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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 17.01.2017
Die Mississippi-Bande
Morosinotto, Davide

Die Mississippi-Bande


ausgezeichnet

In dieses spannende Abenteuer einer Kinderbande per Einbaum, Dampfer und Eisenbahn plumpst man als Leser sofort mitten hinein. Erzähler der Handlung aus dem Jahr 1904 sind die Bandenmitglieder Te Trois, der eigentlich Peter Chevalier heisst, Eddie und Julie. Auch der kleine Tit, der anfangs kaum spricht, kommt am Ende noch zu Wort. Die Kinder leben im Mississippi-Delta tief im Süden der USA, am Rand des Bayous, eines Flussarms, der einen Sumpf durchquert. Gerade haben sie gemeinsam aus einem Zypressenstamm einen Einbaum konstruiert, mit dem sie Orte im Sumpf erreichen können, die keine Verbindung zum Festland haben. Ihre geheime Hütte kann nur per Boot erreicht werde, so dass die Kinder hier sicher vor neugierigen Erwachsenen sind. Beim Angeln zieht Te Trois eine löcherige Blechbüchse mit drei Dollarmünzen aus dem Sumpf. Der Betrag muss damals ein kleines Vermögen gewesen sein; ein Fahrrad würde 7$ kosten. Um ihren unerwarteten Reichtum sinnvoll anzulegen, wird der 2000 Seiten dicke Versandkatalog von Walker & Dawn gewälzt. Die Schwarte bietet ein Universum von Dingen an, die im Bayou noch kaum jemand gesehen hat. Die verrückte Idee, bei Walker & Dawn per Post einen Revolver zu bestellen, hat unerwartete Folgen. Statt des Revolvers kommt eine defekte Taschenuhr an, auf die schon kurz darauf ein Fremder scharf zu sein scheint. Im Gegensatz zu den Kindern kennt der angebliche Jack sich im Sumpf nicht aus und wird von einem Alligator getötet.

Mit dem Vermögen aus seinem Gepäck macht sich die Vierer-Bande auf in Richtung Norden, um bei Walker & Dawn in Chicago die Verwechslung aufzuklären und die ausgelobte Belohnung für die wertvolle Uhr zu kassieren. Heimlich - damit sie nicht von den Eltern erwischt und zu Jahrzehnten Hausarrest verknackt werden - legen die Vier im Einbaum ab zu ihrer über 1000 Meilen langen Reise in den Norden. Eddie rudert und Te Trois übernimmt vom Kommandoplatz am Heck die Führung. Unterschiedlicher als die Bandenmitglieder könnten Kinder nicht sein. Eddie, der einzige Brillenträger im ganzen Bayou, hat sich von einem Medizinmann der Choctaw in die Geheimnisse der Natur einweisen lassen und verfügt über ein feines Gehör für Dinge, die andere Menschen leicht überhören. Te Trois ist so couragiert wie ahnungslos von der Welt außerhalb seiner Heimat. Julie hat nur schlechte Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht. Ihre Mutter wurde von der Dorfgemeinschaft und vermutlich dem Ku-Klux-Klan vertrieben, weil sie ein Kind von einem Schwarzen bekommen hat (Tit). Dieser winzige Bruder verfügt über eine Sonderbegabung, ohne die die Geschichte nicht möglich gewesen wäre.

Weiter geht es per Mississippi-Dampfer und schließlich mit der Bahn bis Chicago. Die sonderbare Verwechslung des Revolvers entpuppt sich als Teil eines Kriminalfalls mit zwei Toten. Opfer sind die Inhaberin des Versandhauses und ihr Mörder.

