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Herbstrose

Bewertungen

Insgesamt 209 Bewertungen
Bewertung vom 12.10.2021
Die Enkelin
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


ausgezeichnet

Ost und West – zwei Welten
Als Buchhändler Kaspar Wettner abends nach Hause kommt, findet er seine Frau Birgit tot in der Badewanne. Unfall oder Selbstmord? Kaspar weiß es nicht, er weiß nur, dass seine Frau Alkoholikerin war, verschlossen und in sich gekehrt, und er sie trotzdem sehr geliebt hat. Erst nach Wochen kann er sich dazu überwinden, ihren Schreibtisch zu öffnen und ihre Unterlagen zu sichten. Dabei findet er das Manuskript eines Buches, ihres Buches, ihre Lebens- und Leidensgeschichte zu der Zeit in der DDR, bevor Kaspar ihr zur Flucht nach Westberlin verhalf und sie dort heiratete. Was er darin erfährt erschüttert ihn zutiefst. Als er Birgit kennen und lieben lernte war sie bereits schwanger von Leo Weise, einem verheirateten Parteigenossen, und gebar kurz vor ihrer Flucht ein Mädchen, das sie Svenja nannte. Hebamme war ihre Freundin Paula, die das Kind seinem Vater Leo und dessen Frau übergab. Während der ganzen Zeit ihrer Ehe mit Kaspar sehnte sich Birgit nach ihrer Tochter, brachte aber nie den Mut auf, nach ihr zu suchen. Sie vermutete in ihr eine kraftvolle, lebensfrohe, glückliche junge Frau – in Wirklichkeit war Svenja auf die schiefe Bahn geraten und drogen- und alkoholabhängig. Inzwischen muss sie über vierzig Jahre alt sein und Kaspar beschließt, sie zu suchen. Sein Weg führt ihn in den Osten Deutschlands wo er auf Menschen trifft, die in Birgits früherem Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben. Im Dorf einer völkischen Gemeinschaft trifft er auf Svenjas 15jährige Tochter Sigrun, die er sofort als seine Enkelin ansieht. An ihr will er das Vermächtnis seiner Frau vollenden, doch ihre beiden Welten sind grundverschieden …
Der Autor Bernhard Schlink wurde 1944 in Bielefeld geboren, wuchs in Heidelberg auf, studierte in Heidelberg und Berlin Jura, promovierte 1975 in Heidelberg zum Dr. jur. und habilitierte in Freiburg/Brsg. zum Professor für Öffentliches Recht. Er lehrte an den Universitäten in Bonn, Frankfurt/Main und Berlin und war von 1987 bis 2006 Richter am Verfassungsgerichtshof. Seinen Erfolg als Schriftsteller hatte er ab 1987 - inzwischen veröffentlichte er einige Sachbücher und vierzehn Romane, für die er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhielt. Heute lebt Schlink in New York und Berlin.
Hauptsächlich zwei Figuren dominieren in diesem Roman. Da ist der schon ältere Buchhändler Kaspar, der den Verlust seiner Frau damit bewältigt, dass er deren uneheliche Tochter Svenja in den Ferien bei sich aufnimmt und dem Mädchen, das bisher in einer völkischen Dorfgemeinschaft aufgewachsen ist, alles bietet, was Berlin zu bieten hat. Das geht jedoch nicht ohne Konflikte ab. Ein großes Lob gebührt dem Autor, der es großartig versteht, die einzelnen Charaktere mit all ihren Stärken und Schwächen zu beschreiben. Der Leser wird überschüttet mit einer Flut von Emotionen. Man schwankt zwischen Ärger und Mitgefühl und ist oft wütend über die Borniertheit und den Unverstand mancher Zeitgenossen. Der Schreibstil ist dabei von einer gekonnt sachlichen Nüchternheit, klar, präzise und schnörkellos, wie man ihn auch bisher von Schlinks Romanen kennt.
Fazit: Eine Geschichte die berührt, nachdenklich stimmt und zu Diskussionen anregt. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 07.10.2021
Das Haus der Düfte
Lambert, Pauline

