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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

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Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 28.12.2022
Das Jahr ohne Schlaf
Harvey, Samantha

Das Jahr ohne Schlaf


gut

»Dann der Gedanke :Hör auf zu denken. Immer denkst du.
Dann der Gedanke: Das war ein Gedanke. Der Gedanke, dass ich aufhören soll zu denken.
Dann der Tadel: Hör auf zu denken.
Dann der Gedanke: War das jetzt ein Gedanke oder die Anweisung meines höheren Bewusstseins?
Der Gedanke: Du glaubst, du hast ein höheres Bewusstsein?
Gedanke: Ich bin wach.«

Wie ist es, wenn plötzlich das Schlafen nicht mehr geht? Harvey liegt wach. Nacht für Nacht schießt Adrenalin ein, wo sie nach Ruhe und Entspannung sucht.

Mit Humor, Leichtigkeit und Angst begibt sich Harvey auf eine Suche nach dem Schlaf und nach den Ursachen für ihre Schlaflosigkeit. Im medizinischen System wird sie widerwillig untersucht und es finden sich auch keine Hinweise. Medikamente haben nicht die erwünschte Wirkung. Schlafhygiene, Entspannung, Meditation, sie macht es mit einer großen Anspannung, Angst zu scheitern und vor der Leere, davor ein Nichts zu sein.

Spielerisch folgen wir Ihren Gedanken, die andere Gedanken und Geschichten produzieren, die in die eine und die andere Richtung gehen, sich drehen, sich dabei nicht zu ernst nehmen und schließlich herausfinden aus dem Jahr ohne Schlaf.

Harvey kommt immer wieder zurück auf ihre Beunruhigung über die eigene Sterblichkeit. Ihre Fixierungen und Vermeidungsstrategien nimmt sie mit Selbstironie auf. An manchen Stellen fand ich unreflektierte Gedanken, die ich hinterfragen wollte, die ethologischen Ausflüge zu der Sprache der Pirahãs zum Beispiel, in denen der koloniale Kontext dieser Forschungen zu "vorkomplexen" Sprachen nicht mitgedacht wird. In weiten Teilen machte »Mein Jahr ohne Schlaf« Spaß, es war unterhaltsam, leicht und scheinbar nebenbei lieferte es viele kluge Gedanken zum Thema Schlaf bzw. der Schlaflosigkeit. .

Bewertung vom 28.12.2022
Adam im Paradies
Haslund-Gjerrild, Rakel

Adam im Paradies


ausgezeichnet

»Der Körper selbst muss der Thron sein. So! Lehnen Sie sich ein wenig zurück. Ja, genau so. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Diwan. Man muss Lust bekommen, sich auf Sie drauf zu legen.«

Adam im Paradies spielt in der prunkvollen Residenz des Malers Zahrtmanns in Frederiksberg im Jahr 1913. Wir spüren ein starkes Begehren für das Modell, das sich mit Erinnerungen an andere Begegnungen und Stationen des Lebens von Zahrtmann mischt. Wir lauschen der Erzählstimme des alternden etablierten Künstlers, wie er über Farben erzählt, über seine Werke, Reisen, Schüler, sein Leben und das Altern.
Haslund-Gjerrild legt Fährten aus im Text. Dies geschieht subtil durch einige Auslassungen oder Ungereimtheiten in der Person des Erzählenden selbst, durch seine Haushälterin, die als alleinerziehende verhinderte Künstlerin dargestellt wird und durch scheinbar unvermittelte Einschübe historischer Dokumente. Sie brechen die prächtige Zahrtmann’sche Welt und thematisieren die sogenannten Sittlichkeitsprozesse.

Wer war Zahrtmann? Wie lebte er sein Begehren aus oder war sein Weg die Sublimierung in die Kunst? Wie war seine Haltung zu den Sittlichkeitsprozessen und einer gesellschaftlichen Stimmung, die zwischen Offenheit und Verachtung bzw. Verfolgung oszillierte? Hatte er Angst? Oder fühlte er sich als etablierter Künstler sicher? Diese Fragen drängen sich auf, eine Antwort formuliert die Autorin jedoch bewusst nicht. „Der schelmische Meister gibt keine Antwort. Des Rätsels Lösung zu finden, obliegt dem Betrachter selbst“, zitiert sie einen Kritiker von 1913.

