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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 08.08.2022
Ein Teil von ihr
Slaughter, Karin

Ein Teil von ihr


ausgezeichnet

Erst einmal vorneweg: ich vermisse Will Trent und Sara Linton. Sehr.
Aber die Qualität von Karin Slaughters stand-alone „Ein Teil von ihr“ hat mich wirklich überrascht. Tatsächlich ist das Buch ja bereits 2018 erschienen, da es aber unter dem Titel „Pieces of her“ als Serie für Netflix verfilmt wurde, ist es jetzt als Buch neu aufgelegt worden. Ich habe es schon vor vier Jahren gelesen, natürlich habe ich es mir jetzt noch einmal vorgenommen. Buch-Eindrücke ändern sich ja im Laufe der Zeit bekanntermaßen. Aber, was soll ich sagen: trotz aller Sehnsucht nach Will und Sara halte ich „Ein Teil von ihr“ immer noch für einen soliden Thriller und eine hervorragende Lektüre.
Aber von vorn.
Stell dir vor, du wirst nach über 30 Jahren von einer Vergangenheit eingeholt, von der du nicht mal wusstest, dass es sie gibt. Deine Mutter, eine unbescholtene, beliebte, 55-jährige Logopädin, beschützt dich vor einem Amokschützen, indem sie ihn tötet und du wirst das Gefühl nicht los, dass sie es genossen hat. Und ehe du dich versiehst, recherchierst du über eine Frau, von der du geglaubt hast, du würdest sie kennen. Aber tatsächlich kennen du und alle anderen aus dem „neuen Leben“ deiner Mutter nur einen Teil von ihr und sie dachte, sie hätte den anderen Teil in ihrem alten Leben zurückgelassen. Damit lag sie falsch. Und das, was du bei deiner Recherche ans Tageslicht bringt, ist nicht nur mehr als verstörend, sondern bringt dich und dein Umfeld in allergrößte Gefahr.
Rasant spannende Geschichten ist man von Karin Slaughter gewohnt. Und da macht dieses Buch auch keine Ausnahme und im Vergleich zu dem für mich eher mauen Stand-Alone „Pretty Girls“ fand ich „Ein Teil von ihr“ wieder richtig gut. Sprachlich ist das Buch wie üblich derbe und mit reichlich blutigen Details gespickt. Der Thriller punktet mit gut ausgearbeiteten Charakteren, von denen jeder sich durch Abgründe auszeichnet, die überraschen, da sie auf den ersten Blick nicht ersichtlich sind. Und auch bei der Geschichte weiß man lange nicht, wohin sie führen wird. Der Schluss nach einigen Irrungen und Wirrungen ist stimmig, die beiden Handlungsstränge von 2018 und 1986 werden zu einem schlüssigen Ende zusammengeführt.
Alles in allem ist es für mich ein handfester und bodenständiger Thriller mit viel Spannung und Pageturner-Potential. Einzig die deutsche Übersetzung liest sich an manchen Stellen leider etwas holprig, was aber den Lesegenuss nicht wirklich schmälert. Perfekte (Urlaubs)Lektüre für Fans von Karin Slaughter, Thriller-Freunde und alle, die die Wartezeit auf den neuen Will Trent/Sara Linton-Thriller überbrücken wollen. Von mir gibt es für dieses Buch auf jeden Fall 5 Sterne.
Im August 2022 erscheint übrigens die Fortsetzung unter dem Titel „Die Vergessene“ (Originaltitel: „Girl. Forgotten“), dort gibt es ein Wiedersehen mit Andrea Oliver, der Protagonistin aus „Ein Teil von ihr“.