Das Haus der Düfte


sehr gut

Von Parfümdynastien und Familienfehden …
Anouk ist vierzehn Jahre alt als sie nach Paris kommt, wo ihre Mutter eine Apotheke geerbt hat. Gleich bei ihrer Ankunft riecht sie einen Duft, den sie nie mehr in ihrem Leben vergessen wird und sie in ihrem Wunsch bestärkt, Parfümeurin zu werden und eigene Duftkreationen zu entwickeln. Doch es ist nicht leicht, in den 50er Jahren eine Lehrstelle zu bekommen, da das Parfümgeschäft in der Hand einiger weniger Familien ist – und für eine Parfümschule fehlt ihr das Geld. Da kommt Anouk ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Durch einen Angestellten der Apotheke lernt sie ein Mitglied des Hauses Girard kennen, der sie mitnimmt in die Hauptstadt der Parfümherstellung, nach Grasse. Rasch erkennt die Familie ihre Begabung und ihr Talent Gefühle in Düfte zu verwandeln, genau wie einst Florence Girard, die mit ihrem Können vor über fünfzig Jahren den Erfolg der Dynastie begründete. Sie ermöglichen Anouk eine Ausbildung und bald schon entwickelt sie eigene Kompositionen. Doch dann gerät sie unversehens zwischen die Fronten einer alten Familienfehde zwischen den Girards und deren einstiger Lieferanten, der Familie Bonnet, Lavendelanbauern und Hersteller ausgezeichneter Destillate …
Pauline Lambert ist das Pseudonym der Autorin, die mit ihrem Lebensgefährten in der Nähe von Köln lebt. Für diesen Roman waren intensive Recherchen über die Historie der Parfümherstellung nötig und ausgedehnte Reisen an die heutigen Orte des Geschehens. Es entstand ein umfassender Einblick in die Welt der Düfte und des Luxus und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Stadt Grasse und die Côte d’Azur.
„Das Haus der Düfte“ ist eine interessante und lehrreiche Geschichte - nicht nur für Liebhaber guter Düfte, sondern auch für alle Leser, die Familiengeschichten über mehrere Generationen bevorzugen. Man erfährt vieles über die Herstellung von Parfüm, über die meist verwendeten Essenzen und über Erfolg und weltweite Verbreitung eines Duftes. Man liest von befreundeten Familien die zu erbitterten Rivalen und Feinden wurden und von Neid und Missgunst innerhalb der Branche. Liebe und Trennung, Freude und Schmerz, Eifersucht und Intrigen sind einige menschliche Aspekte, die das Geschehen sehr emotional machen. Der Schreibstil ist dabei gut und liest sich, trotz einiger Erklärungen und Fachbegriffe, leicht und flüssig. Man fühlt sich wohl in Grasse, zwischen Rosen- und Lavendelfelder und spürt förmlich die leichte Brise, die vom Meer her weht. Insgesamt ein Roman voller Sinnenfreude, der sehr gut unterhält und bei dem man gerne ab und zu an einem guten Duft schnuppert.
Fazit: Gute Unterhaltung!