In kurzen Kapiteln, illustriert im Vintage-Stil mit Landkarten, Stadtplänen, Zeitungsausschnitten und Schiffstickets, erzählt Davide Morosinotto vom Abenteuer einer Kinderbande. Wie die Kinder sich durchschlagen und zwischen guten und schlechten Ratgebern zu unterscheiden lernen, liest sich spannend und absolut erfrischend. Vergleiche mit Tom Sawyer sollten sparsam eingesetzt werden, weil viele Leser von einem Buch dann genau die Emotionen erwarten, die der Klassiker früher bei ihnen ausgelöst hat. Als Abenteuergeschichte finde ich das Buch großartig, wenn ich auch leicht skeptisch bin, ob die Entstehung des Versandhandels Zehnjährige nun brennend interessiert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.01.2017
Lebensspuren
Kober, Norbert

Lebensspuren


ausgezeichnet

Einsatz
Die Erzählkarten von Norbert Korber sollen in der Biografiearbeit mit Senioren, in Erzählcafés, biografischen Schreibwerkstätten, beim Schreibcoaching und für Einzelpersonen zur Reflexion des eigenen Lebenswegs zum Einsatz kommen. Ich kann mir die Fragen – mit Einschränkungen - auch als Impulsgeber für Tandemgruppen zum Deutschlernen vorstellen.

Erfahrung in der Altenarbeit
Als Besucherin im Altenheim bin ich vor einiger Zeit kurzfristig für die Honorarkraft eingesprungen, die Gedächtnistraining für die Bewohner anbietet. Die Gruppe bestand aus wechselnden Teilnehmern ab 85 Jahren mit sehr heterogenen Biografien (Zuwanderer, Spätaussiedler). Die Teilnehmer haben unverblümt klargestellt, dass ihnen eine verlässliche Routine und die Beziehung zur Gruppenleiterin ebenso wichtig sind wie der Inhalt der Gespräche. Mit der Frage: Erinnern Sie sich noch an Ihren Schulweg, als sie in die erste Klasse gingen? verlief der Nachmittag sehr erfolgreich. Durch die offene Fragestellung fühlte kein Teilnehmer sich aus der Runde ausgeschlossen. Auch wer direkt neben der Schule wohnte und wer auf einer abgelegenen Farm von der Mutter unterrichtet wurde, kam zu Wort. Fragen, die stark am derzeitigen Lebensstandard in Industriestaaten ausgerichtet sind, empfinde ich dagegen als wertend. Bei den Teilnehmern kann der Eindruck entstehen, dass sie den Anforderungen des Themas nicht genügen und deshalb in der Gruppe nicht willkommen sind. Auch in Konversationsübungen mit jungen Migranten finde ich Fragen ungeschickt, die unreflektiert von bestimmten Lebensformen oder -standards ausgehen. Fragen nach den Eltern oder dem Elternhaus erinnern diese Teilnehmer an erlittene Verluste und können zum Gesprächsabbruch führen.

Das Material
64 Karten im DIN A5-Format mit Anleitungsheft, enthalten in einer nicht sehr stabilen Pappschachtel. Vorder- und Rückseite der Karten sind durchgehend farbig, ein Stern-Symbol kennzeichnet leichte Einstiegsfragen, ein Smiley markiert Karten, die positive Erinnerungen ansprechen.

Inhalt
Gliederung der Fragen in vier Lebensphasen, "Zeit der Ernte", " Gründerzeit" , "Jugend" und "Kinderzeit", außerdem "Mein Lebensweg" zur Reflexion des eigenen Lebens. Die Fragestellungen sind weitgehend offen/neutral. Damit sind sie altersübergreifend und in heterogenen Gruppen einsetzbar (z. B. auch für Partnerinterviews als Arbeitsauftrag). Trotz der 16 recht anspruchsvollen Anregungen zur Reflexion, die nicht für alle Gruppen geeignet sind, genügt der restliche Fragen-Bestand.

Fazit
Die Gestaltung der Fragekarten ist ansprechend, die farbliche Gliederung übersichtlich. Etwas stärker hätte bei der Erarbeitung der Fragen auf unterschiedliche kulturelle Normen geachtet werden müssen. Wir müssen auch in der Altenarbeit zunehmend Teilnehmer und Mitarbeiter integrieren, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind und in deren Heimatländern es z. B. nicht üblich ist, die Eltern und deren Lebensgestaltung kritisch zu betrachten. Zusätzlich zu den vorgeschlagenen Einsatzbereichen kann ich mir die Fragestellungen auch für Gesundheits-Coachings vorstellen, in denen es darum geht, sich zunächst über Gewohnheiten und deren Quelle klarzuwerden, um sie verändern zu können.