Bewertung vom 08.08.2022
Meter pro Sekunde
Pilgaard, Stine

Meter pro Sekunde


ausgezeichnet

Selten hat mich ein Buch so ratlos zurückgelassen wie Stine Pilgaards „Meter pro Sekunde“. Ich fand das Buch zwar schön und die darin verpackten Geschichten sowohl poetisch als auch nachdenklich machend – aber was mir die Autorin mit ihrem Werk sagen will, bleibt mir ein Rätsel. Das Buch kommt für mich über ein „ganz gut“ und „recht nett“ nicht hinaus.
Aber von vorn.
Jütland scheint das „Land der kurzen Sätze“ zu sein. Ich musste auf jeden Fall beim Lesen immer an den Satz über die Norddeutschen denken: „Moin moin ist schon Gesabbel“. Auf diese Form der Schweigsamkeit trifft die von Haus aus quirlige Protagonistin, als ihr Lebensgefährte einen Job an der Heimvolkshochschule von Velling bekommt. Mit dabei ist auch ihr eineinhalbjähriger Sohn, ebenfalls bis kurz vor Schluss namenlos und überwiegend sprachlos. Lichtblicke in ihrer Einöde aus schlaflosen Nächten und ihren Versuchen, mit Mitmenschen in Kontakt zu kommen, sind ihre Fahrstunden. Allerdings nur für sie, ihre Fahrlehrer (sie wird von einem zum nächsten weitergegeben) treibt sie zur Verzweiflung. „Einerseits sind Dauerschüler natürlich eine sichere Einnahmequelle, andererseits kann es auch ein bisschen mühsam werden“, sagt ihre (dritte?) Fahrlehrerin Mona. Vermutlich wird die Protagonistin nie einen Führerschein haben und das ist auch besser so.
Der große Lichtblick in ihrem Leben ist aber ihre Arbeit als „Kummerkastentante“ bei der örtlichen Zeitung und die Treffen mit dem Journalisten Anders Agger. Und so reihen sich mehr oder weniger zusammenhanglos Episoden aus ihrem Leben an Kummerkasten-Texte wie bei einem Flickenteppich. Ihre Antworten auf die Kummerkasten-Briefe sind zwischen philosophisch, banal und schlicht falsch anzusiedeln. Und letztendlich münzt sie auch jede Anfrage auf sich selbst um. „Hier soll es nicht um mich gehen“ – so fängt sie ihre Antworten gerne an und schreibt dann frei von der Leber weg aus ihrem Leben. Vielleicht mangelt es ihr auch an Lebenserfahrung, um wirklich fundierte Ratschläge geben zu können, zumal einige der Fragestellenden älter sind als sie.
Alles in allem fand ich das Buch sehr „dänisch“. Nicht falsch verstehen. Mein bester Freund ist Däne, ich kann fließend Dänisch lesen und schreiben. Aber es werden Dinge erzählt, für die es in Deutschland keine Entsprechungen gibt. Die Heimvolkshochschule, eine Art Weiterbildungsinternat für junge Erwachsene – gibt es in Deutschland nicht. Würde ich in meinem Dort etwas wie „fællessang“ („Gemeinschaftsgesang“) vorschlagen, würde ich mit Fackeln und Mistgabeln verjagt. In Dänemark ist das gemeinsame Singen der Lieder aus dem Højskolesangbog (Liederbuch für Heimvolkshochschulen) eine große Sache. Und nicht zuletzt Anders Agger – wer in Deutschland kennt den für seine bewegenden Reportagen bekannten Journalisten?
Ich denke also, es ist sehr schwierig, ein solches Buch für den ausländischen Markt „passend“ zu machen, allerdings ist die Übersetzung hervorragend. Die Charaktere im Buch sind alle sehr speziell. Die Einheimischen sind kauzig und wortkarg und werden entweder mit Namen genannt (Maj-Britt), nach ihrer Funktion („die Schulleiterin“) genannt oder bekommen Spitznamen („Parkplatzpeter“). Auch die Ich-Erzählerin ist namenlos, ihre Fahrlehrerin nennt sie allerdings immer Dolph, „nach diesem unverschämten mannsgroßen Stoffnilpferd aus dem Fernsehen“.
Stilistisch finde ich das Buch schwierig. Wie in „Dolphs“ Leben trifft Poesie auf Zurückhaltung. Die zusammenhanglosen Episoden mit den ebenfalls völlig alleinstehenden Kummerkasten-Fragen und Antworten machten für mich einen Lesefluss fast unmöglich, da mein Leser-Hirn immer nach einem roten Faden suchte. Kontinuierlich auftauchende Themen gibt es zwar mehrere (die Fahrstunden, die Suche nach einem Namen für den Sohn der Erzählerin, die Treffen mit Anders Agger) aber die sind teilweise mehr „running gag“ als roter Faden. Insgesamt fand ich das Buch aber nur mäßig unterhaltsam. Schade, ich hätte es gerne gemocht. Von mir daher drei Sterne.

Bewertung vom 08.08.2022
Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers
Tordasi, Kathrin

Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers


ausgezeichnet

„Geh niemals nach Sonnenuntergang in den Wald.“ – so lautet die wichtigste Regel für die Menschen in Karin Tordasis Buch „Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers“. Den Kindern wird die Regel von klein auf eingetrichtert, denn „die Nacht gehört dem Wald. Sie gehört dem Mondwandler“. Und dieser holt sich diejenigen, die die Regeln brechen und versetzt sie in einen immerwährenden Schlaf. Finns 13jährige Schwester Hanna hat vor sechs Jahren die Regeln gebrochen, seither ist sie verschwunden. Damit beginnt eine Science-Fiction-Dystopie für junge Leser. Ich bin kein Teil der Zielgruppe, aber mein zehnjähriges Ich hätte mit dem Thema nicht wirklich umgehen können, weshalb ich das Buch eher für Jugendliche ab 13 Jahren empfehlen würde. Denn das, was die Autorin da in eine extrem spannende, wenn auch sehr düstere Abenteuergeschichte verpackt, ist keine leichte Kost.
In Finns Welt hat die Natur begonnen, sich alles zurückzuerobern, was die Menschen ihr im Lauf der Zeit abgerungen haben. Bestehende Häuser wuchern von unten nach oben zu und ohne Schutzhandschuhe kann man nicht mehr vor die Tür gehen. „Man musste jedoch darauf achten, dass alles Gleichgewicht blieb, damit die Natur nicht doch noch alles überwucherte“ – es gibt keine Infrastruktur mehr, Telefone und Internet funktionieren nicht mehr, dafür ist alles grün und die Menschen leben in einem riesigen Urwald. Das Gleichgewicht zu halten, sichert das Überleben. Finns Leben dreht sich seit dem Verschwinden seiner Schwester Hanna hauptsächlich um seine beste Freundin Samira, seine Eltern und seine Oma Vera. Bis eine marodierende Bande Jugendlicher, genannt „die Elstern“, nachts bei seiner Oma einbrechen. Und eines der Mädchen in der Gruppe trägt die schwarz-weiße Pandamütze von Finns Schwester. Obwohl es schon dunkel ist, macht sich Finn auf die Jagd nach dem Mädchen. Ehe er es sich versieht, befinden er und Samira sich in einem wilden Abenteuer und plötzlich ist der Nachtwandler nicht die einzige Gefahr im Urwald. Weitere Ausführungen zum Inhalt spare ich mir, da ich das Buch uneingeschränkt weiterempfehle – also: selber lesen! Es lohnt sich!
Einerseits ist Karin Tordasis Buch ein Abenteuerroman für Jungleser, wobei ich die Altersempfehlung von zehn Jahren etwas nach oben korrigieren würde. Tatsächlich steckt in dem Buch nämlich viel mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Natürlich ist es eine wilde Jagd mit dem Ziel, den Mondwandler zur Strecke zu bringen und die Nachtschwärmer zu finden und zurückzuholen. Aber es ist auch ein dystopischer Roman über die Folgen der Umweltzerstörung und die Frage, was passieren könnte, wenn die Natur „zurückschlägt“. Dazu ist es ein Buch über Freundschaft, Vertrauen, Zusammenhalt und Verrat und über die Chancen und Gefahren von Technik und künstlicher Intelligenz.
Die Autorin hat die Geschichte mit sehr viel Fantasie hervorragend erdacht und gekonnt und mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Ihre Charaktere sind gut ausgearbeitet, auch da folgt sie der Maxime, dass das Gleichgewicht gehalten werden muss: die Geschichte ist zwischen Gut und Böse, Stärken und Schwächen großartig ausbalanciert. Auch die Atmosphäre und die Landschaft, die sie beschreibt, sind greifbar und plastisch. Auch ich möchte das Gleichgewicht halten, daher bei so viel positiven Aspekten auch ein Manko: die Geschichte hat ein paar Längen, die zugegebenermaßen zum Querlesen einladen. Außerdem hätte dem Text an ein paar Stellen ein sorgfältigeres Lektorat nicht geschadet.
Aber alles in allem fand ich das Buch überwiegend atemberaubend spannend und habe es in einem Rutsch durchgelesen. Der Schluss ist stimmig und schlüssig und er hat mich wirklich überrascht, so eine Auflösung hätte ich nicht erwartet. Für diesen Twist ziehe ich meinen Hut vor der Autorin und vergebe für das Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 27.07.2022
Fürst der Füchse
Hechelhammer, Bodo V.

