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Benutzername: 
meany
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Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 136 Bewertungen
Bewertung vom 27.05.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


gut

Willkommen in der Zukunft

So what?

Was hat er nicht all schon für Themen beackert, der Bestsellerautor: Afrika-Expeditionen, Ernährungswahn, die Konflikte im Tierschutz, Biosphärenexperimente und den Erfinder des LSD. Ich habe sie mit Vergnügen gelesen und Erkenntnisse daraus gezogen.

Und nun also der Klimawandel, liegt ja momentan auf der Hand und bietet in seiner Komplexität ausreichend Stoff für ein Epos, bei dem schon die Frage, in welchen Rahmen man ihn eingrenzen kann, eine Herausforderung darstellt.

Wie Boye diese jedoch Seite für Seite verschenkt, um eine Familienstory daraus zu basteln, die auf Klamauk und Effekthascherei hinausläuft, enttäuscht mich mit fortschreitender Lektüre immer mehr. Viel zu krass fokussiert er den Augenmerk der Leser auf immanent im Bewusstsein verankerte ekelerregende Gegenstände wie die Verarbeitung von Insekten zu Nahrungsmitteln und die Haltung von Schlangen als Haustiere mit erschütternden Konsequenzen, als dass sich dabei ein mentaler Mehrwert einstellen könnte.

So richtig Dynamik kommt in die Geschichte durch die privaten Katastrophen, der allgemeine Zustand der Umwelt bleibt Kulisse, wenn auch von allerstärksten Auswirkungen. Die sozialen Netzwerke üben ebenfalls ihren negativen Einfluss aus. Auf Seite 285 liest sich das folgendermaßen: "... als hätte das Weltgeschehen, verglichen mit dem, was sie durchmachte, auch nur eine Spur von Bedeutung."

Über wissenschaftliche Details informiert sich Boyle sorgfältig, das bin ich von ihm so gewöhnt. Er speist einen nicht mit Banalitäten und Gemeinplätzen ab, und das geht so weit, dass ich manche Fachausdrücke nachschlagen muss.

Die Protagonisten jedoch verhalten sich teilweise so selten dämlich, dass ich nur mit dem Kopf schüttele und denke, sie sind selber schuld. Sie ergehen sich in individuellen Lösungen oder richten sich in der aktuelle Lage ein, was die Welt ja auch keinen Millimter vor dem Abgrund rettet. Von Politik ist absolut keine Rede!

Was will Boyle uns hiermit sagen? Auf mich hat es wie reiner Sarkasmus gewirkt. Trotzdem gebe ich dem Meister der Dramaturgie noch drei Punkte.

Bewertung vom 20.05.2023
Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel / Die Mordclub-Serie Bd.3 (2 Audio-CDs)
Osman, Richard

Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel / Die Mordclub-Serie Bd.3 (2 Audio-CDs)


ausgezeichnet

Wer hat Bethany Waites umgebracht?

Diese Rezension beruht auf dem leicht gekürzten Hörbuch.

Wenn die Osmanschen Donnerstagsmordclub-Krimis auch zweifellos und bestens als solche funktionieren, liegt ihre Besonderheit hauptsächlich in der Charakteristik der Personen und der englisch-humorvollen Schreibweise. Nach drei Bänden ist mir das betagte Quartett bereits sehr ans Herz gewachsen in all seiner individuellen Verschiedenheit. Besonders bei der liebenswürdig-naiven Joyce habe ich dauernd Agatha Christies Miss Marple vor Augen.

Ohne den Handlungsbogen aus den Augen zu verlieren schwelgt Osman förmlich in der Gestaltung komischer Situationen, bei denen es sich um die Vorbereitungen zu einem Fernsehinterview handeln kann, aber auch um eine Entführung, einen Auftragsmord sowie um die Beerdigung des Opfers - all das wird augenzwinkernd erzählt, wobei man sogar bei brutalen Killern noch eine liebenswerte Seite entdeckt.

Ganz besonders hat mich die köstliche Episode mit dem eigentlich dementen Stephen amüsiert, auf dessen Inselbegabung man sich immer noch verlassen kann und der damit die Ermittlung einen gewaltigen Schub nach vorne bringt.

Das verbindende Element zu den vergangenen Fällen stellen die Figuren dar, deren gemeinsame Geschichte sich fortlaufend entwickelt, wie sich das in Serien eben so verhält. Selbstverständlich ist die jeweilige Story in sich abgeschlossen und plausibel, dennoch ist das Lesevergnügen umso größer, wenn man die Evolutionen von Beginn an verfolgen konnte.

