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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 01.08.2020
Ein Sonntag mit Elena
Geda, Fabio

Ein Sonntag mit Elena


gut

Stille Reue
„Ein Sonntag mit Elena“ ist eine zweigliedrige Geschichte, die von Giulia erzählt wird. Zum einen springt Giulia zwischen Erinnerungen an ihren Vater, dem einstigen Ingenieur und Konstrukteur von Brücken, mit dem sie keinen wirklichen Kontakt pflegt, hin und her. Der andere Teil beschäftigt sich mit einem einzelnen Tag aus dem Leben von Giulia‘s Vater, nämlich als er recht zufällig Elena und ihren Sohn kennen lernt.

Die Erinnerungen wirken auf den ersten Blick konfus, ergeben letztlich aber ein Gesamtbild, aus dem der Leser vermuten kann, warum der Kontakt zum Vater so eingeschränkt stattfand. Genau erklärt wird nichts, es sind Eindrücke, die sich aufdrängen, zum Beispiel, dass die Erinnerungen nicht immer Giulia‘s eigene, sondern mittelbare Erinnerungen ihrer Geschwister Sonia und Alessandro sind. Der Erzählstil innerhalb der Erinnerungen kam mir recht ruppig vor, irgendwie als würde Giulia immer wieder mit sich selbst hadern. Für mich war durchgehend eine gewisse Unzufriedenheit zu spüren. Ich glaube allerdings, dass diese Art des Erzählens leserabhängige Interpretationen zulässt.

Der Elena-Anteil ist feinfühliger und liebevoller. Es ist eine Beobachtung dessen, was normalerweise Großeltern mit ihren Kindern und Enkelkindern erleben. Elena und ihr Sohn Gaston, die der ältere Herr an einem Skaterpark kennengelernt hatte, kommen zu Besuch, Essen zusammen. Der ältere Herr schenkt Gaston die Zeit, die er für die eigenen Kinder nie hatte. Das würde er vielleicht auch als Großvater tun, nur leider kann seine verstreute Familie aktuell nicht bei ihm sein. Zwischendurch hatte ich sogar das Gefühl, er könnte sich verlieben.

Insgesamt ist „Ein Sonntag mit Elena“ ein stiller Roman, der den Leser möglicherweise etwas verwirrt zurücklässt, aber in jedem Fall mit Erkenntnissen zur Bedeutung von Familie und gemeinsamer Zeit, von der irgendwann nicht mehr so viel übrig bleibt. Für mich war es ein guter, aber kein überragender Roman, den man gut zwischendurch lesen kann, aber nicht zwingend gelesen haben muss.

Bewertung vom 24.07.2020
Zwei fremde Leben
Goldammer, Frank

Zwei fremde Leben


sehr gut

Stimmt mich nachdenklich
Ricarda Raspe erwartet ihr erstes Kind. Unter der Geburt kommt es zu Problemen. Die Ärzte der Dresdner Klinik teilen mit, das Baby wäre verstorben. Weder Ricarda noch ihr Verlobter dürfen das Baby sehen und sich verabschieden. Das ist gemäß Vorschrift in der DDR 1973 nicht vorgesehen. Die daraus entstehende Unsicherheit lässt Ricarda‘s ganzes Leben aus den Fugen geraten. Ricarda glaubt an staatlich organisierten Kindesentzug.

Dieser Verdacht drängt sich auch dem sich sorgenden Polizisten Thomas Rust auf, dessen Frau zur gleichen Zeit ebenfalls schwanger in der Dresdner Frauenklinik liegt. Während er auf die Besuchszeit wartet, beobachtet Rust merkwürdige Vorgänge im Umfeld des Krankenhauses. Er beginnt mit Ermittlungen, die ihn immer tiefer in DDR-Machenschaften hineintreiben, ihn selbst in höchste Gefahr bringen.

