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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 15.07.2008
Die Glasmenagerie
Williams, Tennessee

Die Glasmenagerie


ausgezeichnet

Erinnerungen sind oft ein Spiel, gefärbt von demjenigen, der sich erinnern will. Seine persönliche Sicht prägt jedes Ereignis darin. Man sollte bei diesem Stück nie vergessen, dass Tom Wingfield vor etwas geflüchtet ist, wenn er in seiner Erinnerung zu seiner Familie nach St. Louis zurückkehrt. Eine Familie, in der jeder auf seine Weise, den ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen sucht, in der Tom durch seine Arbeit den Vater ersetzt, zum Familienoberhaupt einer Familie erkoren ist, die er sich selbst nicht ausgesucht hat, an die er durch die Geburt gebunden ist. Seien es die Südstaaten der Mutter, sei es, dass Tom sich als Dichter sieht, oder Laura sich in die Glasmenagerie zurückzieht. Sie flüchten vor dem da draußen, vor sich selbst und den anderen in der Familie. Das Leben ist nur so zu ertragen. Kein Wunder, dass ein Außenstehender alles durcheinander bringt, wenn er in dieses Arrangement bricht. Plötzlich keimt Hoffnung auf, die Mutter sieht bessere Zeiten anbrechen, die Tochter ist womöglich verliebt, weil sie schon in der Schule für Jim geschwärmt hat. Geblasenes Glas. Schön für die Vitrine, bei allzu häufigem Gebrauch äußerst fragil. Dass am Ende all das wie das Einhorn zerbricht, veranlasst Tom dazu, wie sein Vater das Weite zu suchen. Zu filigran ist das Spinnennetz gestrickt, in der sich die Welt seiner Familie verfängt, weil sie nicht so sein darf, wie sie ist. Arm und hoffnungslos. Da flüchtet man lieber in seine Träume und baut sich eine Welt auf, wie sie sein sollte. Interessant wäre die Frage zu beantworten, inwieweit Toms Erinnerungen sich so eingefärbt haben, damit er den Ballast loswurde, sich wie sein Vater davonmachen konnte. Tennessee Williams wird uns das nicht beantworten.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 15.07.2008
Ein dickes Fell / Cheng Bd.3
Steinfest, Heinrich

Ein dickes Fell / Cheng Bd.3


gut

Wer Thriller mag, wird sich mit diesem Roman schwer tun. Nicht der Suspense steht im Mittelpunkt, vielmehr die skurile Beschreibung einer Tat. Angefangen bei der weiblichen Killerin, die schlecht schießt, über den Detektiven Cheng und seinen Hund Lauscher, hin zu einem Komponisten, der an Zeitlöcher glaubt, über Siamesische Katzen und elfjährige Töchter, die sich bemühen, ihre Mutter zu verheiraten, begegnet man vor allem eins: dem Schmäh. Steinfels Sprache schlägt überzeugende Kapriolen und sein Roman ist weniger etwas für geschulte Krimileser, als für jene, die mit dem Genre spielen und ihm Facetten abgewinnen wollen, die weniger dem Spannungsaufbau als dem Schmunzeln dienen. Alles dreht sich um die Rezeptur von 4711- Echt Kölnisch Wasser, der magische Fähigkeiten zugesprochen werden. Ein hübscher Gedanke, für Anhänger Steinfest sicher ein Genuss. Es wird gemordet und selbst der Detektiv stirbt beinah, es tauchen überraschende Doppelgänger auf, die sich anmaßen, das Leben ihres Vorbilds einnehmen zu wollen, an Einfällen, mangelt es dem Roman nicht. Man muss das mögen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 14.07.2008
Endstation Sehnsucht
Williams, Tennessee