Am Schluss kann ich wieder meine Bewunderung nicht verhehlen: wo nimmt Osman nur die Ideen her, solche haarsträubenden Verwicklungen zu einem derartig straffen Knoten zu schürzen?

Bewertung vom 19.05.2023
Wolf
Stanisic, Sasa

Wolf


ausgezeichnet

Die stolzesten Ohren des Universums

Dieses Jugendbuch des Deutschen Buchpreisträgers habe ich in einem Rutsch gelesen, und nun hallt es die ganze Zeit in mir nach, wobei mir dauernd noch Neues dazu einfällt.

Obercool stellt sich der namenlose Ich-Erzähler vor, wie er sich sträubt, von seiner geliebten, aber dauernd gestressten Mutter ins Ferienlager geschickt zu werden. In seiner entschiedenen Null-Bock-Haltung trifft er auf einen weiteren Einzelgänger: Jörn, das geborene Opfer mit seinen verschrobenen Hobbys und dem antiquierten Wortschatz. Ihn gilt es vor den Mobbingattacken eines berüchtigten Trios zu schützen.

Mit fortschreitendem Hergang, bei dem man sehr viel zwischen den Zeilen nur angedeutet findet, wird immer unklarer, um wen es denn eigentlich geht, denn der Angstwolf erscheint beiden, und auch Jörn nutzt manche Gelegenheit, seinem Zimmergenossen aus der Patsche zu helfen.

Jedenfalls haben sie beide nichts mit den kindischen Gruppenaktivitäten am Hut und erst recht nichts mit dem schablonenhaften "Sozialpädagogengequatsche" der Betreuer. Da fasst man lieber zu dem rauhbeinigen Koch Vertrauen, bei dem man sich schließlich auch noch revanchieren kann.

Das Ganze ist ein Entwicklungsroman im Zeitraffer, aber es gibt eben Phasen im Leben, die einen in kurzer Zeit ein ganzes Stück voranbringen.

Die Art und Weise, wie der Autor seine Figur als Sprachrohr benutzt, hat mich von der ersten Seite an für das Buch eingenommen und sehr amüsiert. Psychologisch stimmig höre ich praktisch im O-Ton, mit welchen Details er sich über die Natur als solches und gutgemeinte Beschäftigungstherapien im Zusammenhang damit ausspricht unter Zuhilfenahme origineller Wortschöpfungen wie "andersiger" oder "die Wurzeln stolpern mich". Wesentliche Dinge spricht er nicht explizit aus, sondern tupft sie nur an, z.B. als er nach langem Zögern endlich Banisha anspricht und in Erwägung zieht, mit ihr Schach zu spielen.

So kommt die Lösung auch nicht mit dem großen Paukenschlag, sondern die Frage bleibt offen: soll man den Wolf besiegen oder zähmen?

Die holzschnittartigen, zweifarbigen Bilder Regina Kehns sind dazu die optimale Ergänzung, indem sie die Stimmung des Textes aufnehmen und intensivieren.

Diesen Jugendroman empfehle ich aufgeweckten, nachdenklichen Jugendlichen ab 13 und traue ihnen zu, dass sie sich wiederfinden in den Gedanken und Irritationen dieses bedrängten Schülers

Bewertung vom 17.05.2023
Die marmornen Träume
Grangé, Jean-Christophe

Die marmornen Träume


ausgezeichnet

Walpurgisnacht im Tiergarten

Gnadenlos breitet der Franzose Grangé eine Mordserie im nationalsozialistischen Berlin zu Beginn des Zweiten Weltkriegs vor uns aus, wobei die Bestialität der Verbrechen kaum an die alltäglichen Grausamkeiten der Nazis heranreichen. Die Verletzungen der betroffenen Menschen wurzeln in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Geradlinig schreitet die Recherche vorwärts, in diesem Buch fast ohne Rückblenden außer denen, die zur Charakterisierung der drei Ermittler notwendig sind und diese glaubwürdig darstellen: Franz Beewen, Hauptsturmführer der SS, Simon Kraus, zwielichtiger Psychiater, und Minna von Hassel, die adlige und von Hause aus reiche Leiterin eines Nervensanatoriums für Kriegsgeschädigte. Keiner von ihnen sympathisiert ernsthaft mit dem sadistischen Regime, aber alle haben sich mehr oder weniger damit arrangiert, um selbst mindestens mit heiler Haut davonzukommen oder sogar Karriere zu machen.