Bewertung vom 07.01.2017
Fotokarten Gefühle
Boetius, Jeanette;Irmler, Sandra

Fotokarten Gefühle


sehr gut

Das Training emotionaler Kompetenzen ist Teil der Bildungs- und Erziehungspläne der einzelnen Bundesländer. Wer mit Grundschülern arbeitet, wird bestätigen, dass beim Thema Emotionen sprachlich und sozial erheblicher Förderbedarf besteht.

Das Material
Der sehr dünne, wackelige Pappschuber mit Verschlusslasche wurde beim Transport bereits verknickt. Er enthält 32 Schwarzweiß-Fotos im DIN A4-Format. Die Fotos sind zum großen Teil scharf, mit ausgewogenem Graustufenverlauf. Gedruckt sind die Kinderportraits auf kräftigem weißem Karton mit matter Oberfläche, in einer für Gesichtszüge passenden Gradation. Ein Blatt wiegt 18gr, die Grammatur beträgt circa 300gr/m². Abgebildet sind nordeuropäische Kinder im Grundschulalter mit Focus auf die Gesichtszüge. Kein Kind ist z. B. abweichend von der Norm der Fotos als Südeuropäer zu erkennen. Ein Teil der Portraits sind genderneutral, nicht eindeutig als Mädchen oder Junge einzuordnen, ein Bild zeigt ein Baby.

Inhalt
Zwei Karten enthalten insgesamt 4 Seiten Arbeitshinweise zu den Bildern. Die Rückseite jedes Bilds liefert Diskussionsanregungen für Kinder und Erwachsene, die über die reine Zuordnung von Gefühlen hinausgehen und gezielt danach fragen, wie sich bestimmte Emotionen für das Kind anfühlen. Die Übergänge zwischen einsam/traurig oder trotzig/verletzt sind z. B. fließend und nicht einer konkreten Abbildung zuzuordnen. Da einige Karten keine reinen Gefühle zeigen, sondern Wesenszüge wie Stärke, Gleichgültigkeit oder Situationen wie Geborgenheit, liegt der Schwerpunkt des Arbeitsmaterials stärker auf dem Gespräch als auf der reinen Zuordnung.

Einsatz
Eingesetzt wird die Mappe bei uns in der beruflichen Fortbildung, in der Elternbildung und in der Behindertenarbeit. Da das Anschauungs-Material dafür ständig berührt und hin und her transportiert wird, würden wir einen festen Pappkarton als Verpackung vorziehen. Für die Arbeit mit Kindergartenkindern dürften die Karten auch gern etwas dicker sein.

Fazit
Fotokarten mit Kinderportraits in sehr guter Qualität, Diskussionsanregungen zum Training emotionaler Kompetenzen für die Arbeit mit Kindern und Erwachsenen. Die Auswahl der Fotos finde ich ansprechend, auch wenn der Schwerpunkt nordeuropäischer Kinder heute nicht mehr der Lebensrealität in Kindergärten entspricht.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2017
Unter Tage / Charlie Resnick Bd.12
Harvey, John

Unter Tage / Charlie Resnick Bd.12


ausgezeichnet

Unter Tage ist der 8. Band der Charlie Resnick-Serie. (bei dtv)

Inhalt Als in Nottinghamshire bei Bauarbeiten Jenny Hardwicks Leiche gefunden wird, müssen die zuständigen Ermittler sich 30 Jahre zurück in die Zeit des britischen Bergarbeiterstreiks versetzen. Mit dem Leichenfund ist geklärt, dass die Frau sich 1984 nicht abgesetzt hat, sondern dass der Täter von damals noch in Freiheit lebt. Es wird höchste Zeit, noch einmal Zeugen zu befragen, ehe sie wegsterben. Die Frau war damals von einem Tag auf den anderen verschwunden. Die Erklärungen reichten von „Ihr Mann war ja schon immer gewalttätig“ bis zu „Sie war schon immer aufmüpfig und wird einfach abgehauen sein“. Durch die Familie Hardwick ging der Riss, der damals die ganze Region spaltete. Jennys Mann arbeitet auch während des Streiks weiter, aus Sicht der Bergarbeiter-Gewerkschaft ein Streikbrecher. Jenny engagiert sich für den Streik und die Unterstützung der Familien der Streikenden. Ihr Mann, der seine Familie ernährt, beharrt darauf, dass Haushalt und Kinder Jennys Haushalt und Jennys Kinder sind und er ihr soziales Engagement nicht unterstützen wird.