Bewertung vom 25.09.2021
Das Buch der verschollenen Namen
Harmel, Kristin

Das Buch der verschollenen Namen


ausgezeichnet

Zuletzt stirbt die Hoffnung …
Während ihr Vater abgeführt wurde, entgingen durch einen glücklichen Umstand die Jüdin Eva Traube und ihre Mutter im Juli 1942 in Paris der Verhaftung durch die Nazis. Mit gefälschten Papieren gelang ihnen die Flucht in den Süden nach Aurignon, in den freien Teil Frankreichs. Dort schließt sich die junge Frau einer Gruppe an, die Kinder von verschleppten oder ermordeten Juden über die Schweizer Grenze in Sicherheit bringt. Jetzt im Jahr 2005 ist Eva Abrams 86 Jahre alt, als sie zufällig in der New York Times einen Bericht entdeckt, in dem ein Bibliothekar aus Berlin den Besitzer eines alten Buches sucht. Eva erkennt sofort ihr „Buch der verschollenen Namen“ aus der Zeit in Frankreich, das verschlüsselt viele Geheimnisse enthält und aus dem sie ein letztes Rätsel zu erfahren hofft. Die alte Dame entschließt sich nach Berlin zu fliegen und den Mann persönlich aufzusuchen …
Die us-amerikanische Bestsellerautorin und Journalistin Kristin Harmel wurde 1979 in Newton/Massachusetts geboren. Ihren Abschluss in Journalismus machte sie an der University of Florida und arbeitete danach mit den Magazinen „People“ und „Glamour“ zusammen. Sie schrieb bereits einige beachtenswerte Romane, die auch in Deutschland auf den Bestsellerlisten erschienen. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Orlande/Florida.
„Das Buch der verschollenen Namen“ ist ein beeindruckender Roman mit einem wunderbaren Schreibstil. Die Gräueltaten werden teils mit brutaler Offenheit geschildert, während die Arbeit der Resistance mit den verlassenen Kindern sehr warmherzig und mit großem Einfühlungsvermögen beschrieben wird. Wie auf dem Buchrücken zu lesen ist, wurde die Autorin von einer wahren Begebenheit zu dieser Geschichte inspiriert, die sie in zwei Zeitebenen erzählt. Zunächst befinden wir uns im Hier und Jetzt, um dann in Evas Erinnerungen einzutauchen. Wir erleben mit ihr die grausame Zeit der Judenverfolgung und der deutschen Besatzung in Frankreich während der Zeit des Dritten Reichs und erfahren von erschütternden Einzelschicksalen todesmutiger Widerstandskämpfer. Einer von ihnen ist Rèmy, in den sie sich nach anfänglichem Misstrauen verliebt und eng mit ihm zusammenarbeitet. Neben der täglichen Gefahr des Entdecktwerdens muss sich Eva auch mit selbstsüchtigen Vorwürfen ihrer Mutter auseinandersetzen, die sich vernachlässigt fühlt, für Evas Arbeit kein Verständnis zeigt und Katholiken wie Rèmy regelrecht verabscheut.
Fazit: Ein bemerkenswertes Buch, erschütternd und doch voller Hoffnung. Sehr empfehlenswert!

Bewertung vom 21.08.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Die Vergangenheit hinterlässt Spuren – eine Reise durch die Zeit …

Nach dem Willen ihrer verstorbenen Mutter begeben sich die drei Brüder Benjamin, Nils und Pierre zusammen mit ihrer Urne auf eine gemeinsame Fahrt zum Sommerhaus der Familie, um dort am See ihre Asche zu verstreuen. Früher, als sie noch Kinder waren, verbrachte die Familie jeden Sommer dort. Nun werden die Erinnerungen wieder wach an die unzähligen Stunden, die sie sich selbst überlassen waren, während sich ihre Eltern lieber zurückzogen und dem Alkohol frönten. Es war eine schöne, aber auch eine schmerzvolle Zeit mit vielen körperlichen und seelischen Verletzungen, die sie bis heute, Jahrzehnte später, noch nicht verarbeitet haben. Inzwischen haben sie sich auseinander gelebt, versuchen jedoch, auf der langen Fahrt zu dritt in einem Auto, die alte Gemeinsamkeit und Vertrautheit wieder aufleben zu lassen …

„Die Überlebenden“ ist der erste Roman des schwedischen Autors Alex Schulman, der 1976 in Hemmesdynge geboren wurde. Er studierte Film-, Literaturwissenschaft und Philosophie. Bevor ihm mit diesem Roman (der wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste stand und bisher in 31 Ländern erschienen ist) sein Durchbruch gelang, schrieb er bereits einige autobiografische Geschichten über seine Familie. Alex Schulman ist in dritter Ehe mit Amanda Schulman verheiratet, hat zwei Töchter und mit ihr einen gemeinsamen Sohn.

Zunächst fällt die außergewöhnliche Erzählweise auf, an die man sich möglichst rasch gewöhnen sollte, um die Dramatik der Geschichte vollständig erfassen zu können. Erzählt wird in zwei Zeitebenen: Zunächst befinden wir uns mit den drei Brüdern und der Urne der Mutter im Hier und Jetzt beim Sommerhaus am See und begeben uns jeweils im 2-Stunden-Takt zurück bis zum Auffinden des Briefes mit dem letzten Willens der Mutter und dem Beginn der Fahrt. Dazwischen tauchen parallel Erinnerungen und Erlebnisse der Jungen auf, die von frühester Kindheit chronologisch bis ins Heute reichen, um am Schluss dann stimmig mit dem Anfang zu verschmelzen. Der Kreis schließt sich.

