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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 28.12.2022
Glaube, Hoffnung und Gemetzel
Cave, Nick;O'Hagan, Sean

Glaube, Hoffnung und Gemetzel


ausgezeichnet

So etwas kann schief gehen. Ein Musiker. Einer der ganz Großen. Eine Autobiografie. Keine Autobiografie. Ein Gespräch. Ein anderer Musiker. Musikjournalist. Viele Gespräche. Telefongespräche während der Pandemie. So etwas kann schnell nach Merch und nach Langeweile riechen.

Aber das ist Nick Cave, das ist manisch, das ist obsessiv, das ist kompulsiv, das ist introspektiv, das ist ehrgeizig und das ist mit jeder Faser des Geschriebenen interessant.

»Du kannst mich alles fragen. Es gibt keinen Moderator. Das ist etwas zwischen dir und mir. Mal schauen, was dabei herauskommt« ist das Prinzip von 𝑇ℎ𝑒 𝑅𝑒𝑑 𝐻𝑎𝑛𝑑 𝐹𝑖𝑙𝑒𝑠, in dem wir alle Nick Cave schreiben können, er uns aufrichtig und direkt zu antworten bereit ist. Und es ist das Prinzip dieses Interviews. Nick Cave redet über Nick Cave, und Séan O'Hagan ist ein im Halbschatten bleibender Fragender. An den richtigen Stellen hinterfragt O'Hagan die Darstellungen, zieht Bezüge, die Cave nicht zieht, tritt nahe. Cave ist aufrichtig bemüht, nicht auszuweichen. Das Gespräch richtet sich auf die Musik in der Entstehung, auf die für ihn heiligen Momente der Konzerte und auf sein Leben. Der Tod von Arthur, der 15jährig in einem LDS-Tripp von einer Klippe stürzte, ist dabei ein Fixpunkt.

Gefragt nach der Essenz seines Charakters, sagt Cave »Es hat etwas mit Schönheit und Traurigkeit zu tun...Oder auch mit der Nähe zwischen den beiden.« Dieser Text ist genau das, er ist schön, traurig und von einer optimistischen Stärke, die nährend ist. Wir müssen nicht so leben wie Cave und auch seine tief empfundene Religiosität nicht teilen, wir brauchen nur Offenheit, um die Universalität der aufgeworfen Themen anzunehmen. Aus Cave und seiner Kunst fließt eine Kraft, die eine strömende Wirkung auf mich hat, offen, weit, liebend, friedlich und dankbar reagiere ich. Für Personenkult bin ich nicht sehr empfänglich, aber das ist Nick Cave und er macht einen Unterschied für mich und meine Welt, vielleicht auch für deine.

Bewertung vom 28.12.2022
Austern
Ammer, Andreas

Austern


ausgezeichnet

»Austern«, welch ein sinnlicher Genuss es war, dem sinnieren über unser Verhältnis zu Austern zu folgen. Von einer »𝑝𝑜𝑒𝑡𝑖𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑢𝑛𝑑 𝑧𝑢𝑔𝑙𝑒𝑖𝑐ℎ 𝑒𝑥𝑖𝑠𝑡𝑒𝑛𝑧𝑖𝑎𝑙𝑖𝑠𝑡𝑖𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑆𝑝𝑒𝑖𝑠𝑒«; zu erfahren, dass sie ihr Geschlecht wechselt, manche Arten mehrmals im Jahr, dass 1998 leise die industrielle Befruchtung und Vermehrung Einzug fand. Der Autor zitiert und bezieht sich auf alles Mögliche. Er begegnet den Austern leidenschaftlich und poetisch, er reist ihnen geschichtlich und örtlich hinterher, er dinniert im NOMA und isst sie immer wieder mit Genuss.
Ammer versucht gar nicht erst wie Despret, das Tier an sich zu erfassen. Ihn interessiert das Zusammenspiel von Mensch und Auster. Mein erstes, und definitiv nicht letztes aus der Reihe der zudem in Einband, Typografie, Illustration und Abbildungen bedacht gestalteten Naturkunden.

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Bewertung vom 28.12.2022
Die Angestellten
Ravn, Olga

Die Angestellten


ausgezeichnet

Olga Ravn wirft uns mit Die Angestellten ins 22. Jahrhundert auf ein Raumschiff mit Menschen, Humanoiden und rätselhaften Gegenständen. Etherisch-poetisch lesen sich die nüchtern gehaltenen Miniaturen aus dem Weltall. Spherisch hallen die nummerierten Zeugenaussagen der Besatzung von Schiff Sechstausend in uns wider. Es soll untersucht werden, welche Beziehungen die Angestellten mit den Gegenständen haben mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsabläufe und der Produktivität. Die Forschenden bleiben unsichtbar und greifen scheinbar nicht ein in das Geschehen und die Objekte ihrer Untersuchung, oder sind es Subjekte?

»Zeugenaussage 022
Mir wurde gesagt, es gäbe ein Problem mit meinem emotionalen Reaktionsmuster... Ich soll meine kognitive Flexibilität trainieren, wenn ich auf Augenhöhe mit denen, die geboren wurden, Teil der Besatzung sein will. Ist dieses Problem 𝑚𝑒𝑛𝑠𝑐ℎ𝑙𝑖𝑐ℎ? In dem Fall würde ich es gern behalten.«

Die erforschte Besatzung des Raumschiffs, das sind Die Angestellten. Was sie arbeiten, für was ihre Produktivität aufrechterhalten und gesteigert werden soll, wird kaum berichtet. Sie haben Aufgaben zugewiesen bekommen und sie alle versuchen, ihre Sache gut zu machen.
Einige Angestellte sind von der Erde, aus einem Menschen geboren, andere sind humanoid, künstliche Wesen, die den Menschen ganz ähnlich sind, aber effizienter, anders vom Wesen, vermeintlich und sie haben keine Vergänglichkeit, vermeintlich.
Die Angestellten reisen durch das Universum, sie sind alle bemüht, störende Gedanken, Impulse und Gefühle zu unterdrücken, Fehlbarkeiten und Fehlprogrammierungen auszulöschen.

