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meany
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Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 02.03.2023
Anpfiff! / Die Zauberkicker Bd.1
Schreuder, Benjamin

Anpfiff! / Die Zauberkicker Bd.1


gut

Eigentlich bin ich Spielmacher

Alle jungen Menschen mit Interesse an Fußball werden sich in der hier beschriebenen Welt wiederfinden: in der Fachsprache, in der beschriebenen Organisation, aber auch in den mentalen Psychospielchen der Akteure. Gewisse Typen sind überall vertreten. Benjamin Schreuder charakterisiert sie treffend. Ben, der Ich-Erzähler bietet sich in seiner sympathischen Sprechweise als Identifikationsfigur an.

Eine originelle Idee ist es, diese profane Sportart in ein magisches Ambiente zu verpflanzen, das fügt noch eine ganz besondere Dimension hinzu. Hierzu verwendet er Elemente, die auch andernorts schon erfolgreich waren: die eingeschworene, durch Quertreiber aber auch krisenanfällige Welt eines Internats, verständnisvolle Pädagogen und Verdacht erweckende Individuen.

Dieser erste Band stellt die Weichen für im Grunde angelegte Konflikte, die er wegen des knappen Umfangs aber nicht weiter ausführt, sondern nach einem Handlungshöhepunkt mit einem Cliffhanger enden lässt. Die unmittelbar danach angefügte Leseprobe aus Band 2 zeigt, wie stark die Story auf eine Serie angelegt ist, ohne deren kompletten Erwerb ein einzelner Teil unvollständig und unbefriedigend ist. Diese geschickte Marketingstrategie des Verlags soll die jungen Leser erst einmal anfixen und dann zum Erwerb weiterer Bände zum Preis von jeweils 12 Euro veranlassen. Das wären bei drei Bänden bereits 36 Euro für eine bisher relativ dünne Story.

Bewertung vom 12.02.2023
Getraut / Andrea Schnidt Bd.12
Fröhlich, Susanne

Getraut / Andrea Schnidt Bd.12


weniger gut

Das große Ja-Wort

Dem Hören-Sagen nach kenne ich Susanne Fröhlich als Bestsellerautorin, die ihrem Namen alle Ehre macht, aber da das Genre "Heiteres" nicht zu meinen zentralen Interessen gehört, hatte ich noch nicht die Gelegenheit einer persönlichen Bekanntschaft.

Der im Rhein-Main-Gebiet gebräuchliche Dialekt nimmt nicht gerade die Spitzenstellung ein in der Rangliste der deutschen Regionalidiome, besonders was die Assoziation mit überdurchschnittlichem Intellekt anbelangt. Vor allem in Fassenachtszeiten dient er aber unverdrossen der Belustigung, allerdings mehr in der gesprochenen als in der geschriebenen Form, die immer etwas sperrig zu konsumieren ist. Damit ist er einerseits gut geeignet für ein Buch wie "Getraut", schränkt aber unter Umständen die Zielgruppe etwas ein.

Mit diesem Ersteindruck machte ich mich an die Lektüre. Dass Susanne Fröhlichs Fangemeinde jede ihrer Neuerscheinungen sehnlichst erwartet, gönne ich ihr.

Harmlos, aber dramatisch dargestellt sind die Episoden, außerdem zugeschnitten auf einen speziellen Humortyp. Slapstickartige Szenen handeln von mehr oder weniger geglückter Verdauung von Mensch und Tier oder mit der Suche nach Trauringen in deren Hinterlassenschaften.

Womit sich Fröhlich wirklich auskennt, sind Frauenseelen aller Art, und da kann sie auf erheiternde Weise richtig schön bösartig werden, was sie aber dann wieder konterkariert durch Kommentare zu den Geschehnissen wie aus einem Psychoratgeber von der Stange. Mit einem Pandämonium aufgeblasener Belanglosigkeiten hat sie einfach ein paar Fässer zu viel aufgemacht: der halbseidene Selbsterfahrungscoach, die Tücken der Patchworkfamilie, die demente Mutter im Heim, der beziehungsunerfahrene Taubenmann, die Freundinnen mit allen möglichen Beziehungskisten, Hochzeitsvorbereitungen, jede Menge Senioren, die von Altersweisheit weit entfernt sind, und die Betreuung des geliebten Enkels, besonders spektakulär im Geschäft für Brautmoden.