Erzählt wird die Geschichte aus dem Gesichtspunkt von Benjamin, dem mittleren und besonnensten der Brüder. Er war es auch, der meist vermittelnd zwischen Pierre, dem jüngsten und aufbrausenden, und Nils, dem ältesten und eigenbrötlerischen, eingriff. Und dann war da noch Molly, die kleine Hündin und Liebling der Mutter, um die sich hauptsächlich Benjamin kümmerte. Bis das Unglück geschah, konnten die Kinder noch um die Liebe und Zuneigung der Eltern buhlen, danach zerbrach die Familie und nichts war mehr wie zuvor. Was ist passiert?

Dem Sog dieser Geschichte kann man sich nicht entziehen. Die Sprache ist klar, präzise und schnörkellos und die gewählte Ausdrucksweise des Autors vermittelt ein gutes Bild der Landschaft am See. Die einzelnen Charaktere sind greifbar in ihrer Realität und ihre Beziehungen untereinander durchaus nachvollziehbar. Die exakte Beschreibung einiger erschütternder Szenen vermittelt ein tief emotionales Leseerlebnis, der aufwühlende Schluss erklärt das Geschehen, lässt aber den Leser nachdenklich und bestürzt zurück.

Fazit: Kein Roman der Wohlbefinden auslöst, sondern eine Geschichte voller Emotionen, die traurig und bestürzt macht, und die das Gelesene noch lange nachklingen lässt.

Bewertung vom 17.08.2021
Ein erhabenes Königreich
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


gut

Glaube vs. Wissenschaft
Um sich von ihren ghanaischen Wurzeln frei zu machen hat Gifty Neurowissenschaft studiert und ist nun in der Lage, Mäuse in ihrem Tun und Handeln zu beeinflussen – bei Menschen klappt das leider nicht. Als ihre Mutter mit einer schweren Depression bei ihr einzieht, auf nichts mehr reagiert und sich einfach nur ins Bett legt, ist Gifty ratlos. Wie konnte es nur so weit kommen? Beim Pendeln zwischen ihrer Wohnung und ihrer Arbeit im Labor versucht sie sich zu erinnern. Gedanken kommen und gehen, Erinnerungen an ihren Vater werden wach, der von Heimweh geplagt die Familie irgendwann verlies und nach Ghana zurück ging, an ihren toten Bruder, der als Jugendlicher durch Drogen sein Leben verlor, und an die vielen sonntäglichen Gottesdienste, die sie mit ihrer strenggläubigen Mutter besuchen musste. Kann der unerschütterliche Glaube an Gott, den die Mutter immer hatte, diese ins Leben zurück holen oder soll Gifty doch mehr der Neurowissenschaft vertrauen?
Ausdrucksstark, feinfühlig und völlig unsentimental lässt die Autorin ihre Protagonistin erzählen. So erfährt man nach und nach mehr über Giftys Leben, ihre Herkunft und ihre Familie. Ein besonderes Verhältnis scheint sie zu ihrer Mutter zu haben, von der sie strenggläubig erzogen wurde. Als Kind machte es ihr noch Spaß, in der Kirche zu knien und stundenlang zu beten, später jedoch hinterfragte sie das alles und wurde, wohl durch das abschreckende Vorbild ihrer Mutter, zur Atheistin, während ihre Mutter noch immer fest in ihrem Glauben verwurzelt blieb.
Ein weiterer Schwerpunkt des Romans ist Rassismus bzw. die Integration in den USA und das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Gifty fühlt sich überhaupt nicht als ghanaisch, während ihre Mutter die Heimat nie vergessen konnte und ihr Vater aus Heimweh gar zurück ging. Das Thema Drogensucht wird ebenfalls erwähnt. Jedoch werden all diese schwerwiegenden Probleme nicht ausführlich behandelt, sondern die Autorin schweift immer wieder ab zur Ehe der Eltern, zu Giftys Liebschaften, zu Krankheiten und Depressionen der Mutter. Nach einem abrupten Ende und einigen Seiten aus dem späteren Leben der Protagonistin musste ich mich leider fragen, was die Autorin uns mit diesem Roman eigentlich sagen will.