Endstation Sehnsucht


ausgezeichnet

Es gibt Stücke, die leiden an ihren Verfilmungen. Wer heutzutage in Endstation Sehnsucht geht, misst Stanley Kowalski sogleich an Marlon Brando, was es für einen Schauspieler nicht einfach macht, sich gegen ihn zu behaupten. Williams Stücke sind allesamt visuell, körperlich. Die Menschen schwitzen, die Menschen hassen, sie schlagen um sich. Sei es sprachlich, sei es, indem sie handgreiflich werden. Sie fallen wegen ihrer realistischen Darstellung und physischer Präsenz sogleich aus dem Rahmen. Bei Williams muss man sogleich Stellung beziehen. Mag man diesen Kowalski, man mag diese Blanche, diese Stella? Es fällt auf, dass wer sich für eine dieser Figuren zu begeistern vermag, die anderen nicht mag. Leser, wie Zuschauer beziehen Stellung. Etwas, was den meisten Autoren nicht gelingt. Williams schafft dies mit einer Leichtigkeit, weil er vom Leben abschreibt. Es ist nie die Frage, ob es einen solch brutal seine Männlichkeit ausspielenden Kowalski, eine so abstrus sich der Wirklichkeit entziehende Blanche überhaupt gibt. Die eigentliche Kraft zieht Endstation Sehnsucht aus dem Moment, dass Menschen sich aneinander aufreiben. Das mag im Leben eines Lesers oder Zuschauers weniger heftig sein, doch er kennt das Gefühl. Selten hat es einen Stücktitel geben, der so treffend ist. Selbst in der Endstation vermögen wir nicht, die Sehnsucht zu verbannen. Sie bleibt. Egal wie.
Polar aus Aachen

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.07.2008
Geschlossene Gesellschaft
Sartre, Jean-Paul

Geschlossene Gesellschaft


sehr gut

Es gibt Stücke, die sind so zum Selbstläufer geworden, dass sie sich auf einen Satz reduzierten lassen: Die Hölle, das sind die anderen. Ein Schlüsselsatz des Existenzialismus, den wir nur allzu gerne aufgreifen, um das Leben abzuhaken. Sartre zeigt eins: Der Mensch hält es mit dem Menschen nicht aus. Eine Erkenntnis, die während eines Krieges gefaßt, nur allzu nachvollziehbar ist. Es gibt allerdings auch die Erkenntnis, dass man sich überall hin mitnimmt. In der Geschlossenen Gesellschaft steckt die Wahrheit, dass für jeden ein Zimmer bereitsteht, in dem man erwartet wird. Das Zimmer trägt man mit sich rum, richtet es ein, während man lebt. Die Abrechnung findet bei Sartre in einem merkwürdigen Hotel statt. Oder ist es gar kein Hotel? Ein Hospiz? Ein Altenheim? Die Hölle? Der Himmel? Über Glück oder Unglück entscheidet der Mensch nicht selber. Das Urteil spiegelt sich auf einer bewegten Wasseroberfläche, in den anderen ab, in denen, die auch noch da sind, in denen, die vergessen wurden, in denen, die zu viel mit auf den Weg bekommen haben. Auch in uns selbst. Die Geschlossene Gesellschaft ist das Spiegelkabinett der Seele. Hoffnungen und Niederlagen enden darin, dass nichts mehr bewegen wird, dass einem nur die Zeit bleibt, über alles immer und immer wieder nachzudenken.
Polar aus Aachen

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.07.2008
Schlaf nicht zu lange / Charlie Resnick Bd.3
Harvey, John

Schlaf nicht zu lange / Charlie Resnick Bd.3


sehr gut

Und wieder wird Elder aus seiner Idylle in Cornwall gerissen. Was einen zu Anfang stört, weil der Einstieg einem allzu bekannt vorkommt. Diesmal handelt es sich nicht um einen alten Fall, der John Elder nicht in Ruhe läßt, auch seine Tochter Katherine gerät nicht in Gefahr, diesmal bittet ihn seine Frau wegen einer Freundin um Hilfe. Erst will er nicht, doch das glaubt ihm sowieso keiner. Das bewährte Konstrukt des ausgestiegenen Polizisten, der sich einmischt, bewährt sich auch in John Harveys drittem Roman. Elder ist ein Ermittler, der eher herumschleicht, auf Gespräche vertraut, als auf die neuesten kriminaltechnischen Errungenschaften zu vertrauen. Auch wenn er diesmal in die Tiefen der Partnerschaftsvermittlung via Internet einsteigt und die daraus möglichen sexuellen Verwicklungen bis hin zur Gewalt als Luststeigerung schildert, gleicht das Personal von Prior über Elders ehemalige Familie bis zum überehrgeizigen Inspektor und dem alles überwachenden Constable, die uns bestens bekannt sind. Es ist die Mischung aus verwickelten Familienbeziehungen und überzeugenden Charakterstudien, die Elder auf seinem Weg streift, um einen Fall zu lösen, die seine Romane so kurzweilig machen. Geradeso als nähme Elder uns mit und sage uns, setz dich hin und höre zu. Die Menschen verraten sich, durch das, was sie nicht sagen. Dass dabei der Mörder sich früh zu erkennen gibt, ist nicht weiter tragisch. Er muss erst noch überführt werden. John Harvey vermag zu erzählen und einen Plot, dessen Eckpfeiler feststehen, interessante Varianten abzugewinnen. Diesmal, indem der Mörder am Ende von jemandem gerichtet wird, der ihm allzu nahe steht.
Polar aus Aachen