Mit Andreas Donat haben Verlag und Autorin einen Übersetzer gefunden, der ebenso wie Haslund-Gjerrild viel Recherche, Akribie und Sprachkunst in den Text legt. Adam im Paradies ist ein geschliffenes Werk, das sprachlich und formal vordergründig mühelos, blumig und fließend daherkommt. Bravo, eins der besten Bücher, das ich 2022 gelesen habe.

Bewertung vom 28.12.2022
Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod
Sajko, Ivana

Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod


ausgezeichnet

»Die Kindheit ist eine Fotografie, die aufgehört hat, eine Fotografie zu sein, da auf ihr beinahe nichts mehr zu sehen ist, die Farben sind verblasst... die Flecken, die durch die Oxidation entstanden sind, sollte man durch eine Erzählung ersetzen, die vielleicht erfunden ist. «

In »Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod« strömen die Gedanken eines innerlich und äußerlich exilierten Mannes. Er wurde geboren »ohne es vielleicht zu wollen, um eine Frau unglücklich zu machen, ihre besten Jahre zu ruinieren«, um dann aufzubrechen, bevor sie es ausspricht, ihm sagt, dass alles ein Fehler war. Über mehrere Seiten fließen seine Gedanken, entfremdete Sätze, denn der Mann, er fühlt sich nicht, er sucht sich und flieht vor sich zur gleichen Zeit, ohne einen Absatz, ohne eine Rast, ohne einen Punkt, ohne eine Pause, folgen Gedanken auf Gedanken, bruchstückhaft, nebeneinander, zusammen, getrennt, er fährt mit dem Zug von Kroatien nach Deutschland, denn seine Frau, die liebt ihn nicht, seine Mama ist gestorben, er verlor den Kontakt, so wie sie den Kontakt verloren, als sie einst als Gastarbeiterin nach Deutschland aufbrach, ihn und seinen Bruder bei der Oma ließ und für den Urlaub kam sie dreimal im Jahr, denkt er, der Bruder, wie war er noch, lange ist der aufgebrochen, weggegangen, er war in falschen Kreisen, wie war es noch, er versucht es sich zu erzählen, der Vater, er hat getrunken, die Mama hat ihn geliebt, auch wenn er sie schlug, wie kann es anders gewesen sein, ihn hat er nie umarmt, doch dann, dann nahm sie die Kinder und ging, dann fuhr sie weiter nach Deutschland, mit dem Zug, sie kam wieder zurück und jetzt ist sie nicht mehr, eine Kiste mit Bildern hat er zugeschickt bekommen, den Rest hat er räumen lassen, aus der Ferne, er wagt es noch nicht, die Kiste zu öffnen.

Der Mann möchte ein Buch schreiben, unbedingt, über die Grenzen, die heutigen Geflüchteten, die brutalen Pushbacks an den Außengrenzen von Europa, doch damit scheitert er, muss er scheitern, da er die Verbindungen zu sich und zu seiner eigenen Geschichte stark und lose empfindet, die Teile noch nicht zusammenführen kann. Die Figur bleibt über lange Strecken stecken und dann entwickelt sie sich doch.

Sprachlich vermag Sajko die leise, aber starke Spannung und Rastlosigkeit des Mannes poetisch einzufangen, die Intensität zu variieren, schließlich ihn und uns zu schmerzhaften und befreienden Erinnerungen zu führen. Sajko thematisiert eine Seite von Gastarbeiter:innenbiografien, die sich nicht eignet für schöne Geschichten und die stumm macht. Ich weiß nicht, ob es ankommt, dieser Roman hat mich angeschossen, auf eine schmerzhafte und positive Art, doch Worte dafür zu finden, die nicht das Innerste nach außen kehren, das ist schwer.

Bewertung vom 28.12.2022
Tagebuch einer Invasion
Kurkow, Andrej

Tagebuch einer Invasion


sehr gut

»Am 24. Februar 2022 schrieb ich kaum etwas auf. Vom Geräusch russischer Raketenexplosionen aufgeweckt, stand ich etwa eine Stunde lang am Fenster meiner Wohnung in Kyjiw und schaute auf die leeren Straßen hinunter, in dem Bewusstsein, dass der Krieg ausgebrochen war, jedoch noch unfähig, diese neue Realität zu akzeptieren.«

