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Benutzername: 
luisa_loves_literature
Wohnort: 
NRW

Bewertungen

Insgesamt 114 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2020
Und die Welt war jung / Drei-Städte-Saga Bd.1
Korn, Carmen

Und die Welt war jung / Drei-Städte-Saga Bd.1


gut

Wer Carmen Korns Jahrhundert-Trilogie bereits kennt, dem kommt in diesem Band einiges schon fast unheimlich vertraut vor – Und die Welt war jung zu lesen, ist fast wie nach Hause kommen – das hat sein Gutes, aber leider auch ein paar Schattenseiten. Der Aufbau des Romans ist identisch mit dem der drei Bände rund um die Hebammen in der Finkenau. Wir begleiten die Familien an ihren Heimatorten durch die Jahre, schlaglichtartig wird der Blick des Lesers auf einzelne Tage innerhalb des Jahresverlaufs gerichtet, an denen sich an den drei Orten die Handlung entwickelt. Diese wohlbekannte Art des Handlungsaufbaus führt trotz ihres fragmentarischen Charakters nicht dazu, dass der Leser den Eindruck hat, wichtige Teile des Geschehens zu verpassen. Gewählt wird dieser „Highlight-Stil“ von Carmen Korn wohl, weil es so möglich scheint, Längen im Erzählten zu vermeiden, leider gelingt dies, besonders im Hamburger Strang, der sich schier endlos um das Thema der von Schuldgefühlen geplagten Schwiegermutter zu drehen scheint, nur bedingt.

Die Figurenzeichnung erscheint – ebenfalls wie bei der Jahrhundert-Trilogie – recht alltäglich. Es entsteht zumindest auf den ersten Blick der Eindruck es mit authentischen, lebenden Personen zu tun zu haben, allerdings sind die Figuren zumeist auch alle recht einfach konzipiert und eine etwaige Tiefe entsteht hauptsächlich aus einem traumatischen Kriegs- oder Lebensereignis, an dem sich auch mit teilweise großer Beharrlichkeit festgehalten wird. Der Figurenkosmos, den der Roman aufspannt, ist dabei sehr umfassend. Obwohl ich den Roman fast in einem Rutsch durchgelesen habe, musste ich mir immer wieder bewusst klar machen, was zu Hamburg, was zu Köln gehört. Größere Lesepausen sollte man sich hier eher nicht gönnen. Außerdem gibt es in der Figurenkonstellation und -anlage zwei Punkte mit denen ich hadere: zum einen störte mich massiv, wie sich alles so wunderbar am Ende zusammenfügte – ich bin durchaus eine Verfechterin von glücklichen Schicksalen, aber hier war es mir einfach zu viel und zu überraschungsarm. Ich las ab einem gewissen Punkt nur noch, um meine Vermutungen bestätigt zu bekommen. Zum anderen erschien mir die Figurenanlage etwas eindimensional. Der Roman behandelt die Nachkriegszeit in Deutschland und Italien, seine Figuren sind aber ausschließlich Opfer der NS-Zeit und des Krieges: traumatisiert, ausgebombt, um die vergangene Zeit, die psychische und physische Gesundheit betrogen. Von den Tätern ist fast kaum eine Spur zu finden. Eine Personalisierung des verbrecherischen Regimes auf der Ebene der Hauptfiguren erfolgt nicht. Diese Entpersonalisierung kann eine bewusste Wahl der Autorin sein, um die Entmenschlichung der Diktatur zu unterstreichen, erscheint aber möglicherweise etwas zu unrealistisch und simplifizierend im Kontext eines Romans, der das Nachkriegsdeutschland beschreibt.

Insgesamt ist der Roman eine unterhaltsame Lesereise in die Nachkriegszeit, auf die ich mich sehr gefreut habe und die mir schöne Lesestunden beschert hat. Der Text baut solide auf dem bewährten Muster auf. Da liegt allerdings auch die Krux des Buches – für meinen Geschmack ist etwas zu bewährt und eingefahren. Viele Versatzstücke und Handlungselemente sind schon bekannt und erscheinen so wie eine Variation. Wenn die neue Trilogie nur das Universum der Jahrhundert-Bände erweitern soll, dann ist der Roman sehr gut gelungen, wenn es aber um eine Weiterentwicklung und Erneuerung geht, dann ist „Und die Welt war jung“ zu vorhersehbar und etwas betulich ausgefallen.

