Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Lesendes Federvieh
Wohnort: 
München
Über mich: 
Hinter dem Namen Lesendes Federvieh verbirgt sich das Blogger-Duo kathiduck und Zwerghuhn. Wir lesen querbeet alles, was uns zwischen die Finger kommt und veröffentlichen die Rezensionen dazu auf unserem Blog (lesendes-federvieh.de). Dort gibt es übrigens noch viele weitere Beiträge rund ums Thema Buch. :)

Bewertungen

Insgesamt 539 Bewertungen
Bewertung vom 21.11.2021
Ist es nicht schön hier
Chen, Te-Ping

Ist es nicht schön hier


ausgezeichnet

Mit Kurzgeschichtensammlungen ist es häufig so eine Sache. Einige sind wahnsinnig gut, wohingegen manch andere lediglich als blasse Abziehbilder ihrer schillernden Vorgänger für ein müdes Lächeln sorgen. Doch nicht so Te-Ping Chens „Ist es nicht schön hier“. Ausnahmslos jede ihrer zehn Storys hat mich auf andere Art begeistert, nachdenklich gestimmt oder gar fassungslos den Kopf schütteln lassen.

Te-Pings Charaktere sind facettenreich wie ihre Geschichten selbst. Anfangs begleitet man ein junges Geschwisterpaar, das sich durch die fanatische Züge annehmende Kritik der Schwester an der kommunistischen Regierung zunehmend entfremdet, um kurz darauf in einem Callcenter einem äußerst aufdringlichen Ex-Lover mit Abscheu zu lauschen und den linientreuen Bauer anzufeuern, welcher auf seine alten Tage seinen Erfindergeist entdeckt hat. Geradezu dystopisch angehaucht ist hingegen „Gubeikou gibt nicht auf“, welche mir in ihrer realistischen Absurdität noch lange im Kopf herumgeisterte.

Mit nur wenigen Pinselstrichen gelingt es Te-Ping Chen ihren Protagonisten Leben einzuhauchen, sodass mich jedes Mal ein Anflug von Wehmut erfasst hat, wenn ich Lulu, Cao Cao und Co in ihren Leben zwischen den Zeilen zurücklassen musste. Gleichzeitig steckt diese großartige Sammlung an Storys, die mit Individualität, Antithetik und ganz eigener Strahlkraft beeindrucken, voller Liebe für das Land und die Leute vermengt mit einer gehörigen Portion Gesellschaftskritik.

In „Ist es nicht schön hier“ wandert man als Besucher zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten und Lebenssituationen umher, bereist gar unterschiedliche Länder, stülpt sich unterschiedliche Emotionen und Gedanken über und erhascht einen eindringlichen, gesellschaftskritischen wie liebevollen Einblick auf das Chinesischsein zwischen Tradition und Hypermoderne.

Bewertung vom 16.11.2021
Das Inselweihnachtswunder
Mommsen, Janne

Das Inselweihnachtswunder


sehr gut

Eines kann ich vorweg schon einmal ausplaudern: Nach dem Lesen dieser modernen weihnachtlichen Geschichte, die Wärme, Humor und vorweihnachtlicher Gemütlichkeit versprüht, bin ich perfekt auf die Adventszeit eingestimmt. Ich wollte schon immer wissen, wie die winterliche Stimmung auf einer Nordseeinsel bzw. auf einer Hallig denn so ist: Liegt Schnee oder überwiegen Stürme und Regenschauer? All das hat Janne Mommsen in „Das Inselweihnachtswunder“ fesselnd und in lebendigen Bildern beschrieben. Am liebsten wäre ich sofort Richtung Föhr gestartet, um dort die Adventszeit zu genießen.

Zwischen all den glitzernden Lichtern, dem Plätzchenduft und den Vorbereitungen für den Weihnachtsgottesdienst an Heilig Abend, versucht nun die junge Pastorin Carola all ihre Schäfchen glücklich zu machen und auch ein bisschen eigenes Glück zu finden. Neben einer zarten, verwickelten, romantischen Liebesgeschichte geht es hier auch um Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit, denn die sympathische Inselpastorin hilft auch so manch knorrigem Inselbewohner auf ihre unverwechselbare, zupackende Art auf die Sprünge. Sie ist eine unglaublich sympathische Protagonistin, es ist einfach schön zu erleben, wie sie es schafft, Gutes zu tun. Für mich vermittelt sie das schöne Gefühl von heiler Welt, obwohl ihr auch nicht alles auf Anhieb gelingt.