Das »Tagebuch einer Invasion« besteht aus Texten, die Andrej Kurkow zwei Monate vor Kriegsausbruch begann und die bis in die Kriegszeiten hineinreichen. Er sieht sie als Chronik der Angriffe und als Chronik der Stärkung der »nationalen Identität der Ukraine«, als deren Teil er sich sieht. Kukow ist ein scharfer Kritiker von Putin und der russischen Politik. Selbst in Sankt Petersburg geboren und mit russischsprachigen Eltern in Kiew aufgewachsen, bezeichnet er sich als ukrainischer Nationalist. Für die deutsche und europäische Gesellschaft ist er ein wichtiger Erklärer der Ukraine und der russischen Invasion. Er ist Präsident des PEN Ukraine und gehört zu den einflussreichsten ukrainischen Autor:innen. Seine Werke wurden in 42 Sprachen übersetzt, seit vielen Jahren erscheinen sie in deutscher Übersetzung im Diogenes Verlag, zuletzt »Graue Bienen«. Bereits 2014 veröffentlichte der österreichische Haymonverlag seine Ukrainischen Tagebücher über die Ereignisse des Euromajdans und 2022 nun das »Tagebuch einer Invasion«, für das er den Geschwister Schollpreis erhielt.

Es ist die Mischung aus persönlicher Betroffenheit und einer politischen, gesellschaftlichen sowie historischen Einordnung des Krieges mit einer klaren politischen Haltung, die das Tagebuch wertvoll und lesenswert macht. Ich habe nach der Lektüre den Eindruck gewonnen, ich verstehe mehr von der Ukraine und der russischen Invasion. Ich kann die Dinge besser sortieren. Das ist viel, das ist mehr als von einem Tagebuch erwartbar ist.

Bewertung vom 28.12.2022
Glaube, Hoffnung und Gemetzel
Cave, Nick;O'Hagan, Sean

Glaube, Hoffnung und Gemetzel


ausgezeichnet

So etwas kann schief gehen. Ein Musiker. Einer der ganz Großen. Eine Autobiografie. Keine Autobiografie. Ein Gespräch. Ein anderer Musiker. Musikjournalist. Viele Gespräche. Telefongespräche während der Pandemie. So etwas kann schnell nach Merch und nach Langeweile riechen.

Aber das ist Nick Cave, das ist manisch, das ist obsessiv, das ist kompulsiv, das ist introspektiv, das ist ehrgeizig und das ist mit jeder Faser des Geschriebenen interessant.

»Du kannst mich alles fragen. Es gibt keinen Moderator. Das ist etwas zwischen dir und mir. Mal schauen, was dabei herauskommt« ist das Prinzip von 𝑇ℎ𝑒 𝑅𝑒𝑑 𝐻𝑎𝑛𝑑 𝐹𝑖𝑙𝑒𝑠, in dem wir alle Nick Cave schreiben können, er uns aufrichtig und direkt zu antworten bereit ist. Und es ist das Prinzip dieses Interviews. Nick Cave redet über Nick Cave, und Séan O'Hagan ist ein im Halbschatten bleibender Fragender. An den richtigen Stellen hinterfragt O'Hagan die Darstellungen, zieht Bezüge, die Cave nicht zieht, tritt nahe. Cave ist aufrichtig bemüht, nicht auszuweichen. Das Gespräch richtet sich auf die Musik in der Entstehung, auf die für ihn heiligen Momente der Konzerte und auf sein Leben. Der Tod von Arthur, der 15jährig in einem LDS-Tripp von einer Klippe stürzte, ist dabei ein Fixpunkt.

Gefragt nach der Essenz seines Charakters, sagt Cave »Es hat etwas mit Schönheit und Traurigkeit zu tun...Oder auch mit der Nähe zwischen den beiden.« Dieser Text ist genau das, er ist schön, traurig und von einer optimistischen Stärke, die nährend ist. Wir müssen nicht so leben wie Cave und auch seine tief empfundene Religiosität nicht teilen, wir brauchen nur Offenheit, um die Universalität der aufgeworfen Themen anzunehmen. Aus Cave und seiner Kunst fließt eine Kraft, die eine strömende Wirkung auf mich hat, offen, weit, liebend, friedlich und dankbar reagiere ich. Für Personenkult bin ich nicht sehr empfänglich, aber das ist Nick Cave und er macht einen Unterschied für mich und meine Welt, vielleicht auch für deine.