Bewundernswert, wie sie nach 300 Seiten die Kurve kriegt und einen allerseits versöhnlichen Knoten schürzt, so dass die Leserin auf der Suche nach Ablenkung von den Übeln der Welt das Buch zufrieden aus der Hand legt.

Bewertung vom 26.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


sehr gut

Das dunkelweiße Nichts eines nicht endenden Winters

Den undefiniert schwierigen Lebensverhältnissen entflieht eine kleine Familie auf eine menschenleere Insel, die eine unwirtliche Zuflucht bietet. Der Junge Hans lechzt nach Zuwendung, aber die Eltern sind in ihren eigenen Problemen zu befangen, um sich ihm zu öffnen. Eine emotionale Heimat findet er in der Natur. Bei all der Härte des Insellebens ist Hans schließlich der absoluten Absurdität ausgeliefert, als ihn die Schulpflicht wieder in die sogenannte Zivilisation zwingt. Nachdem er sieben Jahre lang die traumatisierenden Zustände im Erziehungsheim überlebt hat, gelingt ihm die Rückkehr auf seine Insel, ohne jedoch noch einmal eine Beziehung zu Vater und Mutter aufnehmen zu können.

Rasch hat man das Bändchen gelesen, doch lange hallt es nach, durchtränkt von geballter Atmosphäre. Durch die Umstände gezwungen sucht Hans die Einsamkeit bewusst und absichtlich auf. Die innere Realität und die archaischen Gewalten schildert Gieselmann in einer hochartifiziellen Sprache, in der jedes Wort handverlesen ist. Dabei nutzt er auch surrealistische Bilder: "Ein Mädchen auf dem Gehsteig spielte Werwolf." (S. 63). Häufig kulminieren die Betrachtungen in philosophischen Bonmots: "So wie die Vernunft den Wahnsinn braucht [...] braucht die Gemeinschaft die Einsamkeit [...]."

War ohnehin das ganze Buch wie von einem Nebelschleier verhangen, verschwindet am Ende alles im Nichts.

Bei all der Trostlosigkeit im menschlichen Zusammenleben, in dem kaum eine Kommunikation möglich ist, feiert der Autor eine Hymne auf die Natur und ihre Kraft zur Regeneration. Empfehlen würde ich dieses Werk nachdenklichen Lesern von Lyrik und stilistisch ambitionierter Literatur.

Bewertung vom 23.01.2023
Saubere Zeiten
Wunn, Andreas

Saubere Zeiten


ausgezeichnet

Oben im Drempel

Eigentlich habe ich ähnliche Geschichten schon häufig gelesen über die Erbschaften des Nationalsozialismus; die Last der deutschen Geschichte legt sie ja nahe: die Nachkriegsgeneration holt die Leichen aus dem Keller ihrer Väter - oder eben wie hier vom Dachboden. Doch so vielfältig die Menschen gestrickt sind, kann ein Autor immer wieder neue Aspekte in den Fokus stellen.

In diesem Fall geht es also um die Entwicklung eines Produkts und dessen wirtschaftliche Verwertung im Zusammenhang mit der "Arisierung" von Firmen. Aber so einfach wie man anfangs denkt, entwickelt es sich doch nicht. Die Kunst liegt in der Subtilität.

Hier ist ein fähiger Erzähler am Werk. Mit seinen lakonischen, kurzen Sätzen im Stakkatostil entfacht er von der ersten Seite an einen Sog und schafft es, in den kleinen Episoden einen Spannungsbogen zu setzen, ohne dabei den großen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren. Einfühlsam und voller Sympathie charakterisiert Andreas Wunn die Personen und verdeutlicht die psychologischen Sachverhalte in passenden und originellen Bildern weit ab vom Klischee.