Dieser Handlungsstrang nimmt den größten Anteil des fesselnden Romans in Anspruch. Der zweite Teil der Geschichte startet Jahre später als die junge Claudia Behling erfährt, dass ihre Funktionärseltern gar nicht ihre leiblichen Eltern sind. Claudia begibt sich auf die Suche nach ihrer Mutter, die sie angeblich nach ihrer Geburt weggegeben hatte.

Der Roman macht sehr deutlich, welche gravierenden Auswirkungen die Gegebenheiten in der DDR auf die Bürger hatte, sobald nicht Alles nach Plan lief. In meiner Wahrnehmung wurden hier zwei Leben verdreht, teilweise ganz zerstört. Beim Lesen konnte man ganz klar die mitschwingende Verzweiflung spüren. Der Roman setzt sich darüberhinaus mit der Staatssicherheit auseinander. Wie schnell konnte man in deren Fänge geraten und musste fortan IM sein? Er berichtet aber auch von verschiedenen Stasitypen, von den Engagierten und den mit vielen Worten Nichts-Sagenden. Weiterhin erfahren wir von Machenschaften der DDR in Richtung Westen, die dem normalen Bürger vermutlich gar nicht bewusst waren.

Ganz nebenbei streifen wir im Vorbeigehen Dederonstoff, ziehen an einer F6 oder am Choke. Von diesen typischen Vokabeln hätte ich mir noch mehr gewünscht oder etwas mehr Tagesgeschehen. Vermutlich wollte der Autor die Thematik nicht durch Nebensächlichkeiten verklären.

Insgesamt liest sich der neue Roman von Frank Goldammer wie ein Krimi, er ist hochinteressant und richtig spannend. Zwischendurch wurde ich auf falschen Fährten gelockt, zum Beispiel in der Frage, wessen Tochter Claudia nun eigentlich ist. Das hat mir sehr gefallen. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

Bewertung vom 23.07.2020
Eine Reise durch Deutschland in 100 ungewöhnlichen Bildern und Geschichten
Rössig, Wolfgang

Eine Reise durch Deutschland in 100 ungewöhnlichen Bildern und Geschichten


ausgezeichnet

Auf Reisen mit den Größen aus Kunst, Literatur und Geschichte
Selten hatte ich einen so schönen Reiseführer in der Hand. Das großformatige Buch ist schon vor dem Aufschlagen ein echtes Highlight. Aus der Vogelperspektive ist die Fraueninsel im Chiemsee abgebildet. Mit zahlreichen weiteren großformatigen Fotos, die die vorgestellten Reiseziele von ihrer besten Seite zeigen, lädt das Buch zum Schnöckern und Verweilen ein.

Zu jedem Reiseziel gibt es neben der Bebilderung eine prägnante Beschreibung. Berühmte Persönlichkeiten, die gern an den Orten verweilten, lässt man zu Wort kommen. So erfährt der Leser ganz nebenbei noch etwas aus unserer Geschichte. Die Verknüpfung der Orte mit dem Historischen macht für mich einen besonderen Reiz aus. Als Abschlussinformation zu jedem Reiseziel werden Unterkünfte und Restaurants genannt.

Gut gemacht ist Aufteilung nach Himmelsrichtungen, die die Reiseziele ordnen. Zu jeder Himmelsrichtung gibt es fast gleich viele Ziele. So ist keine Region unter- bzw. überrepräsentiert. Auch Art der Ziele genießt eine schöne Verteilung. Kunst und Kultur sind ebenso so vertreten wie Natur, alte und moderne Architektur.

Wer denkt: „Reisen bildet“, ist hier an der richtigen Adresse. Viel Wissenswertes aus Kunst, Literatur und Geschichte wird hier preisgegeben. Da ist die tatsächliche Reise nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Einziger Nachteil, der hier aber zu keinerlei Bewertungsabzug führt, ist das Gewicht des Buches. Mit seinen fast anderthalb Kilo nimmt man es nicht mal eben in der Handtasche mit.