Der frisch pensionierte Charlie Resnick wird zu den Ermittlungen hinzugezogen, weil Bledwell Vale sein erstes Revier als junger Polizist war und er damals über exzellente Kontakte und Informanten verfügte. Das Team um die schwarze Ermittlerin Catherine Njoroge wird auch mit dem Hintergedanken gebildet, dass Charlie Resnick als erfahrener Kollege die temperamentvolle Catherine bremsen soll. Der Fall soll zwar aufgeklärt werden, aber bitte keinen Staub aufwirbeln.

Auf zwei Zeitebenen lassen sich abwechselnd die Ereignisse zur Zeit des Streiks und die Ermittlungen der Gegenwart verfolgen. Resnick und Njoroge durchdenken Szenarien von der Beziehungstat bis zum Serienmord. Bei ihren Zeugenbefragungen wird deutlich, dass es während des Streiks nicht nur zwei mauernde Fronten gab, sondern dass zusätzlich auswärtige Aktivisten, Aufwiegler u. a. Interessengruppen ihr persönliches Süppchen kochten. John Harvey skizziert den historischen Hintergrund nur knapp, der größte Teil seines Romans fand beim Lesen in meinem Kopf statt. Ich schätze es sehr, wenn die Fakten nicht plakativ vor mir aufgebaut werden, sondern ich meine eigenen Schlüsse ziehen kann. Hier waren es die Auswirkungen der Strukturkrise einer ganzen Region auf das Privatleben Einzelner. Catherine Njoroge kann sich endlos darüber aufregen, wie gleichmütig – beinahe schadenfroh – Jennys Umfeld damals ihr Verschwinden hinnahm. Die Nachbarn meinten, sie wäre aus der ihr zugeteilten Rolle ausgebrochen, und jeder hatte damals andere Sorgen, als darüber nachzudenken, ob eine Frau ihre Kinder einfach im Stich lässt.

Die Verknüpfung zeitgeschichtlicher Ereignisse der 80er mit einem ungelösten Altfall gewinnt zusätzlich durch Harveys differenzierte Personenzeichnung (z. B. der Ermittler McBride). Durch die Persönlichkeit des erfahrenen Ermittlers Charlie Resnick vermittelt die Wiederaufnahme des Falls eine sehr ruhige Atmosphäre. Harvey zeigt sich hier als erfolgreicher Serienautor, den ich völlig zu Unrecht bisher übersehen habe.

Bewertung vom 05.01.2017
Das verborgene Leben meiner Mutter
Dis, Adriaan van

Das verborgene Leben meiner Mutter


ausgezeichnet

Adriaan van Dis‘ Mutter hat niemals etwas aus ihrem Leben erzählt. Ihre Erinnerungen lagerten in einer Truhe, die sie als einzigen Besitz aus dem Übergangsheim für Repatriierte in die eigene Wohnung brachte und deren Schlüssel sie stets an einer Kette um den Hals trug. Obwohl ihre Kräfte sie allmählich verlassen, verschließt und verbirgt sie noch immer jedes Stück Papier, als wollte sie ihrem Sohn etwas verheimlichen. Nun ist die körperlich hinfällige alte Dame fast 100 Jahre alt und ihrem Sohn fällt es zusehends schwerer, sie in ihrer Altenwohnung zu betreuen. Das Verhältnis zu seiner Mutter war stets ein Kampf, der längst nicht zu Ende ist; denn noch hält sie alle Schlüssel in der Hand.