Dass ihnen strengstens verboten wurde, auch nur das geringste Detail an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, erschwert die Nachforschungen ungemein, genauso wie die Dynamik, die sich sowohl positiv als auch negativ zwischen den Protagonisten entwickelt.

Grangé hat Ort und Zeit akribisch erforscht und macht keinen Hehl aus seinem Abscheu, was sich in einem dauerhaft sarkastischen Unterton äußert. Neben dem jedem Krimi immanenten Spannungsbogen von Anfang bis zum Schluss bezüglich des Täters baut der Autor auch kleinere ein, die atemberaubende Actionszenen wie zum Beispiel eine Verfolgungsjagd umfassen, ganz besonders dramatisch umrahmt von Kriegsparolen. Wären die Umstände nicht so brutal, könnte man sie als meisterhafte Kabinettstücke bezeichnen, beinahe eines Tarantino würdig. Manche der Kulissen sind regelrecht "Babylon Berlin" entnommen. Wüsste man nicht um die Realität der damaligen Jahre, würde man das Ganze schier für eine Groteske halten.

Als mit fortschreitendem Handlungsverlauf immer wieder Fährten im Sande verlaufen oder gegen die Wand fahren, Franz, Simon und Minna dagegen ins Fadenkreuz der politischen Gefahren geraten, mag man mit der Lektüre nicht mehr absetzen bis hin zum nicht vorhergesehenen Ende.

Bewertung vom 12.05.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


ausgezeichnet

Aus der Dunkelheit ausbrechen, um zu singen

Sanft, zärtlich klingen die Stimmen der Erzähler, eine unerklärliche Melancholie zieht sich von Beginn an schon durch das erste Kapitel um Ellis, deren Ursache sich erst im Laufe des Romans Seite für Seite entblättert.

Wahre Liebe ist non-binär, aber hinter jedem Glück lauert Krankheit und Tod. Sarah Winman wendet ihre gesamte Empathie auf, die Gegensätze zu versöhnen, die ganz besonders zwischen der rüden Maskulinität des Vaters und den künstlerischen Interessen von Mutter, Sohn und dessen Freund aufbrechen.

Ein ausdrucksstarkes Bild hierfür sind van Goghs Sonnenblumen, die ihrerseits zu dem alles verheißenden und enthüllenden Sommer in der Provence hinführen.

Die verwirrenden Zeitsprünge sind nicht willkürlich gewählt, sondern beantworten die Fragen, die alle Kümmernisse der Gegenwart aufwerfen, durch Rückblenden. Könnte man nur im wirklichen Leben die Begebenheiten auch aus verschiedenen Perspektiven der betroffenen Personen anschauen - wieviel Missverständnisse könnten so vermieden werden.

Die lyrischen Naturschilderungen beschwören visuelle Impressionen herauf. Besonders berühren mich die Überschneidungen, die Szenen und Dialoge, die sowohl Ellis als auch Michael im gleichen Wortlaut erwähnen, wie in einer Symphonie, die ein Motiv wieder aufnimmt in anderem Zusammenhang. Und dieses Déja vu verursacht mir jedesmal einen kleinen Schauder.

Wahre Liebe ist non-binär.

Bewertung vom 11.05.2023
3000 Yen fürs Glück
Harada, Hika

3000 Yen fürs Glück


sehr gut

Die ultimativ niedrige Kosten-Nutzen-Rechnung für ein Kind

Geld regiert die Welt, überall, aber ganz offensichtlich besonders in Japan. Für drei Generationen von Frauen, Mutter, Oma und Uroma dreht sich fast der ganze Lebensinhalt darum, das Vermögen zu vermehren, sei es durch einen lukrativen Job, sei es durch kluge Sparsamkeit, aber auch durch geschickte Finanztransaktionen. Das Ziel, bis zur Hochschulreife der Kinder 10 Millionen Yen anzusammeln, bestimmt existenzielle Entscheidungen zum Beispiel die Wahl des Partners und die Eheschließung betreffend. Materielle Güter wie Diamantschmuck erregen Neid, mit Geld erfüllt man seine Träume, sichert vor allen Dingen auch seine Existenz im Alter. Allgemein entsteht bei mir aber der Eindruck, dass persönliche Verhältnisse in Japan distanzierter ablaufen und stärker von formalistischen Konventionen geprägt sind als bei uns.

Noch nie habe ich ein Buch mit einer solchen Thematik gelesen, und es befremdet mich, wie anhand des Finanzgebahrens das gesamte menschliche Leben bis in die intimen Beziehungen hinein regelrecht auf eine Formel reduziert wird. Sehr detailliert erfahren wir die genauen Maßnahmen, um all dies umzusetzen, einen Download für ein Haushaltsbuch inbegriffen.