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.07.2008
Maigret und die Keller des 'Majestic'
Simenon, Georges

Maigret und die Keller des 'Majestic'


sehr gut

Am Anfang steht das Pech. Der spätere Hauptverdächtige fährt mit dem Fahrrad zu Arbeit, hat einen Platten und kommt zehn Minuten zu spät. Diese zehn Minuten werden später Maigret von seiner Unschuld überzeugen, während ein übereifriger Staatsanwalt den Mann unbedingt der Tat überführen will. Schließlich geht es um den Mord an der Gattin eines Amerikaners, dessen Verhör seine Vorgesetzten Maigret lieber nicht anvertrauen wollen. Maigret outet sich in diesem Roman als Proletarier, der sich in Hotels wie das Majestic unwohl fühlt. Simenon schildert das Leben im Hotel vor und hinter den Kulissen und seine genaue Beobachtungsgabe wird ihn zur Auflösung des Falls führen, in dem ein Mann ein Sohn untergeschoben, einem zweiten einer genommen wird. Unterschriften werden gefälscht, ein Bankkonto ohne das Wissen des Inhabers weitergeführt, Liebe vorgespielt und ausgenützt. Seine Recherchen führen Maigret bis nach Cannes ins Milieu der Animierdamen, doch sein Betätigungsfeld bleibt Paris, da kennt er sich mit Verbündeten wie Konkurrenten, wie stillen Briefkästen bestens aus.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 11.07.2008
Mord auf Widerruf
Hill, Reginald

Mord auf Widerruf


sehr gut

Wenn Andy Daziel einen Mann in Verdacht hat, läßt er sich nicht leicht von der Spur abbringen, auch wenn seine Vorgesetzten ihn anweisen, die Untersuchung abzuschließen. Zumal wenn er selbst verspäteter Augenzeuge beim Selbstmord oder Mord an Gail Swain war und sich auf seinen ersten Eindruck verläßt. Drei Männer und eine tote Frau am Tatort. Einer der Verdächtigen wird sich absetzen, die Aussage des ersten sich verdächtig nach ein paar Tagen der des zweiten annähern. Doch Daziel läßt sich nicht von seinem Gefühl abbringen. Der Unternehmer Swain ist in seinen Augen schuldig. Eine der witzigsten Szenen im Roman besteht aus der Rekonstruktion des Gesehenen, dem sich Daziel durch Pascoe verleitet unterzieht, und sich dabei genauso hilflos anstellt, wie die Zeugen, die er sonst selber verhört. In bester britischer Whodunit-Manier beschreibt Hill die Aufklärung des Falles. Gespräche, Verhöre, Erkenntnisse der Spurensicherung und plötzliche Einfälle, wie, wo das Rauschgift womöglich deponiert worden ist, bringen den Leser der Lösung näher. Hills Roman unterscheidet sich jedoch wohltuend von anderen seines Genres, indem er das unnachahmliche Paar Daziel und Pascoe auftreten läßt. Der Kotzbrocken und der Biedermann, denen man nur allzu gerne bei der Arbeit zuschaut. Zumal Hill eine wunderbare Pointe einbaut und Tätersuche vor dem Hintergrund eines Passionsspiels entwickelt, in dem der Hauptverdächtige Swain und Daziel den Teufel und Gott spielen sollen. Witzig, ironisch, mit ausgefeilt spitzfindigen Dialogen läßt Hill keinen Seitenhieb aus, das macht die Geschichte äußerst kurzweilig.
Polar aus Aachen