Bewertung vom 28.12.2022
Austern
Ammer, Andreas

Austern


ausgezeichnet

»Austern«, welch ein sinnlicher Genuss es war, dem sinnieren über unser Verhältnis zu Austern zu folgen. Von einer »𝑝𝑜𝑒𝑡𝑖𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑢𝑛𝑑 𝑧𝑢𝑔𝑙𝑒𝑖𝑐ℎ 𝑒𝑥𝑖𝑠𝑡𝑒𝑛𝑧𝑖𝑎𝑙𝑖𝑠𝑡𝑖𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑆𝑝𝑒𝑖𝑠𝑒«; zu erfahren, dass sie ihr Geschlecht wechselt, manche Arten mehrmals im Jahr, dass 1998 leise die industrielle Befruchtung und Vermehrung Einzug fand. Der Autor zitiert und bezieht sich auf alles Mögliche. Er begegnet den Austern leidenschaftlich und poetisch, er reist ihnen geschichtlich und örtlich hinterher, er dinniert im NOMA und isst sie immer wieder mit Genuss.
Ammer versucht gar nicht erst wie Despret, das Tier an sich zu erfassen. Ihn interessiert das Zusammenspiel von Mensch und Auster. Mein erstes, und definitiv nicht letztes aus der Reihe der zudem in Einband, Typografie, Illustration und Abbildungen bedacht gestalteten Naturkunden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.12.2022
Die Angestellten
Ravn, Olga

Die Angestellten


ausgezeichnet

Olga Ravn wirft uns mit Die Angestellten ins 22. Jahrhundert auf ein Raumschiff mit Menschen, Humanoiden und rätselhaften Gegenständen. Etherisch-poetisch lesen sich die nüchtern gehaltenen Miniaturen aus dem Weltall. Spherisch hallen die nummerierten Zeugenaussagen der Besatzung von Schiff Sechstausend in uns wider. Es soll untersucht werden, welche Beziehungen die Angestellten mit den Gegenständen haben mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsabläufe und der Produktivität. Die Forschenden bleiben unsichtbar und greifen scheinbar nicht ein in das Geschehen und die Objekte ihrer Untersuchung, oder sind es Subjekte?

»Zeugenaussage 022
Mir wurde gesagt, es gäbe ein Problem mit meinem emotionalen Reaktionsmuster... Ich soll meine kognitive Flexibilität trainieren, wenn ich auf Augenhöhe mit denen, die geboren wurden, Teil der Besatzung sein will. Ist dieses Problem 𝑚𝑒𝑛𝑠𝑐ℎ𝑙𝑖𝑐ℎ? In dem Fall würde ich es gern behalten.«

Die erforschte Besatzung des Raumschiffs, das sind Die Angestellten. Was sie arbeiten, für was ihre Produktivität aufrechterhalten und gesteigert werden soll, wird kaum berichtet. Sie haben Aufgaben zugewiesen bekommen und sie alle versuchen, ihre Sache gut zu machen.
Einige Angestellte sind von der Erde, aus einem Menschen geboren, andere sind humanoid, künstliche Wesen, die den Menschen ganz ähnlich sind, aber effizienter, anders vom Wesen, vermeintlich und sie haben keine Vergänglichkeit, vermeintlich.
Die Angestellten reisen durch das Universum, sie sind alle bemüht, störende Gedanken, Impulse und Gefühle zu unterdrücken, Fehlbarkeiten und Fehlprogrammierungen auszulöschen.

»Zeugenaussage 067
...Warum hab ich all diese Gedanken, wenn ich doch vor allen Dingen eine technische Aufgabe lösen soll? Warum habe ich diese Gedanken, wenn es vor allen Dingen meine Aufgabe ist, die Produktion zu erhöhen? Aus welcher Perspektive sind diese Gedanken 𝑝𝑟𝑜𝑑𝑢𝑘𝑡𝑖𝑣? Ist ein Fehler beim Update passiert? In diesem Fall möchte ich gerne neu gestartet werden.«

Der Plot entspannt sich durch die Miniaturen hindurch. Es gibt Objekte, organische Gegenstände von einem Planeten, die eine magische Gravitationskraft ausüben. Sie evozieren Träume, Sehnsüchte, romantische Gefühle, Triebe, Wut, die durch die Zeugenaussagen der Angestellten schwirren und die Koordinaten durcheinander bringen. Eine vielstimmige Unruhe steigt an, mit voranschreitendem Text werden die Aussagen immer vielfältiger, kritischer, dringlicher und lauter. Es baut sich eine Ahnung auf, irgendetwas ist passiert, das alles verändert, der Kontakt zur Homebase, zum Creator ist vom Kurs abgekommen.