Dabei kommen auch spezielle Eigenheiten der Nation zum Tragen, wie dass Frauen häufig mit der Eheschließung ihren Beruf aufgeben. Den Wert der Personen bemessen sie anhand der Versicherungssumme. Eine junge Frau begründet die Partnerwahl ganz geschäftsmäßig: "Du hast einen guten Universitätsabschluss, du bist intelligent. Ich mag dein freundliches Gesicht und deine Persönlichkeit ... Und deine Gene sind auch nicht schlecht". (S. 134).

Gelegentlich hinterfragt aber auch jemand dieses profitorientierte Konzept: "Hätten deine Eltern nur auf Kosteneffizienz geachtet, wärst du überhaupt nicht hier." (S. 171).

Dass am Ende doch noch Familiensinn und Liebe obsiegen (was sich dann jedoch wieder in monetären Zuwendungen ausdrückt), versöhnt mich ein bisschen mit diesem materialistischen Ansatz.

Bewertung vom 04.05.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

Das traurige graue Wohnhaus am Ende der Straße

Seit Matthias Brandts "Blackbird" habe ich nicht mehr einen gleichzeitig so kraftvollen wie subtilen Coming-of-age-Roman mehr gelesen.

Kaum zu glauben, wie die begabte Mathestudentin Tilda Alltag, Job und Studium wuppt, um ihre kleine Schwester Ida vor den gewalttätigen Übergriffen der alkoholkranken Mutter zu schützen. In authentischer Jugendsprache stellt das Caroline Wahl glaubwürdig dar, indem sie psychologisch stimmige Szenen ineinanderflicht. Peu à peu deckt sie dabei ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit auf, das als Spannungsbogen das ganze Werk durchzieht und den männlichen Protagonisten Viktor einschließt.

Hochbegabt sind die beiden Geschwister, die Ältere mathematisch, was ihr Freiräume verschafft, die familiären Herausforderungen zu bewältigen. Ida verarbeitet das Elend der depressiven und suchtkranken Mutter in ihren künstlerischen Zeichnungen. Die Autorin stellt Tildas Freundschaft zur von zu Hause aus wohlsituierten, mental aber über die Maßen flatterhaften Freundin Marlene sehr komplex und differenziert dar. Ihre meisterliche Sprachbeherrschung entfaltet sich in lyrischen Naturbeschreibungen.

Dass nicht alles in lauter Wehklagen versinkt, nimmt mich sehr für das Buch ein, denn das dauernde Gejammer und die Opferhaltung, die in vielen Biografien zum Ausdruck kommt, ermüdet mich inzwischen. Gerade junge Leute, an die sich Caroline Wahl vorzugsweise schon mit der Wahl der Charaktere und des Ambientes wendet, können durch die Hoffnungsschimmer ermutigt werden, ihr Schicksal trotz widriger Umstände beherzt in die Hand zu nehmen.

Bewertung vom 03.05.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


sehr gut

Für die Wahrheit ist es nie zu spät

Mit einer großen Erwartungshaltung nahm ich das neue Buch des Starautors Martin Suter in Angriff. Viele Seiten lang konnte ich den Hype nicht nachvollziehen, der dem Roman gleich nach Erscheinen Bestsellerstatus verlieh, denn anfangs erschien mir die ganze Story etwas statisch, aufgebläht durch die endlosen Aufzählungen luxuriöser Speisen und Getränke, die dem Studenten Tom im Laufe seiner Tätigkeit mehr oder weniger aufgezwungen werden und seine Gesundheit belasten.

Was will Suter damit bezwecken: seinen edlen Geschmack präsentieren oder seinen Protagonisten Dr. Stotz in eine Aura des Exklusiven hüllen? Wie Tom wurde ich dessen bald überdrüssig, und erst nach über der Hälfte des Buchs nahm ich die Lektüre einigermaßen mit Spannung auf.

Suter führt uns durch die Wendungen der Geschichte wie durch einen Irrgarten, in dem Tom falschen Spuren folgt, wieder umkehrt und wie durch Zufall neue Fährten aufnimmt. Die ausgeklügelte Dramaturgie windet sich in Form einer Spirale zum Ende hin in immer engeren Kreisen. Diese geschickt angelegte Konstruktion besteht aus einem Vexierspiel aus Wahrheit und Lüge. Die Personen erscheinen mir jedoch in all ihrer Rätselhaftigkeit blass, kaum mit Leben erfüllt und keineswegs zur Identifikation einladend.