Fluffig und locker geschrieben, bin ich voll und ganz in diese besinnliche, warmherzige und spannende Geschichte eingetaucht. Und zwar so gut, dass sich bei jeder umgeblätterten Seite eine immer größer werdende Vorfreude auf die Adventszeit und die Weihnachtsvorbereitungen eingeschlichen hat. Nach der letzten Seite hätte ich am liebsten schon die Weihnachtsdekokiste hervorgeholt.

Bewertung vom 16.11.2021
Niemehrzeit
Dittloff, Christian

Niemehrzeit


ausgezeichnet

Äußerst klug, feinfühlig und mit einem beeindruckenden Gespür für Details verwebt Christian Dittloff ehrlich und berührend Autobiografisches, lässt dabei reflektierende teils in ihrer schlichten analytischen Qualität wahnsinnig beeindruckenden Betrachtungen einfließen und sorgt trotz des traurigen Themas für ein warmes Gefühl der Geborgenheit.

In jeder Zeile steckt unglaublich viel Poesie, denn mit scheinbarer Leichtfüßigkeit gelingt es Christian die Gefühle seines Erzählers, der eine literarisierte Version seiner selbst ist, mittels ganz eigener Metaphern nachvollziehbar in Worte zu fassen. Indem er auch die aufbrausenden Momente, die Phasen der Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit nicht außen vor lässt, entsteht ein intensives, durchweg authentisches Portrait von Trauer in all ihren Facetten. Gleichzeitig zeigt er, dass es okay ist das Chaos an Emotionen zu fühlen und die eigene Stärke in der Verletzlichkeit zu finden.

Es erfordert Mut, die eigenen Gefühle derart offenzulegen, die eigene Geschichte mit der Welt zu teilen und das gleichzeitig in dieser melancholischen, wortgewandten und umarmender Form, wofür Christian meinen vollen Respekt hat. Ohne sich beifallsheischend in den Mittelpunkt zu drängen, erzählt er von den Erinnerungen an seine Eltern mitsamt ihrer Schwächen und nähert sich seiner eigenen Trauerbewältigung rückblickend semantisch wie literarisch an.

Trauer hat kein Ablaufdatum, das definiert ab wann zuvor Alltägliches wieder in „normalen“ Bahnen verläuft. Trauer verläuft in Wellen, überrollt einen manchmal unvorbereitet mit der Intensität eines Tsunamis. Trauer wird nie ganz vergehen, aber irgendwann ein bisschen verblassen und ein Stückchen trägt Christian Dittloffs tieftrauriger, berührender, wundervoll poetischer aber auch Hoffnung spendender Roman „Niemehrzeit“ dazu bei.

Bewertung vom 28.10.2021
Das Jahrhundert der Pandemien
Honigsbaum, Mark

Das Jahrhundert der Pandemien


ausgezeichnet

Obgleich es ein Sachbuch ist, das mit einer Fülle an verblüffenden, lehrreichen wie teils erschreckenden Fakten aufwartet, liest sich „Das Jahrhundert der Pandemien“ alles andere als langweilig und trocken. Vielmehr entwickelt es stellenweise gar den Charakter eines fesselnden Krimis, nur um kurz darauf in faszinierende historische wie medizinische Exkurse über die Pestepidemie oder andere Infektionserkrankungen abzutauchen. Mehrmals musste ich den Lesefluss unterbrechen, um mir spannendes Detailwissen zu notieren, das bald einige Seiten füllte.

Selten habe ich fundiertes Faktenwissen aus vielerlei Disziplinen in solch präzise gefilterter und ansprechend aufbereiteter Form gelesen, das ich häppchenweise über einen längeren Zeitraum genossen habe, um all die erhellenden Einzelheiten förmlich aufzusaugen und den reichlichen Informationsfluss nicht versiegen zu lassen. Insbesondere die Passagen über die Pest, deren Ursprünge in der Stadt der Engel und der Bekämpfung ebenjener Seuche haben meine Aufmerksamkeit gefesselt.