Bewertung vom 23.06.2020
Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich Von einer Begegnung, die alles veränderte
Randau, Tessa

Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich Von einer Begegnung, die alles veränderte


gut

Bin unter Beobachtung
Genau wie die Protagonistin im Roman muss ich mich mit dem täglichen Spagat zwischen Beruf und Familie auseinandersetzen, ebenso mit der Thematik, welchen Preis ich für noch mehr Konsum bereit bin zu zahlen. So kam es mir gerade recht, dass mir dieses kleine Büchlein empfohlen wurde.
Die Romanform hat mir für die Vermittlung von Tipps zur Stress- und Burnout-Vermeidung gefallen, auch wenn dadurch fachlich nicht allzu tief eingestiegen werden konnte. Die Anregungen sind leicht verständlich und sofort nachvollziehbar. Ich selbst konnte mich in allen vier Fragen wieder erkennen. Trotzdem möchte ich nicht sofort Änderungen in meiner Lebensweise vornehmen, sondern mich selbst eher mit geschärfteren Fokus beobachten.
Die Geschichte selbst ist für meinen Geschmack zu einfach, verläuft zu glatt. Einzelne beschriebene Maßnahmen lassen sich aus meiner Sicht sinnvoll nur ab einer gewissen finanziellen Grundausstattung umsetzen. Unsere Protagonistin ist für mein Empfinden auch etwas zu empfänglich für die Konsequenzen, die die Vier Fragen mit sich bringen.
Ich gehe davon aus, dass es der Autorin lediglich um Anregungen ging, die nett verpackt werden sollten. Dies ist ihr gut gelungen. In zügig lesbarem Schreibstil, mit dezenten Abbildungen verfeinert, gibt sie dem Leser ein paar Gedankenanstöße. „Der Wald, vier Fragen, das Leben und ich“ ist gut während einer längeren Bahnfahrt zwischen zwei Terminen lesbar und allen zu empfehlen, die Spagat zwischen Beruf und Familie bewältigen müssen.

Bewertung vom 16.06.2020
Kostbare Tage
Haruf, Kent

Kostbare Tage


ausgezeichnet

Melancholie mit Wohlfühlfaktor

Mitten in der tiefsten Provinz Amerikas, in der Kleinstadt Holt, verbringt der schwerkranke Dad Lewis seinen letzten Sommer. Obwohl die Gegend für einen Außenstehenden abgehängt und trostlos wirkt, wohnt Dad Lewis schon sein ganzes Leben dort. Seine Kinder, Lorraine und Frank, sind in Holt aufgewachsen.
Um die letzten Wochen, die ihrem Vater noch bleiben, gemeinsam zu verbringen, kehrt Lorraine aus der Großstadt nach Hause zurück.

Die Hauptfigur liegt im Sterben und muss noch reinen Tisch machen. Auch die anderen Figuren haben schwerwiegende Herausforderungen im Leben zu bewältigen. Da ist die kleine Alice, die bei ihrer Großmutter wohnt, weil sie ihre Mutter an den Krebs verloren hat. Es gibt die einsamen Johnson-Frauen und den neue Reverend Lyle, der für diese Gegend etwas zu aufgeschlossen ist. Wahrscheinlich mochte ich „Kostbare Tage“ gerade wegen dieser bedrückenden Schicksale. Die Art, wie die Charaktere damit umgehen, hat mich beeindruckt. Da ist kein Jammern über die eigenen Unzulänglichkeiten oder unzufriedenes Lamentieren, sondern ganz selbstverständlich gegenseitige, nachbarschaftliche Unterstützung. Jeder hat seinen Platz, gleicht eine Lücke beim Anderen aus.

Mit seinem Zeichnen des einfachen, provinziellen Lebens, schafft Kent Haruf eine unvergleichliche Wohlfühlatmosphäre. Trotz des nahenden Todes und der alles umgebenden Melancholie erlebt der Leser mit den Figuren ganz wunderbare Momente. Dabei ist er zu keinem Zeitpunkt kitschig, sondern eher gesellschaftskritisch unterwegs. Seine Töne sind stets sanft, seine Kritik schwingt leise mit.