Bewertung vom 21.05.2021
Das Mädchen im Nordwind
Baldvinsson, Karin

Das Mädchen im Nordwind


sehr gut

Richtige und falsche Entscheidungen …
Um Abstand von ihren Beziehungsproblemen zu gewinnen, nimmt die gelernte Tischlerin Sofie einen Job auf Island an. Sie soll dort ein älteres Haus renovieren. Dabei entdeckt sie durch Zufall ein altes Tagebuch mit Brief an einen gewissen Hannes. Es sind die Aufzeichnungen von Luise, der Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Lüneburg, die 1936 den Isländer Jonas kennen lernte. Sofie beginnt zu lesen und ist sofort gefesselt von der Geschichte. Immer tiefer taucht sie ein in das Leben von Luise …
Die Autorin Karin Baldvinsson wurde 1979 in Erlenbach/Main geboren. Während ihrer mehrjährigen Tätigkeit für eine isländische Firma lernte sie ihren Ehemann, die Kultur und die Sprache Islands kennen. Inzwischen ist sie eine erfolgreiche Schriftstellerin und schrieb schon mehrere Romane über die raue Insel im hohen Norden, die ihr zur zweiten Heimat geworden ist. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann, zwei Kindern und einem Hund in der Lüneburger Heide.
Zwei Erzählstränge bilden die Grundlage des Romans „Das Mädchen im Nordwind“. Kapitelweise abwechselnd erfahren wir über die Ereignisse im Leben der beiden Protagonistinnen, von Luise und ihrer Familie ab 1936, als bereits die ersten Repressalien gegen Juden zu erkennen waren, und von Sofie 2019, ab ihrer Ankunft in Island. Mit viel Einfühlungsvermögen und sehr unterhaltsam lässt uns die Autorin am Leben der beiden teilhaben, wobei die Zeit kurz vor und bei Beginn des 1. Weltkriegs die emotionalere und aufregendere ist, während die Jetztzeit eher als entspannend und zur Beruhigung einzustufen ist, obwohl auch Sofie, die sich in einen Isländer verliebt, Aufregungen und Enttäuschungen nicht erspart bleiben.
Der Schreibstil ist, wie auch in den anderen Island-Büchern der Autorin, schön komponiert und angenehm flüssig zu lesen. Als Leser lernt man die Lebensweise und besonderen Eigenheiten der Isländer kennen und bekommt auch einen guten Eindruck über die dortigen Wetterverhältnisse. Sehr nachdenklich stimmt das Schicksal jüdischer Familien während der Naziherrschaft. Auch wenn schon viel darüber geschrieben wurde hat es die Autorin doch geschafft, die schlimme Zeit wieder lebendig werden zu lassen. Sämtliche Charaktere, ob von damals oder von heute, wirken in ihren Handlungen und zwischenmenschlichen Beziehungen authentisch und sehr lebensecht. Man leidet mit ihnen, man kann sich mit ihnen freuen und manchmal sogar über sie schmunzeln.
Fazit: Eine Geschichte mit vielen Facetten, berührend und spannend – ein Buch, das mich sofort in seinen Bann gezogen hat.

Bewertung vom 12.05.2021
Laudatio auf eine kaukasische Kuh
Jodl, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh


gut

Viele Lügen und noch mehr Geheimnisse …
Schon als sie fünfzehn Jahre alt war hätte ihre georgische Familie sie gerne verheiratet, heute ist Olga sechsundzwanzig, Ärztin im praktischen Jahr in Bonn, und immer noch ledig. Zwar hat sie einen Freund, Arztkollege Felix van Saan, doch es ist ihr bisher großartig gelungen, diesem ihre Herkunft und ihr Elternhaus zu verschweigen, denn zu verschieden sind ihre beiden Welten. Dann trifft sie bei einem Wochenendbesuch bei ihrer Familie in München zufällig auf Jack Jennerwein, einen intelligenten Taugenichts mit fragwürdigem Charme, der ihr von nun an hartnäckig auf den Fersen bleibt, sie regelrecht verfolgt und sich heimlich mit ihrem Bruder anfreundet. Als Olga mit ihren Eltern und ihrer Großmutter zu einem Besuch in die alte Heimat fliegen, reist ihr Jack nach Tiflis nach und stellt sich den Verwandten als ihren Verlobten vor. Als auch noch Freund Felix dort auftaucht, ist das Chaos perfekt …
Die Autorin des Buches, Angelika Jodl, ist in Niederbayern geboren. Sie studierte Philosophie, Sprachen und Literaturwissenschaft und unterrichtet Studenten aus aller Welt in Deutsch. Sie schreibt Geschichten und hält Vorträge zur deutschen Sprache. 2015 und 2017 war sie als Dozentin an der Staatlichen Universität in Tiflis und bereist seit dieser Zeit regelmäßig Georgien, um ihre georgischen Freunde zu treffen. „Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ ist ihr dritter Roman. Angelika Jodl lebt mit Mann, Sohn, Hund, Katzen und einem Pferd namens Otto in München.
In angenehm flüssigem Schreibstil lässt uns die Autorin am Leben der Protagonistin Olga teilhaben, die ihre griechisch-georgischen Wurzeln gerne verleugnet und sich ganz als Deutsche fühlt. Man leidet mit ihr, wenn sie beinahe verzweifelt versucht, ein Kennenlernen zwischen ihrem Freund aus bester Familie und ihren in ärmlichen Verhältnissen lebenden Eltern zu verhindern – und man überlegt gleichzeitig, ob diese Beziehung wohl eine Zukunft hat. Es macht Spaß, die Familie auf ihrer Reise nach Georgien zu begleiten, die dortigen Sitten und Gebräuche kennen zu lernen und mehr über Land und Leute zu erfahren. Fröhliche Szenen, dramatische Begebenheiten und wunderschöne Landschaftsbeschreibungen folgen in raschem Wechsel, so dass beim Lesen nie Langeweile aufkommt.
Die Personen im Umfeld der Protagonistin, besonders die georgische Verwandtschaft mit ihren kulturellen Unterschieden, werden sehr humorvoll geschildert und wirken daher authentisch und lebensecht. Leider passt dabei der zweite Protagonist der Geschichte, Jack Jennerwein, so gar nicht dazu. Ich empfand ihn als unangenehmen Störenfried und penetranten Stalker und wunderte mich nur darüber, wie man Sympathie und Zuneigung zu einem solchen Menschen entwickeln kann. Aus diesem Grund fand ich auch den Schluss ziemlich kitschig, was für mich das Buch doch etwas abwertet.
Fazit: Ordentliches Mittelmaß - ein Buch das sich flüssig liest und unterhaltsam ist.

Bewertung vom 22.03.2021
Aus der Mitte des Sees
Heger, Moritz

Aus der Mitte des Sees


gut

Seit sein bester Freund und Mitbruder Andreas weg ist, geheiratet hat und nun auch Vater geworden ist, zweifelt der 38jährige Benediktinermönch Lukas an sich, seiner Berufung und seiner Bestimmung. Er ist einsam, fühlt sich verlassen, und so geht er immer wieder zum Schwimmen an den See. Dort kann er sich ganz seinen Gedanken und Gefühlen hingeben, fühlt sich umarmt und getragen vom Wasser. Dort am See ist es auch, als plötzlich Sarah auftaucht. Lukas fühlt sich von der jungen Frau magisch angezogen. Sie ist körperlich präsent und schenkt ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. Als ihm dann die Leitung des Klosters angeboten wird muss er sich entscheiden, welchen Weg er zukünftig einschlagen will …
Der Autor Moritz Heger wurde 1971 in Stuttgart geboren, studierte Freie Kunst in Saarbrücken und anschließend in Mainz Germanistik, Evangelische Theologie, Pädagogik und Theaterwissenschaften und gewann bereits mehrere regionale Literaturpreise. Neben dem Schreiben arbeitet er als Gymnasiallehrer für Deutsch und Religion in Stuttgart. „Aus der Mitte des Sees“ ist sein zweiter Roman.
Dass der Autor sich regelmäßig eine Auszeit im Kloster nimmt, wie er in einem Interview am Ende des Buches sagt, ist der Geschichte anzumerken, denn er kennt sich mit den Abläufen und Gepflogenheiten des Klosterlebens gut aus. Leider kommt diese Perspektive etwas zu kurz, ich hätte gerne etwas mehr darüber gelesen. Stattdessen überwiegen die Gedanken des Protagonisten, die abwechselnd an verschiedene Personen gerichtet sind und sich oft um ganz banale Dinge, oft auch um seine Berufung, seinen Glauben, den Zölibat und um Gott drehen. Diese wiederholen sich immer und immer wieder, und oft weiß mal als Leser zunächst nicht, an welche Person seine Grübeleien gerade gerichtet sind. Als er dann Sarah begegnet vermisse ich seinen Gewissenskonflikt, den er als Benediktinermönch und Prior eines Klosters zweifellos haben müsste.
Schreibstil und Satzbau dieses Romans sind sehr gewöhnungsbedürftig - es werden viele Insider-Begriffe und Fremdwörter verwendet, die nicht in jedermanns Wortschatz vorhanden sein dürften. Die vielen gedanklichen Monologe des Bruder Lukas, teils wirr formuliert, waren für mich weder philosophisch, noch poetisch oder tiefsinnig, sondern eher irritierend und ermüdend. Wir begleiten ihn während ein paar Tagen im Sommer, zu kurz als dass ich mir ein genaueres Bild von ihm machen könnte. Auch die anderen Figuren bleiben blass in meiner Vorstellung. Einzig greifbar ist für mich der See und dessen Schönheit, an den es Lukas immer wieder zieht und an dem sich ein Großteil der Handlung abspielt. Das Ende kommt überraschend schnell und ist nach meiner Meinung etwas unwahrscheinlich. Es bleiben einige Fragen offen, die auch durch den Epilog nicht ganz geklärt werden können.
Fazit: Ein interessanter Plot, von dessen Umsetzung ich mir mehr versprochen hatte.

