustiggemacht (nun ja, vielleicht doch ein wenig): dieses Buch ist vielmehr eine Art TÜV, eine Dokumentation der jeweiligen Tauglichkeitstests. Christine und Gideon Böss haben jede denkbare Methode zur (angeblichen) Vermögenssteigerung versucht – und häufig auch schnell wieder verworfen.

Die Umschreibungen und Beschreibungen des betriebenen Aufwands sind dabei absolut unbeschönigt und einfach amüsant zu lesen – und Vieles wirkt auch einfach schräg, wie z.B. die „Power-Days“ (ein typisches Motivationsseminar, das vor Allem dessen Leitern ordentlich Kohle in die Kasse spült) oder auch nur die Analyse der Ratgeberliteratur, wenn dabei dann festgestellt wird, dass Donald Trump in jenem Buch noch erklärt, wieso er sich gegen eine Präsidentschaftskandidatur entschieden hat.
Die verschiedenen Methoden werden zwar von Gideon und Christine als „Gemeinschaftsprojekt“ in Angriff genommen; hauptsächlicher Autor des Buchs ist aber er und dabei zeichnen sich die Ausführungen teils durch einen sehr trockenen Humor aus, in denen sowohl er selbst als auch seine Frau durchaus mal auf die Schippe genommen werden. Das Ganze ist also auch reichlich selbstironisch – und wirkte auf mich wahrscheinlich auch genau deshalb absolut sympathisch.

Zum Ende hin fand ich das Buch allerdings minimal lahmer, denn ob es da nun um Kredite, Mikrokredite, ETFs oder Anleihen ging: Das fiel für mich gemeinhin alles unter „Bankenkram“ und irgendwie wiederholte sich für mich da sehr viel. Ich fand’s zwar interessant, dass jeweils mal ganz verständlich aufgedröselt wurde, was nun eigentlich was genau bedeutet/beinhaltet, aber es kam eigentlich halt auch immer ein Berater drin vor, der mahnte, man solle sich daheim nochmals ganz genau mit den Unterlagen beschäftigen und dann, weil Fairness, Abschlüsse nicht über eine Direktbank, sondern bei seinem Institut, tätigen. Das war halt in diesen Fällen ständig gleich: Alleine, oder eben zu Zweit, blickte man als Laie nicht durch und zog deswegen los, sich aufklären zu lassen – und geendet sind gefühlt all jene Kapitel mit der „aber machen Sie’s dann nicht über eine Direktbank!“-Bitte.

Da fand ich die Umschreibungen der Besuche der Pferderennbahn oder des Casinos, die Darstellung der „Power Days“ oder auch den physischen (und enttäuschenden) Abstecher auf „das“ berühmte Börsenparkett viel interessanter, weil eben auch „unterschiedlicher“. Diese direkten persönlichen Erlebnisse; „wir probieren das jetzt aus“/“wir gehen da mal einfach hin“; haben mir allgemein einfach eher zugesagt als die „wir bei der Beratung“-Kapitel. Von Ersteren hätte ich definitiv auch gerne noch mehr gelesen!
Insgesamt aber definitiv eine Lektüre über das (Vielleicht) reich werden“, die zu lesen mir viel Spaß gemacht hat!