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Bewertung vom 01.10.2020
Achtung, Übernachtung!
Städing, Sabine

Achtung, Übernachtung!


sehr gut

Hühnchen und Mats gehen in die 3. Klasse und sind allerbeste Freunde. Als ihre Eltern zu einem Kostümfest eingeladen werden, möchten sie unbedingt mit von der Partie sein und setzten alles daran, sich unbemerkt einzuschleichen. Doch dann werden sie Zeuge eines Kriminalfalls.

Achtung, Übernachtung! ist ein gelungenes Hörbuch für Kinder. Die Geschichte ist sehr authentisch und lebensnah an die Welt von Achtjährigen angepasst – so spielen Walkie Talkies und die Play Station eine wichtige Rolle im Alltag. Mats und Hühnchen fühlen sich schon recht groß, haben aber noch sehr viel Unfug vor und suchen nach einem Abenteuer. Als Figuren laden sie Kinder zur Identifikation ein – jeder wurde schon einmal in der Schule geärgert und die Kommunikation via Walkie Talkie ist für alle Kinder reizvoll. Die Handlung an sich weist ein paar harmlose Spannungsmomente auf, die für einige Achtjährige sicherlich zu wenig sind. Richtig aufregend wird es eigentlich nie, da hätte es ruhig ein wenig mehr Grusel sein können. Lustige Stellen gab es zwar auch einige, aber auch hier entstand der Eindruck, dass die Geschichte ihr Potenzial nicht ganz entfaltete. Schmunzeln konnte man, laut lachen eher nicht.

Der Sprecher des Hörbuchs ist großartig. Er liest unglaublich abwechslungsreich und sehr lebendig. Jede Figur ist eindeutig zu erkennen – manchmal wird die Lesung fast zum Hörspiel.

Insgesamt ist Achtung, Übernachtung! ein inhaltlich gefälliges Hörbuch, dass gekonnt die Lebenswelt von Drittklässlern aufnimmt, dessen Spannung jedoch hinter den Erwartungen zurückblieb. Dies wird zwar durch die exzellente Sprecherleistung sehr gut aufgefangen, aber ein bisschen mehr Pfiff wäre doch wünschenswert gewesen.

Bewertung vom 25.09.2020
Die Optimisten
Makkai, Rebecca

Die Optimisten


sehr gut

In Die Optimisten verarbeitet Rebecca Makkai auf mitreißende, packende und emotional tief berührende Weise und auf zwei Zeitebenen (Chicago 1985 bis frühe 90er und Paris 2015) Ereignisse rund um die erste Aids-Welle.

Ich habe sehr lang für diesen Roman gebraucht, was weder meinem üblicherweise rasanten Lesetempo geschuldet ist, noch der Tatsache, dass dieses Buch mich nicht angesprochen hätte. Im Gegenteil: ich konnte Die Optimisten nicht schnell lesen, weil es sich hier um einen wirklich tollen, gut gemachten Roman handelt, der den Leser allerdings auch oftmals so stark erschüttert und angreift, dass man die Lektüre unterbrechen muss.