Fürst der Füchse


ausgezeichnet

Als 1977 Geborener muss ich gestehen, dass ich mit Fix und Foxi nur wenig in Berührung gekommen bin. Bussi Bär fand in meiner Kindheit auch nicht statt und Asterix und die Schlümpfe kenne ich nur im nicht eingedeutschten Original. Daher kannte ich auch den Namen Rolf Kauka vor der Lektüre von Bodo V. Hechelhammers Biografie des vor rund 20 Jahren verstorbenen „deutschen Walt Disney“ nicht. Das Buch mit dem Titel „Fürst der Füchse“ ist eine lesenswerte und aufschlussreiche Aufarbeitung des Lebens von Rolf Kauka – und zeigt den Verleger nicht unbedingt als den cleveren und äußerst geschäftstüchtigen Visionär, der er war, sondern vielmehr als sehr zwiespältigen und eher unsympathischen Charakter. So hatte ein kreatives Verhältnis zur Wahrheit, war getrieben ehrgeizig und seinem Erfolg hatte sich alles und jeder, nicht zuletzt seine Familie, unterzuordnen.
Aber von vorn.
Paul Rudolf Kauka, Jahrgang 1917, war ein Kind seiner Zeit, geboren im ersten Weltkrieg, erwachsen geworden im zweiten. Dazwischen war er ein mittelmäßiger Schüler ohne formalen Schulabschluss, aber mit abgeschlossener Lehre als Drogistengehilfe. Der zweite Weltkrieg bescherte dem überzeugten Nazi und begeisterteren Soldaten außer dem Eisernen Kreuz und dem Deutschen Kreuz in Gold chronisches Rheuma und ein Kriegstrauma samt Alpträumen. Als der Krieg endete, war er 28 Jahre alt und musste sich neu orientieren. Er nahm das mit dem „sich neu erfinden“ zu wörtlich, so er sich einen neuen Lebenslauf. Um seine nationalsozialistische Gesinnung und seine Organisationszugehörigkeiten zu verschleiern, machte er gegenüber der Behörde falsche Angaben zu Person und Lebenslauf, er ging sogar so weit, dass er sich als promovierten Literaturwissenschaftler ausgab. Allerdings konnte er die amerikanischen Besatzer nicht überzeugen, der Kontrolloffizier, der für die Vergabe von Verlagslizenzen zuständig war, glaubte ihm nicht und verweigerte ihm die Lizenz. Über Umwege erlangte er sie dennoch und ab den 1950er Jahren erlebte er ein stetes Auf und Ab aus großen Erfolgen und Misserfolgen.
Bodo V. Hechelhammer richtet, vermutlich zum Leidwesen der Fans, sein Haupt-Augenmerk nicht auf die Comics des „Bayerischen Walt Disney“, sondern vielmehr auf dessen Person, verbunden mit seiner Verlagstätigkeit, schließlich hat Kauka die Comics ja nicht selbst gezeichnet, sondern nur verlegt. Akribisch geht der Autor bei Kaukas Nazi-Vergangenheit, seinen Frauengeschichten und den Verlagsgeschäften ist Detail, manchmal etwas zu akribisch, einige Kapitel hätte er gerne etwas straffen können. Interessant für mich war aber vor allem die Gesamtschau des Vermächtnisses von Kauka, das weit über Fix und Foxi und Bussi Bär hinausgeht.
Die Darstellung von Rolf Kaukas Arbeit und seiner facettenreichen Persönlichkeit gelingt dem Verfasser meiner Meinung nach hervorragend. Er stellt ihn als ideenreichen und kreativen Visionär dar und erzkonservativen Freund preußischer Tugenden. Er zeichnet das Bild eines egoistischen neureichen Unsympathen und Schürzenjägers, der in seinem Ehrgeiz bereit war, seinem Erfolg alles unterzuordnen, nicht umsonst sprach von den fünf Kindern aus seinen vier Ehen gegen Ende seines Lebens nur noch eines mit ihm, die anderen hatten sich mit ihm überworfen. Dazu war er ein arroganter Selbstdarsteller und hatte, wenn es um seine Person ging, einen starken Hang zur Beschönigung. Ja, er war DER deutsche Comic-Pionier und hat die deutsche Comic-Landschaft geprägt wie kein Zweiter, aber er war auch ein Lügner und neigte dazu, andere für seine Zwecke auszunutzen. Ich fand „Fürst der Füchse“ aber trotz allem ein gut zu lesendes und interessantes Buch über einen für mich abstoßenden Menschen. Ich empfehle das Buch am ehesten Menschen, die gerne Biografien lesen, Comicfans könnten davon enttäuscht sein, da Kaukas Comics darin nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Ich fand es allerdings eine lohnende Lektüre, mir hat es ein Stück Kulturgut nahegebracht und ich vergebe daher fünf Sterne