„Das Jahrhundert der Pandemien“ ist eine absolut empfehlenswerte, hervorragend recherchierte Chronik über die globalen Seuchenausbrüche unseres Zeitalters, das sich wie ein spannender Thriller liest.

Bewertung vom 28.10.2021
Die Erfindung des Ungehorsams
Clavadetscher, Martina

Die Erfindung des Ungehorsams


sehr gut

„Die Erfindung des Ungehorsams“ besticht durch eine ausgesprochen interessante Sprache und Erzählform, deren Rhythmus den Leser nach und nach in seinen Bann zieht. Martina Clavadetscher spielt hier so wunderbar locker und leicht mit ihren Sätzen, man kann immer wieder Neues entdecken und das hat mir beim Lesen eine große Freude bereitet.

Auch die Verknüpfung der Lebensgeschichten drei so unterschiedlicher Frauen, die aber trotzdem eines gemeinsam haben, nämlich den Wunsch den Dingen auf den Grund zu gehen, ist wirklich gelungen. Sie beschäftigt sich dabei ebenso mit Beziehungsmustern, wie auch mit Themen wie Selbstverwirklichung und der Rolle der Frau in der Gesellschaft im Gestern mit Ada und heute mit Iris.

Spannend und in kraftvollen Bildern beschrieben, durchleuchtet sie durch Ling vordergründig die Verbindung von Mensch und Maschine bzw. die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz. Ein fesselndes Thema, das mich an so mancher Stelle zu Nachdenken brachte.

Für dieses Buch muss man sich Zeit nehmen, damit es seine Wirkung so richtig entfalten kann. Ist dies einmal geschehen, legt man es nicht mehr aus der Hand. Es ist für mich eine Lektüre, die auf unterhaltsame Weise zeigt, dass Ungehorsam an der richtigen Stelle manchmal gar nicht so falsch ist.

Bewertung vom 28.10.2021
Gestapelte Frauen
Melo, Patricia

Gestapelte Frauen


sehr gut

Lange fehlten mir zu diesem Buch die Worte. Zu stark war die Abscheu vor der willkürlichen launengetriggerten Brutalität gegenüber Frauen. Zu intensiv hallte die sprachliche Dichte nach, die das Leid von Txupira, Elaine, Fernanda und all den anderen Wehrlosen schmerzhaft spürbar werden lässt. Aber vor allem ruft die Achtung vor diesem mutigen Stück Literatur inklusive der damit verbundenen tiefschürfenden Recherche in die Abgründe der Männlichkeit bei mir große Bewunderung begleitet von hemmender Ehrfurcht hervor.

"Wir Frauen sterben wie die Fliegen. (…) Und vor Gericht behaupten alle, wir trügen die Schuld." (S. 76)

Patrícia Melo (großartig übersetzt von Barbara Mesquita) kontrastiert abscheulich bildgewaltige Szenen von Femiziden mit lachhaft lascher Rechtssprechung gegenüber den Tätern, sodass die Abstrusität und Perversion der Gesellschaft nahezu grotesk ins Auge springen. Wie wummernde Paukenschläge verstärken die kurzen, schlagzeilenartig eingestreuten Einzelschicksale den pulsierenden, sprachgewaltigen Kern der Geschichte, die in ihrer ungefilterten Explizität noch sehr lange nachhallen wird.

Obgleich mir die traumwandlerischen Sequenzen ein wenig zu schräg waren, so spiegeln sie doch die Zerstörung des Urwaldes und der Vertreibung der indigenen Völker eindrucksvoll wider – denn der Amazonas ist wie ein Frauenkörper, der ausgelöscht wird.

"Gestapelte Frauen" ist harte Kost und tut schmerzhaft weh, denn es führt einem die eigene Wehr- und Machtlosigkeit gegenüber der willkürlichen männlichen Brutalität vor Augen. Allerdings bedient Patrícia Melo sich dabei keiner voyeuristischen Gewaltklischees, sondern verleiht den tragischen Schicksalen Namen und Stimmen, die von zarter Poesie getragen werden und noch lange nach Beendigung der Lektüre nachklingen.