Die Autorin versteht es ganz hervorragend, die Unsicherheit, das Unwissen, die Angst und das mit einer Aids-Diagnose verbundene Bewusstsein des herannahenden Todes zu transportieren, ohne dabei zu unnötigen Schaueffekten oder übertriebener Dramatik zu greifen. Die Optimisten ist vielmehr ein sehr ruhiger Roman, der zu fesseln versteht, indem er die Furcht und Verzweiflung der ersten Aids-Jahre anhand des äußerst sympathisch gezeichneten, intellektuellen und mitfühlenden Yale personalisiert, den der Leser auf seinem Weg begleitet. Dabei geht es mitnichten nur um die Krankheit, sondern auch um Liebe, Freundschaft, Gemeinschaft, Familie und vor allem Kunst und die Bedeutung von Erinnerung und Vergangenheit. Makkai lässt sich viel Zeit, ein Bild der Zeit heraufzubeschwören, Freundeskreise auszuloten, aber auch die Realität der homosexuellen Community und den noch ungewohnten Alltag auf den Aids-Stationen darzustellen. Durch das gemäßigte Erzähltempo wird auch der Leser Teil dieser Welt und „freundet“ sich sozusagen mit Yale an, leidet und bangt mit ihm. Der Chicago-Teil weist trotz seines Umfangs nicht allzu viele Längen auf und ist in seiner Darstellung der Hilflosigkeit angesichts des Virus regelrecht – in einem positiven Sinne - schmerzhaft. Ebenso beeindruckend ist die Einsamkeit, die Isoliertheit der als Outsider betrachteten gay community, die hier anhand von Yale fast greifbar gemacht wird.
Der Paris-Teil hat mich nicht ganz so begeistert, was sicherlich daran liegt, das Fiona, eine Freundin von Yale, als Figur für den Leser schwieriger zu begreifen ist. Dennoch hat dieser Teil für den Romanaufbau seine wesentliche Funktion – auch wenn er sicherlich etwas kürzer hätte sein können - und verfügt durch Fionas Suche nach ihrer Tochter Claire über einen eigenen Spannungsbogen.

Die Optimisten ist ein besonderer und gelungener Roman, der mich wegen seiner Geschichte, seines großartig ausgestalteten Protagonisten und seines Erzählstil zutiefst bewegt hat.

Bewertung vom 22.09.2020
Was Nina wusste
Grossman, David

Was Nina wusste


weniger gut

Vera, Nina und Gili - Großmutter, Mutter und Enkelin - kommen nicht miteinander klar. Schuld daran ist jeweils natürlich die Mutter. Dazu gibt es noch Einblicke in ein Lager des Tito-Regimes, eine Alzheimer-Diagnose und eine Reise durch das ehemalige Jugoslawien.

Dieser Roman ist für mich hauptsächlich überflüssig. Auch wenn mir einige Passagen zwischendurch gefallen haben, ist das wesentliche Gefühl, das bleibt, Langeweile. Der Roman hinterlässt den Eindruck, dass hier einem Problem, das längst aufgearbeitet sein sollte, überproportionale Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass für mich der Handlungsaufbau nicht stimmt, das Erzähltempo korreliert nicht mit der Aussage, die der Roman eigentlich tätigen will. So bereiten wir uns gefühlte 345 Seiten darauf vor, was Nina wusste, wie ihr Trauma entstand, etc. und werden dann mit ein paar Winzigkeiten abgespeist, die das ganze Drama nicht sonderlich nachvollziehbar machen, sondern zumindest bei mir ein Schulterzucken und "who cares" hervorrufen. Wie man aufgrund dessen, was passiert ist, auch nach über sechzig Jahren so traumatisiert und wenig verzeihend sein kann, sich so konsequent auf die verbockte, schmollende Position zurückziehen kann, wie Nina, ist kaum verständlich und sehr anstrengend und nur mit mangelndem Erwachsenwerden zu erklären.

Aber nicht nur Nina ist so eine anstrengende Figur, auch ihre Tochter Gili (mittlerweile fast vierzig), gefällt sich am besten in der Rolle des die Mutter ablehnenden Teenagers. Sie ist dazu noch die Erzählinstanz, wird aber vom Autor kaum mit spannenden Eigenschaften ausgestattet und tritt in der erzählerischen Vermittlung auch oft sehr weit in den Hintergrund, manchmal muss man sich fast bewusst daran erinnern, dass es sie noch gibt.