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Bewertung vom 20.07.2022
Braunes Erbe
Jong, David de

Braunes Erbe


ausgezeichnet

„Ich bin Kapitalist. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, da freue ich mich schon drüber.“ Mit diesen Worten redete sich Verena Bahlsen 2019 um Kopf und Kragen. Dass sie mit ihrem Geld auch weiterhin Segeljachten und so was kaufen möchte, war da nur ein Sahnehäubchen. Um Jachten und so was ging es auch in einem Interview mit einer anderen schwerreichen Deutschen: „Manche glauben, dass wir ständig auf einer Jacht im Mittelmeer herumsitzen“, so Susanne Klatten, Milliardärin und Mitglied des Quandt-Clans, als sie betonte, wie hart ihr Leben sei („Wer würde mit uns tauschen wollen?“). Was die beiden gemeinsam haben, hat der Wirtschaftsjournalist David de Jong in seinem Buch „Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien“ beleuchtet. Exemplarisch erzählt er am Beispiel der Unternehmerfamilien Quandt, Porsche, Flick, von Finck und Oetker über ihren Aufstieg in der Nazizeit. Dabei schlägt er in dem informativen, interessanten und äußerst lesenswerten Buch einen Bogen vom Damals der Kaiserzeit zum Heute, von den Patriarchen zu den oben genannten Erben der Dynastien.
Aber von vorn.
Sowohl bei Bahlsen wie auch in der Familie Klatten/Quandt entstand ein nicht unbeträchtlicher Teil des Vermögens zwischen 1933 und 1945. Durch großzügige Spenden an die NSDAP („Der NSDAP drohte permanent die Pleite, sie brauchte alle Mittel, die sie bekommen konnte.“), Investitionen in Rüstungsindustrie und die Beschäftigung von Zwangsarbeitern wurden Familien wie Quandt, Flick, Oetker/Kaselowsky, Porsche/ Piëch oder von Fink, die zum Großteil vorher schon wohlhabend waren, schwerreich. Und ihre Spenden an die NSDAP leisteten dem Nationalsozialismus enormen Vorschub.
Und als wären ihr Kriegsprofit, die Arisierungen (dadurch rissen sie nicht nur Fremde und Konkurrenten, sondern ehemalige Kollegen und sogar Freunde ins Verderben) und die Ausbeutung von Zwangsarbeitern nicht schockierend genug, beschreibt de Jong ausführlich den Umgang der Nachkommen mit ihrem „braunen Erbe“. Nachdem die Firmenchefs nach 1945 überwiegend mit einem „Klaps auf die Finger“ (persil)reingewaschen in die Nachkriegszeit gingen, bekamen sie größtenteils ihr Vermögen zurück, mehrten es und hatten weiterhin ihre Finger in allen möglichen Firmen, unter anderem auch in solchen, die sie sich durch Arisierung angeeignet hatten. Nur einer der Finanzmagnaten der Nazizeit wurde bei den Nürnberger Prozessen verurteilt. Und statt mit sich selbst wegen des begangenen Unrechts ins Gericht zu gehen, praktizierten sie, wie beispielsweise Ferry Porsche, eine Täter-Opfer-Umkehr. „Nach dem Krieg wirkte es so, als würden diese Menschen, die von den Nazis verfolgt worden waren, es als ihr Recht ansehen, zusätzlichen Gewinn zu machen, selbst in Fällen, in denen bereits eine Entschädigung gezahlt worden war“, schrieb er unter anderem über den ehemaligen Porsche-Mitbegründer Adolf Rosenberger, dessen Firmenanteil „arisiert“ worden war.
Intransparenz ist bei vielen Firmenerben heute noch Programm, Leugnen, Relativieren und Verharmlosen an der Tagesordnung. Nach Aussage der Erben waren ihre Vorfahren also alle keine überzeugten Nationalsozialisten und keiner verfolgte ideologische Ziele und Zwangsarbeiter wurden immer gut behandelt. Und wenn man ihnen anhand von Quellen nachweisen kann, dass alles doch ganz anders war? Dann geben sie exakt so viel zu, geben eigene Studien zum Thema in Auftrag und spielen, wenn möglich, die Beteiligung ihrer Vorfahren herunter.
Das möchte der Niederländer David de Jong, dessen Großeltern die Nazizeit nur durch Glück überlebt haben, nicht so stehenlassen. Er hat ein wahres Fleißwerk abgeliefert. Minutiös ackert er sich durch Welt- und Familiengeschichte, belegt mit zahllosen Quellen und Querverweisen seine Ergebnisse. Es ist ein teilweise spannendes, auf jeden Fall aber schockierendes Buch, das sehr nachdenklich macht. Von mir eine absolute Lese-Empfehlung für alle, die sich für das Thema interessieren, und fünf Sterne.