Dramaturgisch spielt er gegen Ende mehr und mehr mit den Lesern, indem er die Ereignisse aus der Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschachtelt und dabei mit Cliffhangern arbeitet. Eigentlich schätze ich das nur bedingt, aber ich habe insgesamt das Gefühl, als würde eher er sich auf die Folter spannen, weil er den Kern der Geschichte verdrängt. Es ist ein psychologisches Problem wie bei den Kriegskindern und -enkeln im Werk Sabine Bodes. Deshalb geht es genauso um Jakobs Heute wie um das Gestern seiner Familie, das ihn unterschwellig belastet. Die Aufeinanderfolge der Szenen fädelt Wunn so geschickt ein, dass man nicht aufhören kann weiterzulesen.

Dieser bemerkenswerte Erstlingsroman hat mich so beeindruckt, dass ich ihn gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 14.01.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

Nichts verschwindet spurlos

Als Victoria Belim diese familiäre Spurensuche schrieb, konnte sie vielleicht ahnen, aber nicht wissen, auf welch aktuelles Interesse die Geschichte ihres Heimatlands Ukraine noch stoßen würde. Umso anstößiger wirkt sich deshalb der anfängliche Dialog mit ihrem Onkel Wladimir aus, der eigensinnig die russische Position vertritt und in heutigen Tagen in der westlichen Welt eine gewaltige Provokation darstellt. In meinem Leseeindruck äußerte ich schon die Hoffnung, dass im Laufe des Buchs auch andere Positionen zur Sprache kommen würden, und so ist es ja dann auch.

Mit vielen Dialogen schildert die Autorin in einer sinnlich bildhaften Sprache sehr anschaulich die Menschen und die Milieus, in denen sie agieren. Bei der Spurensuche in erster Linie nach ihrem verschollenen Großonkel Nikodims werden wir vertraut mit der Geschichte, Mentalität, Kultur und Folklore der Ukraine, führen uns aber auch dramatische Episoden vor Augen wie die Rolle der Kosaken, den Hitler-Stalin-Pakt und die Massaker der Weltkriege, danach die Große Hungersnot und die Tyrannei des Geheimdiensts bis zu den Ungereimtheiten der aktuellen Politik wie die Besetzung der Krim.

Diese Fülle an Themen rollt sie auf anhand von Begegnungen mit Verwandten und deren Bekanntenkreis, indem sie aus ihrem US-amerikanischen Wohnort immer wieder für längere Zeit nach Hause reist. Ihre Intention beschreibt sie mit den folgenden Worten auf Seite 174: "Die Ukraine mit neuen Augen zu sehen, war so fesselnd wie die Erforschung meiner Familiengeschichte." Dabei erlebt sie Zeugnisse einzigartiger Gastfreundschaft und Zugewandtheit, aber auch plötzliches Verschweigen von Tabuthemen.

Es fiel mir anfangs schwer, im Laufe der Lektüre aber zusehends leichter, in diesem Mosaik einen roten Faden zu finden und durch einen Spannungsbogen bei der Stange zu bleiben. Wie sie am Ende sogar den Kreis schließt bis hin zur Klärung existenzieller Missverständnisse und eigener psychischer Konflikte, zeigt im Individuellen die Auswirkungen solch historisch-politischer Zwiespälte sehr anschaulich.

Bewertung vom 01.01.2023
Ria Regenbogen und die Wetterlinge / Ria Regenbogen Bd.1
Anderson, Laura Ellen

Ria Regenbogen und die Wetterlinge / Ria Regenbogen Bd.1


sehr gut

Auf jeden Sturm folgt ein Regenbogen

Wer von den Gestalten mit den wetterspezifischen Namen Metaphern für das Klimageschehen auf der Erde erwartet, geht fehl, denn sie dienen zunächst der überbordenden Fantasie der Verfasserin, um eine Art Scheibenwelt für Kleine im Stil Terry Pratchetts zu entwerfen. Im anfänglichen Klamauk, der mich erst einmal verwirrte, habe ich sogar eine Brise Monty Python geschnuppert.