Die Handlung selbst, die um einen Roadtrip durch Veras Vergangenheit kreist, ist eigentlich nur der Aufhänger, um die drei Frauen aufeinander loszulassen, und die Verletzungen und Mutter-Tochter-Geflechte in den Mittelpunkt zu stellen. Merkwürdigerweise sollte der Leser spätestens jetzt doch so etwas wie emotionale Nähe spüren, eine Betroffenheit in sich erkennen. Mir ist das selbst bei den Szenen auf der Lagerinsel nicht gelungen, wohl deshalb, weil Großmutter Vera fast fröhlich und energiegeladen wie bei einem Klassentreffen durch die alten Baracken streift, während Nina nun noch einmal endlich abschließend und umfassend der überzogenen Dramatik huldigt.

Stilistisch hat mir der Roman leider auch nicht gefallen. Zum einen werden auf der Ebene der Erzählinstanz umgangssprachliche Orthographie und Formulierungen verwendet. Das ist in Ordnung und sinnvoll, wenn es konsequent durchgehalten wird - hier wird es sporadisch genutzt und wirkt deshalb störend. Vera hingegen spricht mit Akzent. Um dies zu betonen, wird bei ihrer direkten Rede fehlerhafte Grammatik verwendet. Das ist am Anfang noch amüsant, nach einigen Seiten aber nur noch enervierend. Dazu wird Vera auf diese Weise "entmündigt". Der Leser hat Schwierigkeiten, sie weiter ernst zu nehmen.

Ich kann diesen Roman leider nicht empfehlen: Drei unsympathische Frauenfiguren, die sich daran machen, ein Problem zu lösen, dass nach sechzig bzw. fünfunddreißig Jahren keins mehr sein sollte, sich verhalten wie schmollende Teenager und sich selbst unglaublich wichtig nehmen, finden sich in einer eher langweiligen Handlung wieder, die politischen Anspruch zu vermitteln versucht (allerdings weiß ich nach der Lektüre eigentlich immer noch nichts über die Tito-Ära), dabei aber leider sehr anstrengend geschrieben ist.

Bewertung vom 22.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


gut

Kalmann ist ein sehr liebenswerter, in seinen intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkter, Isländer, der im kleinen, einsamen Raufarhöfn seinen Lebensunterhalt mit Gammelhai verdient. Als ein wohlhabender Bürger seines Ortes verschwindet, gerät Kalmann mitten hinein in den Strudel der Ereignisse.

Ich liebe idiosynkratische, eigenartige und unzuverlässige Erzähler, und deshalb liebe ich auch Kalmanns Figur. Er ist in seinen Kommentaren und seiner Bewertung der Welt einfach herrlich authentisch und belebend. Es macht Freude der Langsamkeit seiner Gedanken und Überlegungen, seinen intuitiven Wahrnehmungen und seinen Gefühlen zu folgen und darüber nachzudenken, was seine Auslassungen und sein Schweigen zu gewissen Fragen zu bedeuten haben. Dem Autor ist es durchgängig gelungen, Kalmanns Stimme einzufangen. Da knirscht nichts, es wird nie vergessen, wer hier eigentlich spricht und wie er die die Welt sieht. Allerdings schöpft dieser Roman, trotz des andeutungsschwangeren letzten Kapitels, die Möglichkeiten, die ein unzuverlässiger Erzähler bietet nicht vollends aus - und das ist sehr schade, denn so bleibt der Roman hinter seinem eigentlichen Potenzial zurück und der (oder mehrere) finale Plot-Twists bleiben aus.

Die Handlung ist eigentlich gut angelegt, wird aber ebenfalls nicht konsequent zu Ende geführt. Die red herrings lösen sich zu schnell in Wohlgefallen auf, das Ganze könnte verstrickter, vertrackter, komplexer sein - für meinen Geschmack ist es einfach etwas zu gemächlich, zu beschaulich. Dazu: ein Krimi ist für mich gerade kein Genre für lose Enden, Mysteriöses darf zwar auch mal ruhig in der Luft hängen bleiben, aber dem Leser sollten zumindest Hinweise zum eigenständigen Schließen der Lücken an die Hand gegeben werden. Darüber hinaus empfinde ich die Eisbären-Handlung als befremdlich - aber das ist mein persönlicher Geschmack. Sie ist so angelegt, dass sie in der heutigen Zeit trotz ihres fiktionalen Charakters, eher unschön und unpassend ist.