Bewertung vom 18.07.2022
Meines Vaters Heimat
Wächter, Torkel S

Meines Vaters Heimat


ausgezeichnet

Michaël Wächter war wohl ein vielseitiger Mensch. Unter anderem arbeitete er als Leiter des militärpsychologischen Instituts und als Hochschullehrer und er schrieb bis zu seinem Tod Kolumnen für schwedische Zeitungen. Genauso kannte Torkel S Wächter seinen Vater. Als Michaël Wächter 1983 starb, räumte der 1961 geborene Torkel zusammen mit seiner älteren Schwester den Nachlass des Vaters in Kartons, diese verschwanden dann für fast 20 Jahre auf seinem Dachboden. Als Torkel beginnt, sie durchzusehen, ändert sich sein Leben ein für allemal und er findet nicht nur einen völlig neuen Zugang zu seinem Vater, sondern auch zu sich selbst. Das Ergebnis einer Suche, auf die er sich gar nie machen wollte, hat er in seinem dokumentarischen Roman „Meines Vaters Heimat“ niedergeschrieben, das schwedische Original mit dem Titel „Ciona“ schrieb er unter dem Pseudonym „Tamara T.“ – um „den Text für sich selbst sprechen zu lassen“. Ein bedrückendes Werk über zwei Generationen, die in unterschiedlicher Weise durch den 2. Weltkrieg und den Holocaust beeinflusst wurden.
Aber von vorn.
Als Torkel S Wächter in Kisten mit dem Nachlass seines Vaters Briefe eines Walter Wächter findet, geht er erst davon aus, dass es sich um einen unbekannten Onkel handeln müsse. Walter und Michaël Wächter haben dasselbe Geburtsdatum. Zwillinge? Nur langsam begreift er, dass Walter sein Vater ist, der 1938 in Schweden Asyl suchte und dort zu Michaël wurde. Eine mühevolle, oft schmerzhafte, fast 20 Jahre dauernde Suche des Sohnes beginnt, eine Suche nach der Wahrheit, den eigenen Wurzeln und der eigenen Identität. Um die Briefe, Dokumente und Tagebücher des Vaters lesen zu können, fängt Torkel an, Deutsch zu lernen, er nimmt sogar die deutsche Staatsbürgerschaft an. Er gibt Transkriptionen der in Sütterlin geschrieben Texte in Auftrag und nähert sich so einem unbekannten Menschen an, von dem er eigentlich dachte, er kenne ihn.
Und er findet nicht nur einen Mann, der viermal verheiratet war, sondern auch einen Menschen, der als Jude im Nazi-Regime die erste große Liebe (eine Christin mit nazitreuer Familie) und Studien- und Karrierepläne aufgeben musste. Einen Menschen, der wegen versuchten Hochverrats im KZ Fuhlsbüttel und in einem Gefängnis bei Bremen saß, gequält wurde, später über Umwege statt nach Palästina nach Schweden kam, sich niederließ, eine Familie gründete, Karriere machte – und doch immer fremd blieb („Ja, auch in Schweden wurden Juden als fremde Vögel betrachtet.“). Und ihm wird klar, wieso sein Vater ihm auf Fragen nach seinem früheren Leben nie wirklich geantwortet hat und ihm auch kein Deutsch beibringen wollte.
Torkel S Wächter nimmt sein Publikum auf beeindruckende Weise mit auf eine spannende Reise: sowohl auf seine eigene Suche und parallel dazu durch die Tagbücher/Briefe/Dokumente mit in die 1930er Jahre in Deutschland und den aufkeimenden Nationalsozialismus. Er besucht Stationen aus dem Leben des Vaters und der Familie, auch von Familienmitgliedern, die er selbst nie kennengelernt hat. So reist er unter anderem nach Hamburg und Italien, aber auch nach Riga, wo seine Großeltern Minna und Gustav im KZ ermordet wurden. Bei der Spurensuche stößt er auf noch lebende Weggefährten seines Vaters, knüpft Kontakte, trifft sich mit der ersten Frau seines Vaters und mit seiner Cousine Jessica, der Tochter seines nach Südamerika emigrierten Onkels Max.
Torkel S Wächter schließt das Buch mit einer gewissen Befriedigung. Er hat einen neuen Zugang zu seinem Vater gefunden, ihn neu kennen- und verstehen gelernt. Er hat viel über sich selbst und die SGSD (Second Generation Stress Disorder, einer Art Posttraumatischem Belastungssyndrom der nächsten Generation) gelernt. Man könnte sagen, er hat sich und seine Identität in einer Mischung aus Deutsch und Schwedisch, Atheismus und Judentum gefunden. Er ist angekommen, das Puzzle seiner Familiengeschichte ist zum Bild geworden, keinem schönen Bild, aber einem stimmigen. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 07.07.2022
Todesbrandung / Emma Klar Bd.7
Peters, Katharina