»Zeugenaussage 021
Ich weiß, dass ihr sagt, ich sei ein Gefangener hier, aber die Gegenstände haben mir etwas anderes erzählt.«

Ohne die Künstlerin Lea Gulditte Hestelund würde das Buch nicht existieren, so Ravn. Schaue ich auf ihre Skulpturen und Installationen, verstehe ich sofort wieso, denn sie wirken organisch, auf eine Art erotisch anziehend und wie aus einer anderen Welt. Ravn findet eine Entsprechung in den Gegenständen und in der Sprache, die zugleich nüchtern wissenschaftlich-reporthaft und organisch-warm-poetisch anklingt. Ist Die Angestellten in der Tradition von Science Fiction, Prosa, Popliteratur, Lyrik zu sehen? All das und jenseits davon. Es ist eine Freude für Autofiktion-ermüdete Leser:innen wie mich, diese hoffnungsvoll-subversive Dystopie aus dem Weltall der Zukunft zu lesen. Das Streben nach Steigerung von Produktivität, die Konzentration auf Lohnarbeit und Sachzwängen, wird der subversiven Kraft der Kunst, der Liebe, des Übersinnlichen gestellt. Eigentlich sind keine Gedanken der Angestellten neu. In Ravns Text wirken sie aber frisch, als hätte ich sie das erste Mal gehört. Wir können es als aktuellen Trend betrachten, Dystopien von Frauen, mir fallen spontan einige weitere ein, auch einige, die sich zwischen den Genres bewegen. Aber lesen sie sich wie Ravn? Mit diesem Gefühl für Sprache, Form und Symbolik? Nein, keine kann schreiben wie sie und einen Perfektionisten wie Alexander Sitzmann als Übersetzer gewinnen zu können, hat sicherlich geholfen, dass der Text auch in der deutschen Sprache großartig ist. Völlig zu Recht ist Ravn der internationale Durchbruch gelungen. In der englischen Übersetzung landete Die Angestellten 2021 auf der Shortlist des Booker Prizes.

Bewertung vom 07.11.2022
Rosa in Grau
Scharbert, Simone

Rosa in Grau


ausgezeichnet

Wir erleben den Kosmos einer Frau, die psychotisch ist, sie hat eine Scheibe zwischen sich und der Welt, im »Kopf ein Brei an Lauten«, schwimmende Stimmen. Rück-, oder Vorblenden gibt es nicht, auch müssen wir uns einige Kontexte erschließen.

Geht es ihr gut? Das ist nicht einfach zu beurteilen. Ihre Gedanken sind fragmentiert, assoziativ gelockert, sie hat ein begrenztes Verständnis für die Welt, was Scharbert sprachlich gekonnt durch kurze Sätze und assoziative Gedankenketten in Szene setzt. Die Frau hat einen poetischen Blick und sie hat Rosa in sich, ein Mädchen, das da ist, sie beruhigt, wenn sie Schutz braucht. Meist ist sie ruhig, zart und friedlich, aber manchmal sind da andere Stimmen, die sind laut, die schimpfen, manchmal rollt eine Wut über sie, sie schreit, wütet, später merkt sie, da ist Blut.
Durch ihre Scheibe, mal klar, mal milchig, sieht sie zwei Kinder, schemenhaft, es sind wohl ihre, die nicht mehr da sind. Die Welt hinter ihrer Scheibe ist oft grau, manche Menschen scheinen ebenso rosa durch, wie Eugen, der auch in der Anstalt lebt oder wie Käthe, die Pflegerin, die sie mag.

Simone Scharbert hat sich großes vorgenommen, die Welt aus Sicht einer chronisch psychotischen Frau zu schildern vor dem Hintergrund einer unterbelichteten Zeit der Psychiatriegeschichte von der Nachkriegszeit bis zu den Reformen in den 70er Jahren. Kurz bevor die Geschichte einsetzt, wehte der Wind der Vernichtung durch die Anstalt Eglfing-Haar und Kontinuitäten liegen nahe. Die Frau spürt die Verwaltung, die Verwahrung und den Hunger. Fixierungen mit den Facetten des Schutzes und der Gewaltausübung werden sensibel und realistisch dargestellt, ebenso die Einführung und Wirkung von Medikamenten und der in Deutschland stark diskutierten EKT.

Das Nachwort von Scharbert hilft, die fragmentierte Geschichte einzuordnen. Es macht ihre Dringlichkeit deutlich und zeigt was für eine akribische Sprach- und Recherchearbeit in diesem Roman steckt. Scharbert hat das Talent, unseren Blick für Sprache und entrückte Erlebenswelten zu schulen und gerade in den Auslassungen viel zu erzählen.