Dieser Roman war mein erster Kent Haruf und wird bestimmt nicht mein letzter sein. Ich liebe seine Sprache und die Entschleunigung, mit der mir die Geschichte das Lesen bereichert hat. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

Bewertung vom 28.05.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


ausgezeichnet

Tieftraurig gleichzeitig unendlich schön
Michka muss in ein Altenheim umziehen, das Wohnen allein ist nicht mehr möglich für sie. Die ehemalige Korrektorin journalistischer Texte vergisst die Wörter, eins nach dem anderen. Sie fallen ihr einfach nicht mehr ein. Zunächst durch andere ersetzt, bleiben sie später ganz aus. Daran können auch Marie, die Michka als Kind oft betreut hatte, und auch der Logopäde Jérôme nichts ändern.

Diese Geschichte über die Degeneration im Alter war für mich unglaublich traurig und hat mich emotional tief getroffen. Zum einen ist es natürlich bitter, wenn eine bisher immer unabhängige Frau plötzlich dermaßen auf Hilfe angewiesen ist. Obwohl die Angestellten des Heims nur ihr Bestes wollen, treten sie Michka des Öfteren unbewusst auf die Füße. Was mich aber noch mehr berührt hat, sind die Beziehungen zu ihren Vertrauten, Marie und Jérôme.

Marie ist das Kind, das Michka nie hatte. Sie kümmert sich liebevoll, besucht Michka so oft wie möglich, ruft sie an, hält die ehemalige Korrektorin auf dem Laufenden. Was mich daran am meisten fasziniert hat, war Maries Selbstlosigkeit dabei. Nicht ein einziges Mal Murren, nie der Bedarf etwas anderes lieber zu tun, ein Verhalten, das leibliche Kinder oft nicht zustande bringen.

Jérôme scheint ein etwas einsamer Typ zu sein, der seine ganze Energie der logopädischen Betreuung von Senioren widmet. Deshalb treffen Michka und er aufeinander. Die gegenseitige Sympathie wächst. Sie öffnet sich ihm, erzählt von Albträumen, die ihren Ursprung bereits in Michkas Kindheit haben. So kommt es ihm zumindest vor. Die als Kind erlebte Angst vergisst man nie. Ich liebte die Art, wie Jérôme auf Michka eingegangen ist, wie er immer wieder versucht hat, sie zum weitersprechen zu motivieren.

Diese beiden Beziehungen sind nun Michkas einzige Kontakte zur Außenwelt. Sie stellen keine Fragen, warum sie sich so verhält, wie sie es tun, warum sie sich dies oder jenes wünscht. Marie und Jérôme sind einfach nur für sie da. Die ganze Atmosphäre ist geprägt von Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit. Trotz des bitteren Schicksals, das Michka zuteil wurde, ist die Geschichte einfach nur schön, tieftraurig gleichzeitig unendlich schön und das ganz ohne Schnulzigkeit.

Sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 25.05.2020
Ich bleibe hier
Balzano, Marco

Ich bleibe hier


ausgezeichnet

Wunderbarer Roman voll von Traurigkeit
Ich dachte immer: Das schlimmste, was einer Mutter passieren kann, ist, dass sie die eigenen Kinder überlebt. Nach der Lektüre von Marco Balzanos Roman bin ich mir nicht mehr so sicher.

Die Ich-Erzählerin Trina Hauser muss viel aushalten in ihrem Leben. Als wäre das dörfliche Leben in Südtirol nicht schon anstrengend genug, muss sich ihre Familie mit dem beginnenden Zweiten Weltkrieg entscheiden, entweder nach Deutschland auszuwandern und die Heimat zu verlassen oder unter den Faschisten als Bürger zweiter Klasse in Italien zu bleiben. Dem Romantitel entsprechend bleiben sie. Die deutsche Sprache wird verboten, Trina darf nicht mehr als Lehrerin arbeiten. Ihr Ehemann sowie ihr Sohn werden eingezogen. Doch die wahre Katastrophe für Trina spielt sich jenseits des Krieges ab.