Todesbrandung / Emma Klar Bd.7


ausgezeichnet

Mit „Todesbrandung“ hat Katharina Peters einen neuen Teil ihrer Serie um die Privatermittlerin Emma Klar vorgelegt. Und, obwohl das Buch bereits der siebte Band der „Ostsee-Krimi“-Reihe ist, besticht er durch seine Spannung, eine gekonnt konstruierte Geschichte und sauber ausgearbeitete Charaktere – sowohl bei den „Guten“ als auch bei den „Bösen“. Peters präsentiert ihrem Publikum einen verworrenen Fall mit einem teuflischen Puppenspieler und bringt ihre Protagonistin in höchste Gefahr und die Leserschaft um die Nachtruhe. Schön ist auch das Wiedersehen mit „alten Bekannten“: Emmas Lebensgefährte Christoph (Inhaber einer Securityfirma) und der ehemalige Journalist Jörg Padorn sind ebenfalls wieder mit von der Partie. Letzterer greift Emma auch in diesem Band mit seinen Recherchen unter die Arme.
Aber von vorn.
„Suchen Sie Jana!“ lautet die Anweisung eines anonymen Anrufers an die Wismarer Privatdetektivin Emma Klar. Dabei handelt es sich um die junge Journalistin Jana Kühn, mit der Emma schon einmal zusammengearbeitet hat. Zuerst macht sich außer ihr niemand Sorgen über deren spurloses Verschwinden, denn als Investigativjournalistin recherchierte häufig im Umfeld der organisierten Kriminalität und tauchte nach Aussagen von Kollegen oft für einige Zeit unter. Als Jana kurz darauf tot aufgefunden wird, steht für die Polizei schnell fest, dass die junge Frau mit einer Überdosis Schlaftabletten Suizid begangen hat. Die Akte wird geschlossen, „das Ergebnis lag längst auf der Hand“. Doch Emma „hatte Angst, Janas Freitod zu akzeptieren“, außerdem gibt es für sie einige Ungereimtheiten. Und dann findet sie nach akribischer Suche in der Wohnung der Toten eine sorgfältig versteckte Mini-SD-Karte. Inhalt: eine Liste mit Namen. Drei Menschen, deren Namen auf der Liste stehen, sind vor kurzem durch Unfälle ums Leben gekommen. Nach dieser Entdeckung nimmt Emmas Ermittlung Fahrt auf und sie muss erkennen, dass der Fall wesentlich weitere Kreise zieht, als sie zunächst dachte. Und er entwickelt sich schnell zu ihrem bislang brisantesten Fall.
„Todesbrandung“ ist ein Krimi wie ein guter Wein, er braucht eine Weile, um sich zu entwickeln. Nach dem Prolog, in dem die Leserschaft eine kleine Idee bekommt, wo die Geschichte hinführen könnte, kommt einiges erstmal anders als man denkt. Nach ein paar Dutzend Seiten nimmt die Geschichte aber Fahrt und Spannung auf und man mag das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Katharina Peters‘ Sprache ist angenehm, der Krimi ist flüssig zu lesen und weitgehend angenehm unblutig, von Gewalttaten wird hauptsächlich aus zweiter Hand berichtet.
Wie von der Autorin gewohnt, sind die Charaktere gut ausgearbeitet und das Buch mit Personen nicht überladen. Katharina Peters konzentriert sich auf einen sehr begrenzten Kreis von Charakteren und gibt jedem ganz spezielle Eigenheiten mit. Die Spannung wird langsam aufgebaut und dann auf hohem Niveau weitgehend gehalten. Die Geschichte dreht sich fast ausschließlich um die Ermittlungen, ein bisschen aus Emmas Privatleben wird eingeflochten, aber da ihr Lebensgefährte an den Ermittlungen beteiligt ist, sind diese unterschwellig immer präsent. Der Schluss ist stimmig und beinhaltet einen Cliffhanger, der direkt Lust auf den nächsten Teil macht.
Obwohl es schon der siebte Teil der Reihe ist, kann man das Buch problemlos auch ohne Vorkenntnisse lesen, alles Wissenswerte wird erklärt. Allerdings empfehle ich allen Krimifreunden natürlich auch die Lektüre der anderen Teile und lege ihnen die anderen Serien der Autorin ebenfalls ans Herz. Emma Klar ist nämlich nicht die einzige starke Ermittlerin aus der Feder von Katharina Peters. Die einzige Frage, die sich mir stellt, ist, wie der Titel „Todesbrandung“ zustande kam. Vermutlich nur qua Gesetz der Serie (alle Titel beginnen mit „Todes“ und enden mit einem maritimen Begriff), denn mit dem Buch selbst hat er nichts zu tun. Das tut der Qualität des Buchs keinen Abbruch, daher gibt es von mir natürlich fünf Sterne.

Bewertung vom 05.07.2022
Perfect Day (eBook, ePUB)
Hausmann, Romy

Perfect Day (eBook, ePUB)