Bewertung vom 07.11.2022
Anderes kenne ich nicht
Levi, Elisa

Anderes kenne ich nicht


sehr gut

»Ich weiß ja nicht, wo sie herkommen, aber von hier läuft man weg und kommt nicht wieder. Wir sind verflucht. Unser Fluch ist ein Wald, aus dem es keinen Ausweg gibt.«

Der Wald ist die Grenze von Leas Welt, denn wer durch den Wald geht, kann nicht zurück. Seitdem Lea denken kann, hat sie ein Brennen im Bauch, sie kennt nur ihr Dorf und es zieht sie etwas heraus, der Untergang, die Freiheit, die Schuld. Text und die Erzählerin erscheinen uns suchend, halbwissend, strömend, sie Streifen das magisch-realistische.

Lea betritt den Wald, trifft auf einen Señor, der schweigt und zuhört. Sie wird ihm alles beichten, ihre Welt, ihr Universum, ihr Brennen und ihre Taten. Sie erzählt mit Hast ohne Auslassungen, unter dem fließenden Tempo ihres Erzählstroms liegt eine Langsamkeit, Ruhe und Melancholie.

19 Jahre alt ist Lea und sie hat eine ganze Welt erlebt. Ihr Dorf, das sind vier Straßen, ein Lebensmittelladen, eine Kirche, ein voller Kopf und eine Schwester mit leerem Kopf. Die Mama, okupiert von Melancholie, Scham und Erschöpfung, pflegt Nora, Lea hilft mit. Leas Welt, das sind drei Gleichaltrige, ihr Brennen im Bauch, anderes kennt sie nicht.

Lea spürt, ihre Mama sehnt sich leise, Nora möge diese Welt verlassen. Ihre Oma wird sterben und Fremde in das Haus ziehen. Die Fremden sollen weg, doch sieht sie die fremde Frau, brennt der Bauch lichterloh und Tiere rennen durch ihren Kopf. Lea dachte, sie mag Javier, schon immer, und wäre da nicht dieses Brennen, wäre er aktiver, er würde wohl ihr Mann. Marco ist impulsiv, wirbt um Lea. Catalina, die würde Marco nehmen, die würde jeden nehmen, der sie zurück liebt. Der Bürgermeister und die anderen sprechen vom Weltuntergang, immerzu und sie werden Recht behalten, denn eine Welt, die wird untergehen.

Bewertung vom 07.11.2022
Strega
Holm, Johanne Lykke

Strega


ausgezeichnet

»Ich betrachtete mich selbst im Spiegel. Ich erkannte das Bild einer jungen, aber gefallenen Frau. Ich beugte mich vor und drückte den Mund gegen den Spiegel. Der Wasserdampf beschlug das Glas wie Kondensat in einem Zimmer, in dem jemand tief geschlafen hat, wie ein Toter. Hinter mir sah ich das Zimmer widergespiegelt. Im Bett lagen Haarnadeln, Schlaftabletten und ein Baumwollschlüpfer. Auf dem Laken waren Flecken von Milch und Blut.«

Der »Strega«-Sound ist zart, harmonisch, surreal und hintergründig vergiftet. Meditativ zieht es uns in die mystische Erzählung einer Initiation. Aus der Ferne erzählt Rafaela von einer beschlagen Vergangenheit. Sie ist neunzehn, als ihre Kindlichkeit endet. Ihre Mutter schickt sie nach Strega, in jene wage abgeschiedene Zwischenwelt, die sie zeitlos, zwischen Wachen und Träumen auf das Leben als Frau vorbereiten soll.

Im verblichenen Hotel Olympic gibt es keine Gäste, nur sie und acht weitere Mädchen. Sie sind Saisonarbeiterinnen in strenger Uniform, die in Hingabe dienen, Regeln befolgen und Strafen empfangen. Sie sind lieb, sie sind naiv, sie Begehren auf. Die Mädchen entdecken in ihrer eifrigen Devotion das Böse in Gestalt eines Mädchenmörders, in der übernahme des gewaltvoll-männlichen Blicks und sie finden zu ihrer eigenen Macht.

Bei »Strega« ist nicht zu merken, dass es sich um eine Übersetzung handelt, denn egal welche Seite ich aufschlage, die Sprache ist betörend sinnlich. Bei »Strega« sitzt jeder Satz. Ich spüre den Impuls, Passagen herausschreiben, weil ich sie halten möchte. Zur gleichen Zeit folge ich der rhythmischen mystischen Stimme, treibe im Text, der gehalten wird durch den Einband, den Vorsatz und den Nachsatz, die die Künstlerin Ida Sønder Thorhauge gestaltete.