Gesprochen wurde in der Familie nicht über die Kindheit der drei älteren Halbschwestern in Indonesien und nicht über die psychische Krankheit von Adrians leiblichem Vater, der in japanischer Gefangenschaft Furchtbares mitgemacht haben musste. Wegen dieses Wahnsinns in der Familie war der Autor Jahre in Psychotherapie. Van Dis‘ Mutter will ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende bereiten und trotzt ihm das Versprechen ab, dass sie nur um den Preis von früher erzählt, dass ihr Sohn ihr zum Tod verhilft. Zum Ende ihres Lebens kehrt lange Verdrängtes wieder zurück. Sie spricht wieder Malaysisch, telefoniert, erzählt ihre Schwebegeschichten, bei denen die Gedanken in alle Richtungen schweben. Aus Fragmenten kann der Sohn die Familiengeschichte zusammenfügen von der Landpomeranze, die sich in den Niederlanden in einen schneidigen Indonesier verliebt und ihm ans andere Ende der Welt folgt. Er erfährt von den Zumutungen des Tropenklimas, vom Alleinsein als Frau in einer reinen Männerwelt und der Internierung selbst der Frauen durch die Japaner.

Der Kampf mit den Erinnerungen führt auch zur Versöhnung mit der Scham des Sohns über seine verrückte Mutter, die seiner ersten Freundin ihr Schicksal aus der Hand las, während er sich dafür in Grund und Boden schämte. Am Ende taucht der Brief eines befreundeten deutschen Arztes auf, der aus dem Lager-Lazarett beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn berichtet. Für van Dis kann dieses Zeitzeugnis das letzte Tüpfelchen zum Verständnis gewesen sein, warum seine Mutter ihr Leben lang unter allen Umständen hartnäckig ihre Gefühle verbergen musste – auch gegenüber ihren Kindern.

Adrian van Dis veröffentlicht die beeindruckende Geschichte seiner Mutter als Roman, dessen biografischer Anteil deutlich zu erkennen ist.

Bewertung vom 04.01.2017
Das kuriose Neuseeland-Buch
Barnett, Stephen;McCrystal, John

Das kuriose Neuseeland-Buch


ausgezeichnet

Falls Ihnen jemand mit einem kleinen blauen Buch in der Hand Quizfragen über Neuseeland stellen sollte (Wusstest du übrigens, mit welchem Produkt Neuseeland Exportweltmeister ist?), hat derjenige vermutlich dieses kleinformatige Buch in der Hand. Liebhaber von Listen, sonderbaren Rekorden und Fakten aus der Abteilung "weird & disgusting" kommen hier auf ihre Kosten. Neuseeland ist bekannt für seine günstige Quote von Autoren im Verhältnis zur Bevölkerung, für giftige Pflanzen und Tiere und neuerdings als Kulisse für die Herr-der-Ringe-Filme. Aus dem kleinen blauen Buch erfahren Sie, dass die poetische Maori-Bezeichnung für die Inselgruppe auf der Südhalbkugel Aotearoa "Land der langen weißen Wolke" bedeutet und dass Neuseeland und Deutschland traditionelle Beziehungen durch Importe und den Tourismus verbinden. Listmaniker können sich über die beliebtesten Vornamen und die häufigsten Familiennamen (u. a. Singh, Lee und Patel) informieren. In der Abteilung Mord & Totschlag geht es um legendäre Verbrechen, Gangs, Schwarzbrennerei, Schmuggel und das letzte vollzogene Todesurteil. Zu den eigenartigen Fakten, mit denen sich wunderbar Smalltalk betreiben lässt, zählen ein Raketenantrieb namens Kiwi, ein auf der Südinsel gesichteter Puma und Bekleidungsmarotten wie Stubbies, Singles und Jandals. Jandals (im außerneuseeländischen Volksmund Flipflops), die Weiterentwicklung der japanischen Zehensandalen Zoris, hat sich ein Neuseeländer patentieren lassen. Umfassend kann man sich auch über die neuseeländische Musikszene, Rugby und allerlei weiteren statistischen Schnickschnack informieren.