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.07.2008
Gruppenbild mit Dame
Böll, Heinrich

Gruppenbild mit Dame


ausgezeichnet

Mit Gruppenbild mit Dame ist Heinrich Böll ein faszinierendes Bild der Bundesrepublik gelungen, die gefangen in den Schlingen des Nationalsozialismus ein eigenes Profil suchte und dabei Menschen ausgrenzte, die nicht zum Bild des Wirtschaftswunders passten. In Leni Pfeiffer beschreibt der Autor ein Frauenschicksal im zweiten Weltkrieg wie in der Bundesrepublik, das abseits von Herd und Heim sich das Recht herausnimmt, über ihr eigenes Leben bestimmen zu wollen. Vom Schicksal gezeichnet drohten Frauen wie Leni Pfeifer zu zerbrechen, wurden auf sich selbst zurückgeworfen, schlüpften nach dem Krieg wieder in ihre Rolle als Frau, wurden unterdrückt, passten sich an, gaben auf. Anders Leni Pfeifer. Sie stemmt sich den Widersprüchen entgegen, hilft, widersetzt sich und behält jene Menschlichkeit, die anderen verlustig geht. Ihren Frieden jedoch findet sie nur am Rand der Gesellschaft, obwohl sie dort auch angefeindet wird. Böll erzählt wie für eine Reportage. Er stützt sich auf Dokumente, Gespräche, baut eine fiktive Wahrheitssuche auf. Er splittert die Geschehnisse in Gespräche auf und sorgt so dafür, dass sich wie bei einem Mosaik das Bild einer Frau zusammensetzt, sich Parallelen öffnen, wenn sie sich nach dem Kriegsgefangenen Boris in einen türkischen Gastarbeiter im Nachkriegsdeutschland verliebt. Kein Roman für Leser, die geradlinige Geschichten lieben. Eher eine Geschichte für jene, die wissen, dass das Leben sich aus Momenten und dem zusammensetzt, was andere über einen erzählen und zu wissen vorgeben.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 08.07.2008
Das Treffen in Telgte
Grass, Günter

Das Treffen in Telgte


sehr gut

Als die Erzählung erschien, wurden die Ereignisse und Personen sofort mit dem Ende der Gruppe 47 unter der Leitung von Hans Werner Richter verglichen, dem die Erzählung auch gewidmet ist. Verlagert in die Zeit des Westfälischen Friedens treffen sich auch hier Dichter, um sich gegenseitig auszutauschen und die politischen Umwälzungen ihrer Zeit zu diskutieren. Wer die Querverbindungen nicht kennt, wird trotzdem auf eine meisterliche Fabel über das Jahr 1647 stoßen, auf ein Treffen, das von den politischen Meinungsunterschieden, der Bedrohung durch schwedische Truppen geprägt ist. Natürlich hat es diese Treffen nie gegeben, doch es erzählt davon wie Künstler versuchen, Einfluss zu nehmen. Grass ist stets der Chronist seiner Zeit gewesen, hat die Diskussionen und Anfeindungen gegen Ende der Gruppe 47 miterlebt und zeichnet in seiner Erzählung das Bemühen nach, einen gemeinsamen Friedensaufruf zu veröffentlichen. Wie schwierig dies in Gremien, unter eigentlich Gleichgesinnten zu erzielen ist, weiß er aus persönlicher Erfahrung. Das Wort Gemeinsam entpuppt sich dabei oft als Hemmschuh. Auch 1647 muß bis an die Grenze der Erschöpfung, des Streits darum gerangelt werden, diesen Aufruf zustande zu bringen. Selbst die Schlusspointe, wenn das Treffen anders ausgeht, als Grimmelshausen, Reigersfeld, Logau und Kollegen gedacht haben, ähnelt dem abrupten Ende der Gruppe 47. Es ist vor allem jedoch eine Erzählung über Wünschen und Umsetzen und das weite Feld dazwischen.
Polar aus Aachen

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.