Bewertung vom 24.04.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Die Hoffnung ist die Schwester der Dummheit

Ein Pandämonium von Sonderlingen breitet Seethaler da vor uns aus in Situationen und Momentaufnahmen - alles, was das Wiener Viertel so an Originalen hervorgebracht hat und in Simons Café verkehrt. Robert Simon, im Zweiten Weltkrieg verwaist, renoviert eine aufgegebene Gaststätte und betreibt sie fortan zunehmend erfolgreich mit einem sparsamen Angebot, aber gern aufgesucht als Treffpunkt verlorener Seelen, deren Lebensgeschichte wir Kapitel für Kapitel erfahren.

Das gestaltet er häufig auch in inneren Monologen oder mit einem regelrechten Stimmengewirr, aus dem die Volksseele spricht. Feinsinnig entwickelt er die Charaktere: die Kriegerwitwe als Vermieterin, den benachbarten Fleischermeister, den Hauseigentümer Vavrovsky, Mia, die Hilfsnäherin und Bedienung, den Ringer René Wurm, Wessely mit dem Glasauge und viele andere mehr. All die Geschichten drehen sich um existenzielle Themen wie Liebe und Leid, Leben und Tod, Erfolg und Scheitern, Krankheit, Charakter und Sucht, eingesponnen in das unaufhaltsame Mühlrad der Zeit.

Die durchaus dramatischen Ereignisse scheinen mir wie mit Pastellkreide skizziert, unterlegt mit abgeklärter, menschenfreundlicher Weisheit. So spricht er folgendermaßen über einen heruntergekommenen Säufer: "Aber er hat einen Stolz. Und damit hat er so manch einem anderen schon vieles voraus." (S. 61)

Anhand von Episoden erkennt man die Zeitumstände, kann die erzählte Zeit auch mit Hilfe von Schlagertiteln identifizieren, die Orte der Handlung werden durch Straßen- und Gebäudenamen definiert.

Ultimative Paukenschläge kommen nicht vor, die Menschen richten sich ein in ihrer jeweiligen Situation und stützen einander. Über allem schwebt das Prinzip Hoffnung, und das ist ja auch nicht gerade das Dümmste.

Bewertung vom 13.04.2023
Der treue Spion / Offizier Gryszinski Bd.3
Seeburg, Uta

Der treue Spion / Offizier Gryszinski Bd.3


ausgezeichnet

Kandinskys blaues Fahrrad

Ein Kriminalfall vor dem Hintergrund des sich anbahnenden Konflikts zwischen Deutschland und Frankreich, der schließlich in den Ersten Weltkrieg mündet, zweigleisig verfolgt abwechselnd im Abstand von zwanzig Jahren von Vater und Sohn, der diesen als Spionageauftrag wieder aufnimmt: diese äußerst rätselhaften Vorgänge halten die Leser in Atem.

Die Schauplätze München, Paris und Sankt Petersburg, die beiden Handlungssträngen gemein sind, beschreibt die Autorin so plastisch, dass man anhand eines Stadtplans die Wege nachverfolgen kann und beinahe eine optischen Eindruck vergegenwärtigt. Dabei hat jedoch das Ambiente während des Kriegs selbstverständlich einen völlig anderen Charakter als der gleiche Ort zwanzig Jahre davor.

Seeburg spielt auf höchst vergnügliche Art mit den Parallelen: das Café Flore, überraschende Bekanntschaften, aber auch mit dem Kontrast zwischen den Luxushotels und einer primitiven Absteige.

In einer surrealen Szenerie schließt sich endlich der Kreis, nach einem eher gemächlichen Beginn spitzt sich die Angelegenheit zu. Dass sich dabei ständig Zufälle ereignen, geht etwas zu Lasten der Glaubwürdigkeit, ist aber insgesamt einfallsreich ausgedacht und klärt sich gegen Ende teilweise auf.

Verblüffend spielt die Autorin mit falschen Identitäten und unterschiedlichen Wahrnehmungen der Realität, wobei sie die spannende Kriminalgeschichte in überwältigend farbige Kulissen stellt, die sie sicherlich auf sorgfältige Recherchen gründet.

Nach einem langen, nervenaufreibenden "Wandeln in trüben Grauzonen" lichtet sich allmählich der Nebel, und am Schluss staune ich über die kühne Konstruktion und die verwegene Logik dieses historischen Krimis.