Leidenschaftliche Leser werden das Kapitel über Keri Hulme verschlingen, die erste mit dem Booker Prize ausgezeichnete neuseeländische Autorin. Mir macht der Artikel über giftige Pflanzen und Tiere besonderen Spaß mit einer Auflistung lästiger Zuwanderer wie die Varoa-Milbe, der Keilschwanzlori, die Wasserpest, die Rotrückenspinne und die Argentinische Ameise. Ganz ohne touristisches Unterhaltungsprogramm bleibt auch "das kleine Blaue" nicht: die romantischsten Stellen der Inseln, die Orte mit den meisten Bordellen (1 auf 7000 Einwohner sichert einen vorderen Platz auf der Liste), Friedhöfe mit wunderbarer Aussicht oder Plätze an denen frei Gold geschürft werden darf, sind Reisenden sicher nützlich. Eine Liste der Stoffe, mit denen Kinder sich am häufigsten vergiften, täte uns Deutschen vermutlich auch gut - es sind Paracetamol, Multivitaminpräparate und die kleinen Trocknungskissen mit Silicagel. Ganz sicher wird das knuffige, humorvolle Neuseeland-Kompendium Ihren Wortschatz erweitern, Bludger für Faulpelz z. B. oder Babyfarming für die Kinder-Betreuung durch eine Tagesmutter.

(Der Exportschlager Neuseelands ist Spaghnum, das Torfmoos.)

Bewertung vom 04.01.2017
Ungeschliffener Diamant (eBook, ePUB)
Pung, Alice

Ungeschliffener Diamant (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Die Geschichte des Mädchens Alice begann schon vor ihrer Geburt als sie im Bauch ihrer Mutter aus einem Flüchtlingslager in Vietnam nach Australien kam. Alices chinesischstämmige Großmutter Huyen muss viele Male die Familiengeschichten erzählen, ehe Alice versteht, warum Mutter und Großmutter nach Jahren in Australien noch immer nur Teochew, den Dialekt der chinesischen Provinz Guangdong, sprechen. Die Oma kam aus China nach Kambodscha; arbeitete, wurde die zweite Frau eines erheblich älteren Mannes. Vor dem Pol-Pot-Regime und dessen Killing Fields floh die Familie nach Thailand. "Australien oder Kanada?" wurde Alices Vater im thailändischen Flüchtingslager gefragt. "Austalien", antwortete er, da er wusste, dass es in Kanada Schnee gibt. So kam es, dass Alices Eltern zu Fuß durch drei asiatische Staaten marschierten und schließlich nach Melbourne gelangten. Großeltern, Tanten und Cousinen folgen der jungen Familie, sobald sie es sich leisten können. Um in Melbournes Asiaten-Viertel Footscray zurechtzukommen, muss man die Kunst des knallharten Handelns beherrschen, aber nicht unbedingt Lesen und Schreiben können. Angesehen ist hier, wer auf dem Markt den frischesten Fisch erkennt und Hühner lebend kauft. - Alices Eltern arbeiten und sparen, bis der Vater ein eigenes Geschäft eröffnen kann. Die Mutter produziert zu Hause Goldschmuck; der Großvater bestellt den Garten hinter dem Haus. Man will ja keine Schande über die Rasse bringen, darum bleiben die chinesischen Küchenkräuter streng außerhalb der Sichtweite der Nachbarn. Alice wird von der Großmutter betreut, die sie in kleine wattierte Maoanzüge und seltsame Schlafanzugteile kleidet. Das Verhältnis zwischen Mutter und Großmutter ist alles andere als harmonisch, Enkelin Alice fühlt sich wie eine Informantin, die zwischen Oma und Mutter die Fronten wechselt und von den Gegenparteien ausgehorcht wird. Im Rückblick wird es Alice so vorkommen, als wäre ihre Mutter ständig erschöpft von der Arbeit und immer schwanger gewesen. Als Älteste ist sie mit nur 9 Jahren für ihre beiden jüngeren Schwestern verantwortlich, oft todunglücklich über die wenige Freizeit, die ihr bleibt. Mädchen in asiatischen Familien reifen schnell. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn sie so früh Verantwortung tragen müssen. ... - Alice Pung erzählt mit ihrer Biografie ein Auswandererschicksal, das den Lebensläufen vieler Immigranten ähnelt. Die Treffsicherheit, mit der die junge australische Autorin ihre Gefühlswelt als kleines Mädchen oder als Schülerin zeichnet, macht Pungs Erinnerungen zu einer herausragenden Biografie. Punktgenau trifft sie den lüstern-verschämten Ton, in dem Familiengeschichten über weggegebene Kinder und Zweitfrauen erzählt werden und lästert mit dem altklugen Zynismus Pubertierender darüber, wie sie mit 12 Jahren und ihrer ersten Nähmaschine aus Begeisterung für das Nähen zur Produktpiratin wurde. Die Autorin zeigt sehr kritisch und dabei völlig unlarmoyant den Druck auf Kinder asiatischer Familien auf, ihre Dankbarkeit gegenüber ihren hart arbeitenden Eltern durch beste Schul-Leistungen zu zeigen. Bis sie heiraten - natürlich einen Partner asiatischer Herkunft - werden die Töchter als "ungeschliffener Diamant" streng von der Familie gehütet. Das tiefe Verständnis der erwachsenen Alice Pung für die Situation ihrer Großmutter und ihrer Eltern bewundere ich; es macht mir ihre literarische Figur Alice so sympathisch, dass ich deren Weg zum persönlichen Glück gern noch ein paar Kapitel länger verfolgt hätte.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Frühlingsopfer
Smith, Rosamond