Bewertung vom 16.02.2021
Wut (eBook, ePUB)
Martenstein, Harald

Wut (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Psychogramm einer zerstörten Kindheit
„Komm raus, Drecksau, verkriech dich nicht, du Stück Scheiße“, das waren die Worte der Mutter zu ihrem zwölfjährigen Jungen, der sich aus Angst vor ihr unter dem Bett verkrochen hatte. An diese Worte in seiner Kindheit erinnert sich Frank, während er die Wohnung seiner Mutter ausräumt. Maria lebt jetzt im Pflegeheim, ist dement und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht. Sie war eine kluge starke Frau, konnte aber nie zeigen was in ihr steckte, was sie gegen alles was ihr im Wege stand wütend machte. Und diese Wut richtete sich sehr oft gegen den Schwächsten, ihren kleinen Sohn. Ihn konnte sie prügeln, ‚bis ihr die Arme müde wurden‘. In ihrem Tun spiegelt sich auch ihre eigene Kindheit und Jugend wieder: von der Mutter früh verlassen, von einer Tante im Bordell aufgezogen, den Krieg erlebt, in einer Klosterschule Zucht und Ordnung kennen gelernt und aus Verzweiflung früh geheiratet. Auch Frank hat mit der Wut und den Folgen der Schläge sein Leben lang zu kämpfen. Als er siebzehn Jahre alt ist eskaliert ein Streit, er springt aus dem Fenster und kehrt nie wieder zurück – und als Erwachsener wird er nie richtig beziehungsfähig sein …
Der Autor Harald Martenstein ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller, der 1953 in Mainz geboren wurde. Nach dem Abitur studierte er Geschichte und Romanistik an der Universität in Freiburg. Danach war er Redakteur bei einigen namhaften Tageszeitungen, bevor er 2002 begann, Kolumnen und Essays für verschiedene Magazine zu schreiben. Seither erscheint in jeder Sonntagsausgabe des Tagesspiegels eine Kolumne von ihm. Seinen ersten Roman „Heimweg“ schrieb Martenstein 2007, der, wie auch „Wut“, in der Nachkriegszeit spielt. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch, dem Henri-Nannen und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Der Autor lebt in Gerswalde (Uckermark) und in Berlin. Er ist in zweiter Ehe mit der Kulturmanagerin Petra Martenstein verheiratet. Gemeinsam haben sie einen Sohn, außerdem hat er noch einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe.
In seinem Vorwort bemerkt der Autor ausdrücklich, dass es sich bei „Wut“ um einen Roman und nicht um eine Biografie handelt. Dieser Eindruck könnte entstehen, da die Geschichte in Ich-Form geschrieben ist. Der Name des Erzählers ist Frank, der Junge der Anfang der 1950er Jahre von seiner psychisch labilen Mutter sowohl körperlich, als auch seelisch gepeinigt wird. Dabei drängen sich die Fragen auf, wie die Mutter zu einem solchen Menschen werden konnte und wie sich diese Misshandlungen auf das spätere Leben des Jungen auswirken. Dabei fällt auf, dass Frank als Erwachsener vieles in anderem Licht sieht und er sich zeitweise sogar liebevoll an die Mutter erinnert.
Der Erzählstil ist mitreißend und, trotz schonungsloser Schilderung von Schmerz und seelischem Leid, packend und in gewisser Weise sogar unterhaltend. Das Buch berührt, wühlt auf und stimmt dennoch versöhnlich, denn die psychische Verfassung der beiden Protagonisten wird hier einleuchtend geschildert. Man kann Marias Wut verstehen, aber nicht, dass sie diese an ihrem hilflosen Kind auslässt und man hat Mitleid mit Frank, auf den sich diese Wut allmählich überträgt und der als Erwachsener noch mit seiner Vergangenheit kämpfen muss. Dies zeigt sich besonders gegen Ende, als er offenbar wirr im Kopf ist und sich bei ihm Realität und Illusion vermischen. Auch als Leser ist man verwirrt und kann nicht mehr zwischen Wahrheit und Phantasie unterscheiden. Hier hätte es wohl einer besseren Erklärung bedurft!
Fazit: Meine Empfehlung, lesen!