Für mich war erstaunlich, wie viele Schicksalsschläge ein einzelner Mensch aushalten kann und zu was ganz normale einfache Leute fähig sind. Doch ich mochte Trina nicht nur aufgrund ihrer Belastbarkeit. In jeder neuen Situation fand sie einen Weg, weiterhin zurechtzukommen, etwas Positives darin zu sehen. Leider wehrte ihr kleines Glück nie lange, weshalb ich sie auch etwas mitleidig betrachtet habe.

Neben der aufopferungsbereiten Protagonistin hat mir auch die Aufbereitung der Geschichte richtig gut gefallen. Die Aufteilung des Romans in drei Teile ist gelungen. Der Schreibstil passt sehr genau zu der Art wie Großeltern über Erlebnisse im Weltkrieg berichtet haben, nicht zu malerisch, sondern deutlich, klar verständlich und überhaupt nicht reißerisch. Es ist eine nüchterne Sprache, die vorhandene Gefühle unter Kontrolle hält. Der unermessliche Schmerz ist zwischen den Zeilen trotzdem zu spüren.

Für mich war der Roman durchweg von einer Traurigkeit geprägt, die mich bedrückt hat. Die Lektüre war irgendwie beklemmend und das meine ich im positiven Sinne. Die Stimmung der Protagonisten, insbesondere von Trina, wurde so gut transportiert, dass man beim Lesen schon sehr stark mitfühlen konnte. Alles in Allem ein wunderbarer Roman, den ich sehr gern weiterempfehle.

Bewertung vom 06.04.2020
Die Tanzenden
Mas, Victoria

Die Tanzenden


ausgezeichnet

Überraschend, fesselnd, zeitweise erdrückend
Schon das hübsche Cover zu Victoria Mas‘ „Die Tanzenden“ deutet auf das Ereignis hin, dem die gesamte Pariser Hautevolee entgegenfiebert, den Ball zu Mittfasten. Es ist mit einer Leichtigkeit gezeichnet, die sich genauso auch im Roman wiederfindet. Doch die fühlbaren Federn des schwingenden Kleides verkörpern für mich nicht nur Amüsement, sondern auch einen gewissen Schwebezustand und ein Stück weit Vogelfreiheit.

Louise und Eugénie sind Patientinnen im Hôpital de la Salpêtrière in Paris, das im ausklingenden 19. Jahrhundert als Zentrum für gynäkologisch definierte Hysterie bekannt war. Jean-Martin Charcot und Joseph Babinski haben seinerzeit dort praktiziert. Neben den Vorbereitungen für den anstehenden Ball, erzählt der Roman vor Allem von den Lebensumständen der Frauen, die in der Salpêtrière untergebracht sind, um dort behandelt zu werden. Die Behandlungsmethoden sind abstoßend, die Wehrlosigkeit der als geisteskrank abgestempelten Frauen ist wahnsinnig erdrückend. Die Nerven zart besaiteter Leser werden ganz schön strapaziert. Besonders erschüttert hat mich der Vorgang einer Einweisung in die Salpêtrière. Die Einfachheit, mit der man sich über diesem Weg seiner unliebsamen oder unbequemen Frauen entledigen konnte, hat mich maximal schockiert. In diesem Sinne waren doch die Frauen insgesamt einfach nur vogelfreie Wesen.

Trotzdem sollte man sich die Lektüre gönnen. Victoria Mas transportiert das Grauen aus dem Behandlungszimmer derart galant mitten in den lesenden Kopf, dass man den Roman eigentlich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Nicht nur die bildliche Vorstellung der Szenerie hat eine starke Präsenz, sondern auch die Empfindungen und Ängste der zum Behandlungsobjekt degradierten Frauen. Sprachlich ist das Geschehen leicht und sanft wie eine Feder aufgesetzt, was durch den extremen Kontrast zur Handlung eine angenehme Wirkung auf mich hatte.