Aus dieser Anfangskonstellation entwickelt Anderson eine Abenteuerstory dreier jugendlicher Bewohner der Himmelssphäre mit existenziellem Bezug zur Erde, aber einer Eigendynamik, die sich auf unseren Planeten in einer nicht näher beschriebenen Art und Weise auswirken soll. Dabei kommt auch der hintersinnige Humor nicht zu kurz wie zum Beispiel bei dem Besuch des Britesischen Museums.

Gegen Ende entfaltet die Geschichte schließlich noch eine zielgerichtete Logik, die in weiteren Bänden fortgeführt werden kann, den aktuellen Umweltgedanken untermauert und in eine hoffnungsvolle Richtung lenkt.

Wenn das ideenreich gestaltete Buch mit seinen Funken sprühenden, dynamischen Illustrationen auch ein frühes Lesealter nahelegt, würde ich es wegen der chaotischen Ausgangssituation und der schwierigen Wortschöpfungen, die sicherlich auch für die Übersetzer eine Herausforderung darstellten, erst ab 10 Jahren empfehlen. Dann werden fantasiebegabte Kinder mit Sinn für Sprachspielereien aber bestimmt ihren Spaß daran haben.

Bewertung vom 24.11.2022
Blutmond / Harry Hole Bd.13
Nesbø, Jo

Blutmond / Harry Hole Bd.13


ausgezeichnet

Bleib nicht in dem finstren Wald

Nach vielen, vielen Harry Hole-Krimis ist mir der problematische Ermittler, gebeutelt von Schicksalsschlägen und seiner Alkoholsucht, aber getrieben von einem unerbittlichen Drang, den Kriminalfall zu lösen, so ans Herz gewachsen, dass ich keine Folge missen möchte, zumal ich nach dem "Messer" dachte: das war's dann.

Diesmal bleiben die krassen Alkoholexzesse aus, und es entwickelt sich eine Verbrechensaufklärung, die mehr verstandesgesteuert abläuft als von Actionszenen durchsetzt. Genial, wie der Meister der Dramaturgie Situationen entfaltet und damit eine ganz subtile Spannung erzeugt, wenn er die strategisch geschickt inszenierte Doppelbödigkeit auch manchmal auf die Spitze treibt und förmlich Schlittschuh fährt mit seinem Publikum. Doch das ist ein Thriller ja auch: ein vergnügliches Spiel mit den Rezipienten. Das ist mir besonders beim nachträglichen Zurückblättern aufgefallen: bei welchen Andeutungen man frühzeitig hätte stutzig werden sollen.

Verfilmt würde ich diese Geschehnisse schon aus ästhetischen Gründen nur schwer aushalten, aber während des Lesens trägt einen der Nervenkitzel zügig von Seite zu Seite, ohne große Rückblenden, aber mit der zweiten Ebene des Täters Prim, dessen Identität das zentrale Rätsel bildet. Auch hier setzt man sich wieder mit Zeichen der Verwahrlosung auseinander, sowohl bei Armen als auch bei Reichen, erlebt unauflösbare Konstellationen im Familien- wie im Liebesleben, aber auch bewegende Zeugnisse aufrichtiger Freundschaft.

Nesbø gelingt es wieder, dies alles zu einer richtig runden, überzeugenden Sache zu verschmelzen, und so habe ich den dicken Pageturner mühelos innerhalb weniger Tage bewältigt.

Eine Meisterleistung des Suspense ist der finale Showdown - Nesbø hat die Klaviatur der Effekte voll im Griff und lässt die Leser noch einmal Achterbahn fahren - typisch Nesbø halt.