Bewertung vom 11.02.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


sehr gut

Affenliebe
Als die Studentin Aimee zufällig im Fernsehen eine Sendung sieht, bei der Professor Guy Schermerhorn mit seinem Schimpansen Sam, dem er das Kommunizieren mittels Gebärdensprache beigebracht hat, auftritt, ist es um sie geschehen. Sie möchte Sam unbedingt kennenlernen und bewirbt sich bei Schermerhorn um die Stelle einer studentischen Hilfskraft. Bereits bei ihrem ersten Besuch im Hause des Professors springt der zweijährige Sam in Aimees Arme und lässt sie nicht mehr los. Sie ist hingerissen von dem kleinen lebhaften Kerl und ist von nun an für sein Wohlergehen verantwortlich. Sie zieht ihn wie ein Kind auf, lernt selbst die Gebärdensprache und unterhält sich mit ihm, verliebt sich in ihn - und wird auch bald die Geliebte des Professors. Doch nach einigen Jahren werden die Fördermittel des Verhaltensforschungs-Programms gestrichen und Guy muss Sam seinem ehemaligen Besitzer zurückgeben, der ihn für Laborversuche zur Verfügung stellen will. Aimee kann es nicht fassen, für sie bricht eine Welt zusammen und so beschließt sie gegen alle Vernunft, den Kampf um Sam aufzunehmen …
Der US-amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle wurde 1948 in Peekskill, New York, geboren. Er studierte Englisch und Geschichte an der New York State University und erwarb den Doktortitel in englischer Literatur des 19. Jahrhunderts. Von Ende der 1970er Jahre bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Er ist bekannt für seine gründlich recherchierten Romane, die oft auf realen Ereignissen basieren, und die in vielen Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt der Autor gemeinsam mit Frau und Kindern in Montecito, Kalifornien.
„Sprich mit mir“ ist ein bitterböser Roman, der mit brutaler Offenheit aufzeigt was geschehen kann, wenn Menschen versuchen Tiere zu vermenschlichen. Ein Tier in Kleidung zu stecken, am Tisch mitessen zu lassen und mit ihm im selben Bett zu schlafen ist weder für den Menschen, noch für das Tier gut. Die Beziehung zwischen Aimee und Sam mag während seiner Kindheit noch tolerierbar sein, nach seiner Geschlechtsreife jedoch unnatürlich und äußerst gefährlich, da ein ausgewachsener Schimpanse Kräfte entwickeln kann, die nicht mehr beherrschbar sind. Gleichzeitig ist der Roman auch eine massive Kritik an Tierversuchen und Experimenten an Tieren, die unter dem Deckmantel der Wissenschaft und Forschung vorgenommen werden.
Neben der interessanten Handlung ist auch der Schreibstil bemerkenswert. Boyle wechselt in der Geschichte die Perspektiven zwischen Aimee, Sam und dem Professor und unterstreicht so die Dreierbeziehung, indem er den Leser jeweils in ihre Gefühle und Gedanken hinein versetzt. Ja, auch Tiere haben Gefühle (wie jeder Tierbesitzer weiß), und besonders die von Sam wühlen auf, schockieren und stimmen sehr nachdenklich. Man ist irritiert von seiner menschlichen Seite und bestürzt, wenn plötzlich das wilde Tier in ihm durchbricht. Hat der Mensch wirklich das Recht, wilde Tiere zu vermenschlichen, in Käfige zu stecken und sie für seine Zwecke zu missbrauchen?
Fazit: Ein außergewöhnlich einfühlsamer Roman über Tierliebe, über die Vermenschlichung von Tieren und über deren Missbrauch – sehr lesenswert.