Zudem gibt es wunderbare Charaktere. In diesem Roman sind es allesamt Frauen. Am besten haben mir die Protagonistinnen Genevière und Eugénie gefallen, aber auch die Nebenfigur Thérèse als Ruhepol unter den Patientinnen hatte meine Sympathie. Bei Genevière hat mir ihre Entwicklung gefallen. Nach jahrelanger Routine und Erfahrung dehnt sie die gelebten Regeln, erfährt durch die Änderung des Blickwinkels Erkenntnisgewinne, die sie niemals für möglich gehalten hätte. So entwächst sie der strengen im Hintergrund agierenden grauen Maus und wird zur Organisatorin eines richtig großen Coups. Eugénie ist intelligent und weltoffen, blickt über ihren Tellerrand hinaus. Leider ist sie zu impulsiv, um ihr Wissen clever einzusetzen. Beiden gemein ist der Mut, den es braucht, der Männerwelt aller Unterdrückung zum Trotz gegenüber zu treten.

Victoria Mas hat der Lesegemeinde mit ihrem Debütroman „Die Tanzenden“ ein über alle Maßen tolles Buch geschenkt. Sie behandelt ein schweres Thema mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Sehr gern lege ich euch die Lektüre ans Herz.

Bewertung vom 04.04.2020
Die Bagage
Helfer, Monika

Die Bagage


gut

An meinen Erwartungen vorbei
Bei der Bagage handelt es sich um die Familie Moosbrugger, die in sehr ärmlichen Verhältnissen hinten am Berg am Ende eines Dorfes in Vorarlberg wohnt. Trotz der Armut läuft es gut zwischen der wunderschönen Maria und dem Josef, bis dieser in den Krieg ziehen muss. Während des Krieges kommt Grete, Monika Helfers Mutter, zur Welt. Über die Vaterschaft wird sich im Dorf das Maul zerrissen, die ganze Familie noch mehr als vorher schon ausgegrenzt.

Das Gezeter rund um die Zeugung der Grete ist der Hauptinhalt der Geschichte. Schlimm, was sich ein ganzes Dorf zurechtlegt, nur um Maria in ein schlechtes Licht zu rücken aus Neid auf ihre unvergleichliche Schönheit. Die Frauen im Dorf haben Angst ihre Männer an Maria zu verlieren, die Männer sind sauer, weil sie nicht bei Maria landen können. Grundsätzlich sympathischer war mir die Nebenhandlung, die sich mit den Verhältnissen im Ersten Weltkrieg auseinandersetzt. Auch wenn Maria ihren Kindern nichts Materielles bieten kann und die Familie zeitweise nicht einmal satt wird, hält sie mit ihrer Liebe und Zuneigung alles zusammen.

Die Sprache im Roman wirkt recht schnodderig, vermutlich durch den hohen Anteil an kurzen Sätzen. Das entspricht möglicherweise der Sprache im Ersten Weltkrieg, war mir persönlich aber zu holprig. Zusätzlich erschwert wurde das Lesen durch das Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Zeitebenen auf der einen und zwischen Erlebnissen der Großmutter und eigenen Erlebnissen auf der anderen Seite. Das Ganze ist zwar gut erkennbar durch den Wechsel der Erzählperspektive, dennoch hat es meinen Lesefluss ungünstig unterbrochen. Jedesmal, wenn ich gerade dabei war mich mit Maria anzufreunden, wurde ich wieder von ihr weggerissen.

Letztlich zog somit die Geschichte einfach an mir vorbei, wirklich fesseln konnte sie mich nicht. Das ist sehr schade, da ich mich auf einen sehr gefühlvollen Roman gefreut hatte.