Das Frühlingsopfer


ausgezeichnet

Joyce Carol Oates hat unter dem Pseudonym Rosamond Smith wiederholt das Universitäts-Milieu und auch Gewalttaten zum Mittelpunkt ihrer Romane gemacht. In "Das Frühlingsopfer" verknüpft sie das Schicksal einiger Musikprofessoren des Forest Park Konservatoriums. Margaret Blackburn hat sich für das Unterrichten an einer Universität und gegen eine Karriere als Pianistin entschieden, weil sie sich nicht selbstbewusst genug fand, um im Rampenlicht zu stehen. Maggie lebt allein und hat nur eine enge Freundin. Sie ist in ihrem Beruf angesehen, ihre Kollegen wundern sich nur über den sonderbaren Gegensatz zwischen Maggies direktem Auftreten und ihrem Wunsch nach Zurückgezogenheit. Für die Handlung des Psycho-Thrillers muss Maggies Persönlichkeit wichtig sein, wie auch ihre eigenartigen Erinnerungslücken, da die Musikprofessorin so ausführlich charakterisiert wird. - Im Anschluss an eine Party in Maggies Haus, die sie in offizieller Funktion für neue Studenten und Fachbbereichs-Mitarbeiter ausrichtet, wird ein - männlicher - Student vom prominenten Musikprofessor Rolfe Christensen mit Alkohol abgefüllt und vergewaltigt. Brendan vertraut sich Maggie an und vermittelt ihr äußerst raffiniert das Gefühl, schuldig an den Ereignissen zu sein, da sie ja Täter und Opfer eingeladen hat. "Ihr müsst das doch gewusst haben!", wirft Brendan seiner Fakultätsberaterin vor. Tatsächlich zieht Christensen einen Rattenschwanz von Verfahren wegen Übergriffen auf Studenten hinter sich her, die alle im Sande verliefen. Wie kann ein Mann mit einem solchen Lebenslauf eine Stelle als Musikprofessor ergattern? Maggie lässt der Fall nicht los. Bei einem Gespräch mit Calvin Gould, dem von ihr umschwärmten Dekan, stellt sich heraus, dass Gould über Alkoholexzesse und sexuelle Belästigung Abhängiger durch Christensen sehr wohl informiert ist. Brendan muss derweil vor einem Untersuchungsausschuss des Konservatoriums aussagen. Obwohl die Mitglieder dieser Kommission zum Stillschweigen verpflichtet sind, lässt sich die Tat an der Hochschule nicht unter den Teppich kehren. Brendan und auch Maggie als seine Unterstützerin werden an der Hochschule zu geächteten Außenseitern. Als Christensen tot aufgefunden wird, ist Brendan natürlich der Hauptverdächtige. Doch könnte es nicht weitere Opfer geben, die Christensen in der Vergangenheit missbrauchte und die sich nun an ihm gerächt haben? Könnten Christensens als unverdient angesehener beruflicher Erfolg und sein sichtbarer Wohlstand ein Motiv für die Tat sein? Maggie hat mit einem Mal keine Zeit mehr für unbezahlte Zusatzaufgaben, die ihr die Kollegen aus lieber Gewohnheit aufhalsen wollen. Sie sieht sich als Tochter eines pensionierten Staatsanwalts in der Rolle einer Ermittlerin, die an ihrem Konservatorium das Netzwerk einflussreicher Männer entwirren muss, die sich gegenseitig Posten und Stipendien zuschanzen. - Smith/Oates konstruiert ihren Psychothriller aus dem Zusammentreffen mehrerer exzentrischer Persönlichkeiten; Maggie, die sich wie von Krakenarmen an den Fall Brendan binden lässt, Brendan, der Maggie manipuliert und sich über die Vorgänge an seiner vorigen Hochschule seltsam widersprüchlich äußert, und eine Gruppe homosexueller Männer, die einander in verheerender Hassliebe zugeneigt sind. Die Autorin beschreibt die Persönlichkeiten ihrer Figuren bis ins winzigste Detail und analysiert klug den Mikrokosmos Universität. Die Ereignisse, die der Gewalttat an Brendan folgen, entwickelt sie mit solcher Raffinesse, dass ihre Leser in jedem Kapitel die eigene Wahrnehmung neu infragestellen müssen. Sogar die Erfahrung aus jahrelanger Krimi-Lektüre, welche Mord-Methoden typisch für männliche oder weibliche Täter sein könnten, bringt Smith ins Wanken. Ein subtiler Psycho-Thriller, der aus verschiedenen Perspektiven nach Antwort auf die Frage sucht, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist.