Was mich absolut bezaubert hat, ist hingegen das wunderbare isländische Setting. Der Autor weiß, wovon er spricht und bannt diese großartige Insel mit ihren Besonderheiten vollkommen lebensecht auf die Seiten. Man spürt die raue Natur und Einsamkeit, die Abgeschiedenheit und Einfachheit des Lebens, aber auch die Bedrohung durch den Bevölkerungsschwund.

Kalmann ist ein Roman für Island-Liebhaber mit einem Herz für besondere Erzähler, für die die Krimihandlung nicht an erster Stelle steht.

Bewertung vom 18.09.2020
Die Frauen von Gut Falkensee / Gut Falkensee Bd.1
Kamecke, Luisa von

Die Frauen von Gut Falkensee / Gut Falkensee Bd.1


gut

Das Gut Falkensee in Westpreußen ist der Schauplatz dieses fesselnden Schmökers, der uns in eine fast schon vergessene Welt entführt. Im Mittelpunkt der Geschichte, die ihren Ausgangspunkt im Jahr 1904 nimmt, steht Charlotte, eine recht modern denkend junge Frau, die gern unabhängig und selbstbestimmt wäre, aber recht schnell erkennen muss, dass Wünsche und Pflichten sich selten vereinbaren lassen.

Die Frauen von Gut Falkensee ist eine groß angelegte, unterhaltsame und spannende, sehr lesbare und ansprechende Familiensaga für Liebhaber historischer Romane – ein Downton Abbey auf Papier. Er ist durch zahlreiche Perspektivenwechsel und viele Handlungsstränge äußerst abwechslungsreich zu lesen und entwirft durch die vielen beteiligten Figuren quasi ein Panorama der damaligen Gutshauswelt mit ihrem „Oben“ und „Unten“. Sehr positiv ist dabei, dass die Autorin sich nicht nur ausschließlich auf die feine Welt der Herrschaften konzentriert, sondern auch oftmals einen Blick in die Leutestube der Dienstboten wirft. Sicherlich wird hier das innige Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienerschaft für den modernen Lesegeschmack auch beschönigt, aber es handelt sich ja auch um einen Unterhaltungsroman.

So lebendig der Roman durch seine Perspektivenwechsel und Zeitsprünge auch ist, liegt hier doch gleichzeitig auch ein wenig die Crux des Ganzen: die recht rasche Abfolge der Ereignisse und der Blick vom Standpunkt der verschiedenen Figuren führen dazu, dass es häufig etwas an emotionaler Durchschlagkraft fehlt. Der Roman wird so sehr stark von der Handlungsebene getrieben, dass die Figurenzeichnung dadurch leider etwas zu kurz kommt. Durch den Handlungsfokus entsteht außerdem der Eindruck, dass einige Ereignisse „untererzählt“ werden – viele wesentliche Themen werden nicht ausformuliert oder passieren, wie man im Theater sagen würde, „off stage“. Sie werden dann im folgenden Kapitel als Verweis auf Vergangenes erwähnt und verpuffen so. Stattdessen sieht sich der Leser vielen einzelnen Schlaglichtern gegenüber. Das ist schade, denn tatsächlich ist dies ein Roman, bei dem so viel passiert, dass ich mir gewünscht hätte, er wäre doppelt so lang – denn dann hätte er die Üppigkeit und das im positive Sinne Ausufernde gehabt, nach der eine solche historische Familiensaga verlangt.

Die Frauen von Gut Falkensee hat alle Anlagen für einen wunderbaren historischen Schmöker, agiert dann aber stellenweise zu hastig. Dennoch habe ich mich sehr mit Charlotte angefreundet, sodass ich gespannt auf den zweiten Teil warte.