gut

„Perfect Day“ war mein erstes Buch von Romy Hausmann und es lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits fand ich den Zugang zur Handlung vor allem am Anfang schwierig, andererseits konnte ich das Buch aber auch nicht aus der Hand legen, da die Neugier auf den Schluss überwog. Insgesamt wird der Thriller mir nicht im Gedächtnis bleiben. Oder vielleicht werde ich mich doch an ihn erinnern, unter der Überschrift: schwierige Charaktere tun schwer nachvollziehbare Dinge.
Aber von vorn.
Ausgerechnet mit Lou Reeds „Perfect day“ als Hintergrundmusik wird der 55jährige Philosophieprofessor und Anthropologe Doktor Walter Lesniak sechs Wochen vor Heiligabend vor den Augen seiner Tochter Ann verhaftet. Er soll im Verlauf von fast 15 Jahren zehn Mädchen im Alter zwischen sechs und zehn Jahren entführt und getötet haben. Rote Schleifen wiesen der Polizei wie bei einer makabren Schnitzeljagt den Weg zu den Leichen. Zuerst wurde er daher „Schleifenmörder“ genannt, später bezeichnet ihn die Boulevardpresse als „Professor Tod“. Ann kann nicht glauben, dass ihr Vater ein Serienmörder sein soll. „Deswegen ist es jedes Mal wieder ein Schock. Da hilft auch kein verpixeltes Fotogesicht. Sie schreiben über dich, sie sind sich ihrer Sache so sicher. Ein Zufall, ich weiß, Papa. Du bist kein Mörder. Sie irren sich so schrecklich, aber das wollen sie einfach nicht einsehen. Lieber verbreiten sie weiter ihre Lügen, ihre Lügen, ihre gottverdammten Lügen.“ Während ihr Vater in Untersuchungshaft sitzt, macht sie sich auf die Suche nach dem wahren Mörder, denn die Schuld des einen wird die Unschuld des anderen beweisen. Und Ann, ihre Freundin Eva und ihr Freund Jakob begeben sich bei ihren Nachforschungen in größte Gefahr.
So weit, so gut. Und vor allem so spannend und fast genial durchdacht. Die Art und Weise, wie Romy Hausmann ihre Geschichte aufbaut, ist sowohl clever als auch kompliziert. Sie erzählt sie hauptsächlich aus der Sicht von Ann. Dabei ist unter der Überschrift „Ann“ die eigentliche Handlung, datiert, beginnend im Dezember 2017. Es gibt Einflechtungen, die an Tagebucheinträge mit Gedankenfragmenten aus Anns Kindheit erinnern (gekennzeichnet durch kursive Schrift und Vermerke wie „Ann, 7 Jahre alt“), Kapitel mit der Überschrift „Wir“ sind Anns Erinnerungen an Erlebnisse und Begebenheiten mit ihrem Vater, die beiden haben ja nach dem Tod der Mutter nur noch einander. Und es gibt die transkribierten Gespräche mit dem inhaftierten Täter aus dem Jahr 2021. So, wie die Perspektiven wechseln, wechseln natürlich auch die Zeitebenen, mal ist die Geschichte im Präsens, mal in der Vergangenheit erzählt.
Romy Hausmanns Sprache ist angenehm, aber gewöhnungsbedürftig. Zwar schreibt sie sehr anschaulich und in gefälliger Sprache, dennoch fand ich die Lektüre durch die vielen Perspektivwechsel einfach nur anstrengend und oft hatte ich Probleme, die vielen Nebencharaktere auseinanderzuhalten. Die Hauptcharaktere fand ich hingegen eher blass und vor allem mit der Protagonistin Ann konnte ich bis zum Schluss nicht warm werden. Viele ihrer Aktionen kann ich zwar nachvollziehen, andere hingegen sind so naiv und unbedacht, dass ich nachschauen musste, wie alt sie eigentlich ist, da ihre Handlungen oft eher zu einer Zehnjährigen als zu einer Mittzwanzigerin passen. Insgesamt finde ich aber, dass die Autorin psychologische Eigenheiten ihrer Charaktere sehr gekonnt auf- und ausarbeitet.
Den Spannungsbogen fand ich im ersten Drittel sehr hoch, er flaut aber im Verlauf der Geschichte stark ab. Viele Passagen hätten ersatzlos gestrichen werden können, da sie zum Buch nicht wirklich beitragen. Alles in allem schöpft die Autorin das Potential ihrer an sich guten Idee bei weitem nicht aus. „Logik entwirrt den Knoten“ schreibt die Autorin an einer Stelle, doch leider basiert ein Großteil ihrer Logik auf (weit hergeholten) Zufällen. Ich bin zwar nicht wirklich enttäuscht, aber auch nicht begeistert. Daher vergebe ich wegen der guten Idee und der angenehmen Sprache drei

Bewertung vom 27.06.2022
Der Mann in den Dünen
Johannsen, Anna

Der Mann in den Dünen


ausgezeichnet

Menschen verschwinden. Ältere Menschen verschwinden. Schwerreiche Menschen verschwinden. Reinhardt Dormann ist 79 Jahre alt, Reeder aus Hamburg und verschwindet am hellichten Tag am Strand von Sylt. Damit beginnt Anna Johannsens neues Buch „Der Mann in den Dünen“. Es ist der erste Fall für Kriminalhauptkommissarin Lena Lorenzen nach ihrer Elternzeit (insgesamt aber schon der neunte Teil der „Inselkommissarin“-Reihe) und sie und ihr Kollege Johann Grasmann stoßen auf ungeahnte Schwierigkeiten. Denn die Kinder des Verschwundenen sind nicht wirklich hilfreich bei den Ermittlungen und nach und nach tauchen Dinge auf, die das Leben des Reeders wenig harmonisch erscheinen lassen, aber reichlich Potential für einen spannenden bieten, vor allem, als nach kurzer Zeit Blutspuren am Strand gefunden werden.
Aber von vorn.
Reinhardt Doormann, Reeder im Ruhestand, geht jeden Tag mit seinem Hund Hermann am Strand spazieren. Als der 79-Jährige nach einigen Stunden nicht zurückgekehrt ist, informieren Angehörige die Polizei und Lena Lorenzen und ihr Kollege Johann Grasmann beginnen mit ihren Ermittlungen. Parallel dazu sucht ein Team aus Freiwilligen nach dem rüstigen Rentner. Als sein Hund erschossen und vergraben aufgefunden wird und in der Nähe auch seine Brieftasche auftaucht, wird immer klarer, dass Doormann sich nicht einfach nur verlaufen hat. Ermittlungen im Familienkreis gestalten sich schwierig, die drei Kinder (zwei eheliche und ein uneheliches) sind nicht wirklich kooperativ nur sehr eingeschränkt bereit, der Polizei zu helfen. Nur zögerlich gibt Marc Doormann, der älteste Sohn des Reeders und CEO der Reederei, zu, dass die Firma seit längerem von militanten Umweltschutzorganisationen bedroht wird. Er hat die Drohungen nie ernst genommen – steckt eine der Organisationen hinter dem Verschwinden des Seniorchefs? Und dann verschwindet auch noch Walter Rubert, der eine Mischung aus Hausmeister und Leibwächter von Reinhardt Doormann ist. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und ein Kampf gegen die Mauern aus Schweigen, die die Kinder des Verschwundenen bauen.
Ich kannte die Autorin von den Büchern ihrer „Enna-Andersen-Reihe“ und mag ihren geradlinigen Stil sehr gerne und schätze die Bodenständigkeit ihrer Geschichten. Ihre Sprache ist alltagsnah und kommt fast gänzlich ohne Kraft- und Fäkalausdrücke aus, was ich als äußerst angenehm empfinde. Die Autorin schafft es, die Spannung im Verlauf des Buchs stetig zu steigern, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen flicht sie Episoden aus dem Privatleben ihrer Protagonistin ein. Diese ist nach der Elternzeit wieder zurück im Beruf und sie ist hin- und hergerissen zwischen der Freude über ihren Einsatz („Ich habe ihr gesagt, dass ich rausmuss aus dem Büro.“) und der Tatsache, dass sie ihren kleinen Sohn Bent und ihren Mann Erck sehr vermisst. Diese Passagen bieten der Leserschaft eine wohltuende Verschnaufpause in der sonst hohen Spannungskurve.
„Der Mann in den Dünen“ ist ein solider Krimi mit aktuellem Bezug (unter anderem geht es um CO2-Emissionen im Allgemeinen und von Frachtschiffen im Besonderen und die Radikalisierung von Umweltschützern). Er ist angenehm zu lesen, die Spannungskurve ist hoch, es gibt einige Verdächtige, sodass ich Spaß am Miträtseln hatte – alles in allem bietet das Buch also alles, was die Herzen von Krimifans erfreut. Es ist mir ein Rätsel, wie mir die Serie bislang entgehen konnte. Von mir daher natürlich fünf Sterne und eine klare Lese-Empfehlung.