Bewertung vom 22.10.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


ausgezeichnet

Nachdem ich im letzten Jahr von Benjamin Myers Erstlingswerk „Offene See“ vollkommen begeistert war, war ich nun neugierig auf seinen neuen Roman „Der perfekte Kreis“. Dieses Buch ist komplett anders, bietet aber dennoch eine ebenso wunderschöne, kraftvolle Erzählung, für die man sich Zeit nehmen sollte, um die volle Wirkung genießen zu können. Benjamin Myers zeichnet ein großartiges Porträt zweier ungewöhnlicher Männer, die in ihrem Leben schon einiges erlebt haben: Der eine ist ein Kriegsveteran, der andere ein abgerissen wirkender, rastloser Musiker. Es ist eine absolut lesenswerte, berührende Geschichte über diese beiden so ungleichen Männer, deren Ziel es ist mit ihren Kornkreisen ihren Traum von Freiheit, Schönheit und Mythos zu verwirklichen.

Alles ist so bildgewaltig beschrieben, der Pub, in dem die beiden über ihre Projekte grübeln, die unendlich weite Landschaft, die satten Wiesen, ebenso wie die im Wind raschelnden Getreidefelder. Als Leser ist man sofort mittendrin bei der Entstehung der Kreise zuerst auf dem Papier und daran anschließend bei der nächtlichen Umsetzung im Getreidefeld. Je mehr Kornkreise die beiden Protagonisten erschaffen, desto näher kommt man ihnen auch und erfährt dadurch, immer mehr über ihre Gedanken, Gefühle und ihr Leben. Jeder Satz, jeder Dialog ist dabei so warmherzig, poetisch, humorvoll und treffend formuliert, es macht einfach Spaß immer tiefer in die Geschichte einzutauchen.

Gleichzeitig beschäftigt sich der Autor mit wichtigen Umweltthemen und hinterfragt die Sinnlosigkeit von Kriegen, Fragen wie sie aktueller nicht sein könnten. Da die Geschichte im Jahr 1989 angesiedelt ist, wird überaus deutlich, wie lange schon etwas gegen diese gesellschaftlichen Probleme hätte getan werden können.

„Der perfekte Kreis“ hat mich gerade durch seine entschleunigende Erzählweise so in seinen Bann gezogen. Es ist nicht nur einfach schön zu lesen, sondern bietet auch viel Potential zum Nachdenken. Mir hat es ebenso gut gefallen wie „Offene See“.

Bewertung vom 22.10.2021
Wildtriebe
Mank, Ute

Wildtriebe


ausgezeichnet

Ute Mank hat mit „Wildtriebe“ einen wunderschönen, absolut lesenswerten Familienroman geschrieben, der mich von der ersten Seite an begeisterte. Drei Generationen auf einem Hof, da prallen unvermeidlich unterschiedliche Vorstellungen vom Leben, von Freiheit und auch von der Rolle als Mutter aufeinander. Unglaublich präzise und bildgewaltig beschreibt die Autorin den Alltag auf einem Dorf über eine Zeitspanne von über 20 Jahren.

Man spürt die Enge, das Eingezwängtsein in alte Traditionen und Denkweisen, ebenso die Furcht vor den Klatschtanten, die hinter jeder Ecke lauern konnten. Das Gefühl des „Das macht man doch nicht“ lugt hinter vielen Seiten hervor. Genau vor diesem Hintergrund versucht Marlies ein Stück ihres eigenen Weges zu gehen. Durch Lisbeth und Marlies erlebt man die Auswirkungen dieser Zwänge hautnah, man spürt die innere Zerrissenheit und Unzufriedenheit bei Marlies fast körperlich.

Zugleich sieht man aber auch, wie im Laufe der Zeit die verkrusteten Strukturen aufgeweicht werden und ein Stück Moderne einkehrt. Ich fand es wirklich spannend und schön zu lesen, wie sich gerade Lisbeth durch ihre Enkelin Joanna vorsichtig herantastet und sich traut sich neuen Lebensmodelle gegenüber offen zu zeigen und den starren Dorfkodex zu hinterfragen.