Bewertung vom 18.09.2020
Zugvögel
McConaghy, Charlotte

Zugvögel


ausgezeichnet

Frannys Vergangenheit hat sie zu einer schwierigen, komplexen und traumatisierten Persönlichkeit heranwachsen lassen, die sich in der nahen Zukunft auf eine Schiffsreise begibt, um den verbliebenen Küstenseeschwalben, den letzten ihrer Art, nachzujagen. Diese Schiffspassage ist für Franny ein Übergangsritus – so wie man es aus der Literatur hinlänglich kennt – denn sie stellt sich ihren Dämonen, ergründet ihre eigene Geschichte, wirft Ballast ab und findet eine neue Familie.

Zugvögel ist ein außergewöhnlicher, besonderer, aktueller, intensiver und bestechender Roman. Zwar gibt es auch schwächere (vielleicht auch für den Leser unangenehmere) Etappen in diesem Buch, aber insgesamt macht dieser Roman sehr, sehr viel so richtig, dass es zeitweise fast schwindelerregend ist.

Die Handlung ist in Grundzügen die der klassischen „rites of passage“, des Übergangs zwischen zwei Lebensabschnitten, der durch die Schiffspassage repräsentiert wird und Franny verändert und reifen lässt. Dabei bekommt diese Reise retrospektiv schon fast einen biblischen Charakter, deutliche Assoziationen mit einer umgekehrten Schöpfungsgeschichte oder der Arche Noah sind kaum auszublenden. Und genau das ist es, was diesen Roman dann auch groß macht: er ist keinesfalls Unterhaltungsliteratur, page turner oder annehmbare „Fridays for Future“-Variation, sondern zeigt auf allen Ebenen deutliche literarische Ambitionen, die man in den mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten spüren kann. Dieser Anspruch macht sich auch im Gattungsmix bemerkbar, denn der Roman vereinigt Krimihandlung, Liebesgeschichte, Coming-of-Age-Elemente und vor allem ökologische Gedanken, die ein Lesen des Textes vom Ansatz des Ecocriticism aus unabdingbar machen. Auch wenn die ökologische Kritik den Roman wie ein roter Faden durchzieht, so verzichtet er doch darauf, allzu plump oder mit erhobenem Zeigefinger Missstände hervorzuheben, vielmehr schwebt auf subtile Weise ein melancholischer Klang über allem, was erzählt wird.

Die verschiedenen Genres, die der Roman vereint, werden durch die geschickte Handlungsstruktur gekonnt kombiniert. So erfährt der Leser in zahlreichen Rückblenden, die nicht chronologisch erfolgen, sondern von einer Zeitebene zur nächsten springen und wieder zurück, viel über die Protagonistin Franny, ihre Vergangenheit und ihr Wesen. Allerdings sind diese Einblicke immer kurze Schlaglichter, sodass alles, was Franny betrifft, sehr mysteriös bleibt und man sich nur sehr langsam dem Kern der Geschichte annähert. Verwirrend ist der Roman dennoch nicht, da er von der Schiffsreise zusammengehalten wird und die einzelnen Erinnerungsteile klar als solche markiert werden.

Franny ist dabei zwar der Orientierungs-, aber sicher nicht der Ordnungspunkt. Zu eigenwillig, beladen und nebulös ist sie als Protagonistin und unzuverlässige Erzählerin. Als Figur ist sie jedoch ausgezeichnet konzipiert. Sie ist widersprüchlich und schwierig, unverständlich und durchaus auch unsympathisch, aber gerade deswegen äußerst spannend. Dies gilt auch für ihre „neue“ Familie, die Crew der Saghani, in deren Mitte sie eine Art Heimat findet.

Heimat findet auch der Leser in diesem sprachlich sehr anrührenden, bewegenden und stilistisch konsequenten Roman, der sicherlich auch von seiner herausragenden deutschen Übersetzung profitiert. Der Text ist zeitweise distanziert, fast emotionslos und holt einen dann wieder mit seiner Sprachgewalt, seinem Vermögen, die Kraft des Meeres, des Windes, der Wellen, die Schönheit Irlands und die Einsamkeit der Welt aufs Papier zu bannen, wieder ein. Das ist absolut begeisternd.
Bis auf einen kleinen Makel, der für mich an einer Stelle in einer etwas unausgereiften Handlungskonstruktion im letzten Teil deutlich wird, ist Zugvögel für mich sicher einer der Top-Romane 2020. Er ist einfach besonders, wichtig, packend, ruhelos und poetisch.