Bewertung vom 04.01.2017
Schmerzfrei & beweglich mit dem neuen Hüftgelenk
Hess, Thomas;Schönle, Christoph;Rödig, Silke

Schmerzfrei & beweglich mit dem neuen Hüftgelenk


ausgezeichnet

Der Patientenratgeber (in der 2. überarbeiteten Auflage) gibt Informationen für die Entscheidungsphase vor dem Ersatz eines Hüftgelenks durch eine Totalendoprothese, informiert über Operation und Heilungsphase und zeigt Dehnungs- und Kräftigungsübungen für die Muskulatur. Eine Abbildung der Hüft- und Beinmuskulatur verdeutlicht, warum sich durch Schonung eines erkrankten Gelenks Haltung und Gangbild ändern und sich die gesamte Muskulatur verkürzt. Klipp und klar wird anhand einer Künstler-Gliederpuppe dargestellt, welche Bewegungen in den ersten Wochen nach einer Hüft-OP verboten sind. Die Auflistung der Kräfte, die z. B. bei Drehung des Gelenks oder beim Treppensteigen wirken, unterstreicht die Hinweise eindrucksvoll. Eine Tabelle klärt auf, für welchen Zeitraum die Verbote gelten, ab wann der Patient wieder Sport treiben darf und welche Sportarten nun infrage kommen Mit Fotos wird vermittelt, was in der ersten Zeit beim Sitzen, Liegen, Bücken und dem Gehen an Stützen zu beachten ist. Eine Reihe von - aufgelisteten - einfachen Hilfsmitteln kann dem Patienten die erste Zeit mit dem künstlichen Gelenk erheblich erleichtern. Die aus der Reha bekannten Kräftigungsübungen nehmen mit 12 Seiten den ihnen zustehenden Raum im Buch ein. Die Faustformel 1 Woche Bettruhe = 2 Monate Muskeltraining bereitet auf den erforderlichen Trainingsaufwand vor. Ein umfangreicher Serviceteil listet Webseiten auf, die über teils spezielle Fragen informieren, z. B. Skilaufen mit einer TEP.

Tipp --> Mit den Suchworten "Hüft-TEP" oder "Knie-TEP" + "pdf" finden Sie im Internet weitere Patienteninfos von Kliniken und Physiotherapeuten, die speziellere Fragen abdecken.

Für ein Büchlein von 100 Seiten im Kleinformat informiert dieser Band zufriedenstellend, dennoch wünsche ich mir die Vertiefung einiger Fragen in einem umfassenderen Patientenratgeber.