Durch den flotten, angenehmen und mitreißenden Schreibstil fühlte ich mich ganz dicht bei der Familie. Ich konnte die Gedanken, Gefühle und auch das Handeln der drei Bethches Frauen nachvollziehen, so lebendig und authentisch ist ihre Geschichte erzählt. Dieser großartige Debütroman bekommt auf jeden Fall einen Platz bei meinen Lieblingsbüchern 2021.

Bewertung vom 16.10.2021
Wellenflug
Neumann, Constanze

Wellenflug


sehr gut

Mit kräftigen Pinselstrichen zeichnet Constanze Neumann in "Wellenflug" ein deutliches und präzises epochenübergreifendes Portrait deutscher Geschichte, dessen feine Details und Stimmungen sie nachspürbar authentisch einfängt. Dabei wird der unüberwindbare Graben zwischen Arm und Reich insbesondere durch die starke Skizzierung der weiblichen, aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammenden Frauen offenkundig: Anna, die am Boden zerstört ist, als ihr Sohn Heinrich sich in ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen verliebt und Marie, die für diese Liebe und die Akzeptanz der Familie inmitten der schrecklichen politischen Ereignisse kämpft.

Geradezu filmisch in Szene gesetzt findet man sich unversehens in der detailliert recherchierten Vergangenheit wider und ist gleichermaßen Teil der Schiffsreise der beiden Liebenden nach Amerika wie man die damalige Mode, aber auch die ungleichen Lebensbedingungen der Bevölkerung vor Augen geführt bekommt. Trotz der grausamen Hintergründe liest sich diese eindringliche Familiengeschichte absolut kurzweilig und unterhaltsam, da Constanze Neumann mit viel Fingerspitzengefühl erzählt und nachdenklich stimmt. Insbesondere das kleine Kapitel "Gräber" hat noch sehr lange nachgehallt.

Formvollendet wird dieses mitreißende Portrait zweier so unterschiedlicher Frauen durch die ausdrucksstarke Darstellung der agierenden Haupt- wie Nebencharaktere, welche der Handlung mitsamt ihrer authentischen Stärken sowie Schwächen eine ganz besondere Note verleihen.

Bewertung vom 16.10.2021
Der Tod des Vivek Oji
Emezi, Akwaeke

Der Tod des Vivek Oji


ausgezeichnet

Selten hat mich eine Erzählung derart mitgerissen, berührt und aufgrund unserer frustrierend bornierten Gesellschaft stinksauer werden lassen. „Der Tod des Vivek Oji“ wühlt auf, tut schmerzhaft weh und sorgt gleichzeitig für ein brennendes Schamgefühl ob der eigenen wie selbstverständlich gegebenen Privilegien.

Akwaeke Emezi kontrastiert Szenen kindlicher Geborgenheit und Glückseligkeit mit dem grausamen Fund der Leiche des eigenen Kindes geradezu spielerisch leicht, woraus sich eine eindringliche, poetische Geschichte von Zugehörigkeit und Einsamkeit, der Suche nach der eigenen Identität im Kontext gesellschaftlicher und rassenideologischer Zwänge sowie der Bedeutung von Familie entspinnt, die mich geradezu aufgesogen hat.

Neben der eleganten, klugen wie feinfühligen Art zu erzählen beeindruckt diese Erzählung insbesondere mit ihrer pulsierenden Lebendigkeit, welche durch die Ausdrucksstärke und individuelle charakterliche Tiefe ihrer Protagonisten sowie das fließende Changieren zwischen den unterschiedlichen Erzählperspektiven zustande kommt. Zugleich entwickelt sich hierdurch ein unausweichlicher Sog, der unaufhaltsam auf das gewaltdurchsetzte Inferno zusteuert.

„Der Tod des Vivek Oji“ ist ein poetischer Aufschrei für mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten inmitten unserer verstaubten heteronormativen und rassenideologischer Vorstellung, welches insbesondere durch die Lebendigkeit und Tiefenschärfe seiner Charaktere imponiert – für mich ein heißer Jahreshighlight-Kandidat.