Bewertung vom 19.11.2022
Ein Alman feiert selten allein
Atmaca, Aylin

Ein Alman feiert selten allein


gut

Wie eine fremde Spezies im Zoo

Der "clash of cultures" manifestiert sich ganz besonders deutlich an emotionsbelasteten Festtagen wie Weihnachten. Das ist häufig schon innerhalb des christlichen Kulturkrieses ein Problem, umso mehr, wenn Andersgläubige oder Nichtgläubige ins Spiel kommen. Die Komik des vorliegenden Bands, verfasst von einer türkischstämmigen Autorin, ist der Tatsache zu verdanken, dass sie offensichtlich an eine überdurchschnittlich bornierte Familie geraten ist. Das kann man mit aller gebotenen Selbstkritik lesen, oder es geht einem nach einer Weile auf die Nerven, weil man vor lauter flächendeckend aufgestellten Fettnäpfchen nicht mehr weiß, wohin man seinen Fuß setzen soll.

Da wird nichts ausgelassen: ein straff durchgetakteter Zeitplan, der Kult um den Weihnachtsbaum, geschenkegeile Kids, zu üppiges Essen und Alkoholgenuss, einmal ganz abgesehen von der fehlenden Distanz zu Selbstverständlichkeiten, die auf andere Nationalitäten merkwürdig oder unzumutbar wirken. Aber die Reaktion der Ich-Erzählerin ist auch von keinem bisschen Empathie belastet.

Den Gipfel setzt dann der Besuch des Gottesdienstes auf. Ob ich die Blasphemie in Kapitel 8 witzig finden soll, erschließt sich mir nicht.

Gendern in einem Roman habe ich bisher noch nicht erlebt, hier bleibt mir auch das nicht erspart: auch noch mit Doppelpunkt.

Gut getan hätte diesem Opus ein Lektorat, das die Rechtschreib- und Wiederholungsfehler eliminiert. So gewandt und flott die Autorin formuliert, oft geht ihr vor lauter Begeisterung der Gaul durch. Wie ein Falschfahrer in der Einbahnstraße findet sie alle anderen blöd ohne den geringsten Selbstzweifel.

Indem Aylin Atmaca hier ihren lange aufgestauten Frust ungefiltert und hochemotional ablädt, dient sie weder der gegenseitigen Akzeptanz und Verständigung. An dieser Stelle hätte ich die Lektüre beinahe abgebrochen. Am Ende bin ich froh, dass ich tapfer bis zum Ende durchgehalten habe, und da es sich hier um keinen Krimi handelt, kann ich bemerken ohne zu spoilern, dass irgendwann der allseitige Stimmungsumschwung erfolgt, jedoch allzu abrupt, dass er noch so manches, aber nicht alles den Bach heruntergegangene wieder auffängt. Aber es hat mich schließlich dann doch noch ein bisschen versöhnt.

Bewertung vom 15.11.2022
Agent Sonja
Macintyre, Ben

Agent Sonja


ausgezeichnet

Heimliche Helden

Die besten Geschichten schreibt das Leben, aber wie der bewährte englische Autor ein Sachbuch, die Biografie einer Spionin, so packend schreibt, wie es die Verfasser von Thrillern mit all ihren fantasiebedingten Möglichkeiten meist nicht hinkriegen, hat mich schlechthin begeistert.

Schlüssig verknüpft Macintyre das individuelle Schicksal einer außergewöhnlichen Frau mit der Weltgeschichte. Mir imponiert sein akribisches Quellenstudium, das dabei nicht zu professoraler Abgehobenheit führt, sondern ganz im Gegenteil dazu, psychologisch stimmige und glaubwürdige Dialoge zu formulieren, die sich nahtlos in die flüssige und spannende Erzählweise einfügen. Sehr geschätzt habe ich auch die ausgewählten Abbildungen, die dem Leser einen optischen Eindruck vermitteln und so die Personen lebendig machen.