Bewertung vom 15.09.2020
Der falsche Preuße / Offizier Gryszinski Bd.1
Seeburg, Uta

Der falsche Preuße / Offizier Gryszinski Bd.1


ausgezeichnet

Das war ein Roman, der mir so richtig Spaß gemacht hat, weil hier einfach alles so richtig gut passt. Der Kriminalfall ist wunderbar verzwickt, mit verschiedenen Strängen, Ermittlungsrichtungen, red herrings und möglichen Motiven und lädt so richtig schön zum Miträtseln ein. Die Ermittlungen laufen auch durchaus mal ins Leere, aber an keiner Stelle entsteht der Eindruck einer überflüssigen Szene – im Gegenteil, jeder Schritt ist eine Mosaikstein zu der absolut schlüssigen und sinnvollen Auflösung am Ende, die überzeugt, gerade weil sie völlig ohne wilde Konstruktionen oder Exkurse in am Rande erwähnte Szenarien auskommt, und darüber hinaus schließlich sogar ein Ende im Stil von Arthur Conan Doyle präsentiert.

Der Roman überzeugt aber nicht nur auf der Handlungsebene, die Figuren sind ebenfalls sehr gut konzipiert. Gryszinski selbst liegt irgendwo zwischen Sherlock Holmes und Watson, er ist durchaus gewitzt und verfügt über ein scharfe Wahrnehmungsgabe, aber es gibt auch immer wieder Situationen, in denen er mit dem Leser auf Augenhöhe ist und sich von dem Fall überfordert fühlt. Es ist wunderbar, eine solche freundliche, gemütliche und dem Essen zugetane Ermittlerfigur durch die Handlung begleiten zu dürfen. Gryszinskis kulinarische Vorlieben sorgen für sehr viel München-Flair und vermenschlichen diesen Protagonisten auf eine sehr angenehme Art. Meine liebste Figur ist jedoch Gryszinskis Gattin Sophie, mit deren Lesebegeisterung ich mich sehr gut identifizieren konnte und deren weitreichende Literaturkenntnisse den Roman um viele treffende Verweise bereichern. Die Romanfiguren sind insgesamt zwar in Grundzügen alle von der Art, wie man sie in einem Krimi alter Schule anzutreffen erwartet, aber die Typen sind hier sehr liebevoll und mit eher ungewöhnlichen Charakteristika ausgestattet, was neben dem großen Wiedererkennungswert im Verlauf der Handlung auch einen sehr hohen Unterhaltungseffekt hat.

Dazu wartet der Roman als historischer Krimi noch mit allerlei sehr gut recherchiertem Kontext auf und bietet spannende Einblicke in Deutschlands Kolonialzeit. Besonders gut – und dazu noch recht neutral - aber ist der culture clash zwischen Bayern und Preußen herausgearbeitet, die Zerrissenheit Gryszinskis zwischen alter und neuer Heimat.

Zu dem großen Lesevergnügen trägt natürlich auch wesentlich der flüssige, aber anspruchsvolle und sehr geschliffene Schreibstil bei. Man merkt sehr rasch: hier schreibt jemand, der es kann. Syntax und Wortwahl sind keinesfalls einfach, aber unglaublich unterhaltend und vor allem absolut stimmig für eine Roman der Ende des 19. Jahrhunderts spielt. Der falsche Preuße atmet sozusagen 1894 und das fin-de-siècle und erweckt die Zeit auf allen Ebenen zum Leben.

Uta Seeburgs Roman ist ein famoser, sehr lesenswerter, äußerst unterhaltsamer und vortrefflich geschriebener Kriminalroman, der durch zahlreiche amüsante Details, verschrobene Figuren, viel Kontextwissen und Flair zu glänzen versteht. Dazu verfügt er noch über eines der dekorativsten Cover unter den derzeitigen Neuerscheinungen. Chapeau!