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Bewertung vom 27.06.2022
Die Gottesmaschine
Kleindl, Reinhard

Die Gottesmaschine


gut

Die Idee hinter „Die Gottesmaschine“ von Reinhard Kleindl hat mich als Agnostiker sehr angesprochen: ein mathematischer Beweis der Existenz Gottes, das Thema interessiert mich enorm. Herausgekommen ist für mich aber ein eher halbgarer Thriller vor der malerisch-gruseligen Kulisse eines abgelegenen Klosters und eine Geschichte, die mich abwechselnd an Umberto Ecos „Der Name der Rose“ und Dan Browns Robert-Langdon-Reihe erinnerte. Knackige Episoden mit packender Spannung wechselte sich für mich mit langatmigen Passagen ab, sodass mich das Buch letzten Endes nicht wirklich begeistern konnte.
Aber von vorn.
Der römische Weihbischof Stefano Lombardi ist auf Einladung seines alten Freundes Alessandro Badalamenti im abgelegenen Kloster L’Archange Michel nahe dem Montblanc. Im Kloster geht es allerdings weniger um ora et labora oder das benediktinische Credo „Ora et labora et lege“ (bete, arbeite und lies), sondern mehr um wissenschaftliche Forschung. Genauer gesagt: die Schaffung eines Quantencomputers, mit dem sich die Geheimnisse der Schöpfung ergründen, und damit auch die Existenz Gottes beweisen lassen. An der Forschung beteiligt ist Bruder Sébastian, der Ziehsohn von Lombardis Freund Badalamenti. Als dieser ermordet im Computerraum aufgefunden wird, beginnt einerseits die Jagd nach dem Mörder, andererseits aber auch die Suche nach der Entdeckung, die der Mönch gemacht hat. Oder haben soll. Auf jeden Fall versucht irgendjemand, die Entdeckung genauso verzweifelt geheim halten zu wollen, wie andere versuchen, den Mörder zu finden. Eine wilde Jagd durch alte Gemäuer beginnt.
Die Geschichte begann für mich spannend und packend, sodass ich leicht ins Geschehen eintauchen konnte. Die wissenschaftlichen Aspekte fand ich spannend, die (mathematik-)historischen Elemente gut verständlich und sehr interessant dargebracht. Trotzdem lässt mich das Buch eher unbefriedigt zurück. Der Autor selbst hat theoretische Elementarteilchenphysik studiert und sein Diplom mit Auszeichnung gemacht – die wissenschaftliche Seite des Buchs hat also Hand und Fuß. Aber weder sprachlich noch formal konnte es mich wirklich begeistern, da hatte ich etwas anderes erwartet.
Zwar besticht die Geschichte durch eine Menge (sicherlich korrekter) Informationen und eine sehr gute Idee, schwächelt aber bei der Umsetzung sowohl in puncto Handlung als auch bei der Ausarbeitung der Charaktere. Diese bleiben eindimensional und ohne jegliche Tiefe, selbst der Protagonist blieb blass und unnahbar, von den anderen Charakteren möchte ich gar nicht erst reden. Dabei hätte vor allem die Figur Lombardis ein immenses Potenzial geboten, das der Autor meiner Meinung nach verschenkt.
Sprachlich konnte mich das Buch ebenfalls nicht begeistern. Zwar ist es einerseits flüssig zu lesen, aber es besteht ein für mich zu krasser Kontrast zwischen den wissenschaftlichen Passagen und dem Rest, der auf mich sehr umgangssprachlich wirkt. Da zeigt der Autor zwar großes Wissen, aber wenig Fingerspitzengefühl für Sprache und hat mich nicht wirklich angesprochen. Die vielen zum Teil sehr kurzen Kapitel enden zum Teil mit einem Cliffhanger. Das sorgte zwar einerseits für ein sehr hohes Erzähltempo, was aber oft durch „verkopfte“ Passagen ausgebremst wurde. Dadurch entstand für mich statt des einheitlichen Spannungsbogens eher eine Sinuskurve und auch die Geschichte an sich wird, statt linear zu verlaufen, eher zum reichlich unrunden Flickenteppich, gewebt aus eine Menge Geheimniskrämerei, einem Mord und einer wilden Mischung aus Religion, Philosophie und Wissenschaft mit einer Prise Misstrauen gegen alle und jeden.
Alles in allem hat das Buch mich zwar gut unterhalten und ich habe eine Menge Neues gelernt, kommt aber über ein „okay“ nicht hinaus. Der Autor hat meiner Meinung nach zu viel gewollt und sich stellenweise verrannt und alles wird zu einem eher mauen Abklatsch von Dan Brown oder David Baldacci. Von mir 2,5 Sterne, aufgerundet auf 3.