Hätte es diese Frau nicht wirklich gegeben, LeCarré hätte sie nicht besser erfinden können. Aufgewachsen in einer politisch progressiven jüdischen Familie lässt sie sich bereits als aufmüpfiger Backfisch teils aus Abenteuerlust, teils aus weltanschaulicher Überzeugung auf Aktionen des Widerstands ein, macht Karriere in verschiedenen europäischen und asiatischen Ländern, wobei aus mehreren auch durch ihre Agententätigkeit bedingten Liebesbeziehungen drei Kinder geboren und aufgezogen wurden - und dabei bleibt sie jederzeit Frau und Mutter!

Die naturgemäß verwickelten und verwirrenden Sachverhalte des Geheimdienstes stellt Macintyre verständlich und nachvollziehbar dar, aber man kann leicht den Überblick verlieren bei der Fülle der Agierenden in unterschiedlichen Funktionen und Tarnexistenzen.

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, als ich erfuhr, welche erstaunlichen Vorgänge im Untergrund den Verlauf des Zweiten Weltkriegs beeinflussten, darunter vor allem die unterschwellige Dynamik unter den Alliierten.

Macintyre beschreibt seine Protagonisten durchweg mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie. Ob man ihm deshalb vorwerfen kann, parteiisch zu sein (wobei ich bezweifle, ob absolute Objektivität überhaupt möglich ist), sei dahingestellt, besonders vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine und den momentanen Kriegshandlungen. Immerhin war Sonja maßgeblich daran beteiligt, die Russen mit Atombomben-Knowhow zu versorgen. Man kann darüber diskutieren, ob sie damit deren nukleare Aufrüstung nur beschleunigt hat und ob das Gleichgewicht der Kräfte bis heute einen Erstschlag verhinderte.

Insgesamt kann ich dieses Buch voller Überzeugung jedem historisch interessierten Leser empfehlen.

Bewertung vom 05.11.2022
Fake - Wer soll dir jetzt noch glauben?
Strobel, Arno

Fake - Wer soll dir jetzt noch glauben?


gut

Perfektes Timing

Außerordentlich niveauvolle Krimis sind nicht nur spannend, sondern können durchaus Abbilder der Realität sein, die Aufschluss gibt über die menschliche Natur. Das müssen sie aber nicht unbedingt mit all ihrem Spiel um Rätsel und deren Auflösung, um Irrwege und Sackgassen im Laufe der Ermittlung bis zum hoffentlich überraschenden Ende mit heilsamem Aha-Effekt. Ich lasse mich gerne darauf ein, wenn der Verfasser dieses Spiel geschickt einfädelt und mich als Leser respektiert, anstatt mir eine unglaubwürdige Räuberpistole aufzutischen.

In diesem Sinne goutierte ich über lange Strecken das Buch "Fake" voller Genuss und ließ mich einnehmen von der sympatischen Ich-Erzählerstimme, die sich mehr und mehr im circulus vitiosus windet, wo alle Tatsachen so auf den Kopf gestellt werden, dass niemand mehr seinen Wahrnehmungen traut. Den Kunstgriff mit der wechselnden Erzählperspektive, einmal als "ich" und einmal als "er, Patrick" nahm ich einstweilen so hin.

Dass das vorangestellte Kapitel ein starke Bedeutung haben wird für den Krimi, behielt ich die ganze Zeit über im Hinterkopf, fieberte mit, als Patrick Schlag auf Schlag weiter in die Verdammnis trieb, und atmete auf mit dem Erscheinen des prominenten Rechtsanwalts und dem damit verbundenen Hoffnungsschimmer des zu Unrecht Verdächtigten.

Wohlgemerkt halte ich es auch für legitim, wenn der Autor einen Plot mit überraschenden Wendungen konstruiert. Ohne spoilern zu wollen, kann ich aber nicht verhehlen, dass ich mich nicht ernst genommen fühle, wenn die Brüche zu abrupt erfolgen und ich denken muss, jetzt werde ich auf den Arm genommen. So etwas kann mir im nachhinein ein durchaus gekommt geschriebenes Buch vermiesen. Ernstzunehmende Krimischriftsteller wie George, Mankell, Nesbø und viele andere mehr haben das nicht nötig.