Bewertung vom 09.09.2020
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Ferrante, Elena

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen


gut

Mag ich Giovanna? Das ist die Frage, die mich beschäftigt. Und die Antwort darauf lautet: Nein. Ein klares, kategorisches Nein. Es gibt nichts, was mir an ihr gefällt – so wie ihr selbst eigentlich auch nichts an ihr gefällt. Kann ich Giovanna verstehen? Ja, sehr häufig sogar.

Der Name Elena Ferrante war mir zwar geläufig, gelesen hatte ich aber bisher keinen ihrer Romane, daher habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten, stehe außerhalb des #FerranteForever-Hypes und konnte mich sehr unvoreingenommen daran machen, ihre Protagonistin Giovanna auf dem steinigen Weg durch das Alter von 13-16 zu begleiten. Was Ferrante hier gelungen ist, verdient Hochachtung, denn sie versteht es aufs Überzeugendste, die Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, Ausgeschlossenheit, Neugier, Erkenntnis, Eigenständigkeit und Hilflosigkeit des Heranwachsens einzufangen. Die Verwirrungen der Teenagerzeit, das Desinteresse am Leben, die Enttäuschung gegenüber den Eltern, all dies wird von der Autorin gnadenlos, atemlos und tabulos durch eine ungeschönte Innensicht auf ihre Protagonistin geschildert. Der Leser ist unglaublich nah an Giovanna dran, die sich selbst nur selten schont, auch wenn sie sich selbst nicht immer versteht. Diese sehr authentische Darstellung der Introspektion einer Heranwachsenden ist allerdings nicht der Glanzpunkt des Romans, es ist vielmehr die graduelle Weiterentwicklung der Protagonistin durch diese Einblicke in ihr eigenes Ich. So sieht man sich als Leser am Ende des Roman fast staunend einer erwachseneren Giovanna gegenüber, aber weiß kaum mehr, wie sich diese Reifung eingeschlichen hat – nur, dass sie eben allmählich passiert ist. Giovannas Konzeption und ihre Darstellung sind rundum gelungen. Selten gibt es so realistische, authentische, verstörte und dabei nachvollziehbare Romanfiguren wie sie.

Sprachlich (und auch inhaltlich) gleitet der Roman in dem Wunsch, die unterschiedlichen sozialen Hintergründe überzeugend darzustellen, ab und an ins Vulgäre ab. Derbe Sprache und Handlungsteile sind nicht mein Fall, aber in diesen Roman sind diese Aspekte sinnvoll in die Erzählung integriert und notwendig, um die Frage nach Herkunft und Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die beiden Einflussgrößen, die von Giovannas Heranwachsen prägen, werden durch ihre Tante Vittoria und ihren Vater bzw. den Studenten Roberto repräsentiert. Diese Nebenfiguren polarisieren in gewisser Weise, vor allem, weil sie im Gegensatz zu Giovanna und dadurch, dass die Wahrnehmung dieser Figuren ausschließlich durch Giovannas Ich-Perspektive gefiltert wird, zu simpel, zu einfach sind, wie im Übrigen alle Nebenfiguren des Romans. Giovanna schreibt jeder Figur nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten und Charakteristika zu, sie hinterfragt diese nur sehr begrenzt und ist auch nicht an ihren Motiven interessiert. So tritt durch die wenig komplexe Nebenfigurendarstellung die grenzenlose Ich-Bezogenheit der Heranwachsenden auch erzählerisch zutage – und wird so zu einem kleinen Meisterstück.

Der Roman hat mich unterhalten, interessiert, einen Lesesog entfaltet, aber hat mich auch manchmal abgestoßen. Am Ende stelle ich fest: ich habe das lügenhafte Leben aufgesogen, aber „schön“ in der reinsten Form des Wortes war es nicht. Ich mag den Roman nicht einmal besonders, aber gut ist er.