»Zeugenaussage 067
...Warum hab ich all diese Gedanken, wenn ich doch vor allen Dingen eine technische Aufgabe lösen soll? Warum habe ich diese Gedanken, wenn es vor allen Dingen meine Aufgabe ist, die Produktion zu erhöhen? Aus welcher Perspektive sind diese Gedanken 𝑝𝑟𝑜𝑑𝑢𝑘𝑡𝑖𝑣? Ist ein Fehler beim Update passiert? In diesem Fall möchte ich gerne neu gestartet werden.«

Der Plot entspannt sich durch die Miniaturen hindurch. Es gibt Objekte, organische Gegenstände von einem Planeten, die eine magische Gravitationskraft ausüben. Sie evozieren Träume, Sehnsüchte, romantische Gefühle, Triebe, Wut, die durch die Zeugenaussagen der Angestellten schwirren und die Koordinaten durcheinander bringen. Eine vielstimmige Unruhe steigt an, mit voranschreitendem Text werden die Aussagen immer vielfältiger, kritischer, dringlicher und lauter. Es baut sich eine Ahnung auf, irgendetwas ist passiert, das alles verändert, der Kontakt zur Homebase, zum Creator ist vom Kurs abgekommen.

»Zeugenaussage 021
Ich weiß, dass ihr sagt, ich sei ein Gefangener hier, aber die Gegenstände haben mir etwas anderes erzählt.«

Ohne die Künstlerin Lea Gulditte Hestelund würde das Buch nicht existieren, so Ravn. Schaue ich auf ihre Skulpturen und Installationen, verstehe ich sofort wieso, denn sie wirken organisch, auf eine Art erotisch anziehend und wie aus einer anderen Welt. Ravn findet eine Entsprechung in den Gegenständen und in der Sprache, die zugleich nüchtern wissenschaftlich-reporthaft und organisch-warm-poetisch anklingt. Ist Die Angestellten in der Tradition von Science Fiction, Prosa, Popliteratur, Lyrik zu sehen? All das und jenseits davon. Es ist eine Freude für Autofiktion-ermüdete Leser:innen wie mich, diese hoffnungsvoll-subversive Dystopie aus dem Weltall der Zukunft zu lesen. Das Streben nach Steigerung von Produktivität, die Konzentration auf Lohnarbeit und Sachzwängen, wird der subversiven Kraft der Kunst, der Liebe, des Übersinnlichen gestellt. Eigentlich sind keine Gedanken der Angestellten neu. In Ravns Text wirken sie aber frisch, als hätte ich sie das erste Mal gehört. Wir können es als aktuellen Trend betrachten, Dystopien von Frauen, mir fallen spontan einige weitere ein, auch einige, die sich zwischen den Genres bewegen. Aber lesen sie sich wie Ravn? Mit diesem Gefühl für Sprache, Form und Symbolik? Nein, keine kann schreiben wie sie und einen Perfektionisten wie Alexander Sitzmann als Übersetzer gewinnen zu können, hat sicherlich geholfen, dass der Text auch in der deutschen Sprache großartig ist. Völlig zu Recht ist Ravn der internationale Durchbruch gelungen. In der englischen Übersetzung landete Die Angestellten 2021 auf der Shortlist des Booker Prizes.

Bewertung vom 07.11.2022
Rosa in Grau
Scharbert, Simone

Rosa in Grau


ausgezeichnet

Wir erleben den Kosmos einer Frau, die psychotisch ist, sie hat eine Scheibe zwischen sich und der Welt, im »Kopf ein Brei an Lauten«, schwimmende Stimmen. Rück-, oder Vorblenden gibt es nicht, auch müssen wir uns einige Kontexte erschließen.

Geht es ihr gut? Das ist nicht einfach zu beurteilen. Ihre Gedanken sind fragmentiert, assoziativ gelockert, sie hat ein begrenztes Verständnis für die Welt, was Scharbert sprachlich gekonnt durch kurze Sätze und assoziative Gedankenketten in Szene setzt. Die Frau hat einen poetischen Blick und sie hat Rosa in sich, ein Mädchen, das da ist, sie beruhigt, wenn sie Schutz braucht. Meist ist sie ruhig, zart und friedlich, aber manchmal sind da andere Stimmen, die sind laut, die schimpfen, manchmal rollt eine Wut über sie, sie schreit, wütet, später merkt sie, da ist Blut.
Durch ihre Scheibe, mal klar, mal milchig, sieht sie zwei Kinder, schemenhaft, es sind wohl ihre, die nicht mehr da sind. Die Welt hinter ihrer Scheibe ist oft grau, manche Menschen scheinen ebenso rosa durch, wie Eugen, der auch in der Anstalt lebt oder wie Käthe, die Pflegerin, die sie mag.

Simone Scharbert hat sich großes vorgenommen, die Welt aus Sicht einer chronisch psychotischen Frau zu schildern vor dem Hintergrund einer unterbelichteten Zeit der Psychiatriegeschichte von der Nachkriegszeit bis zu den Reformen in den 70er Jahren. Kurz bevor die Geschichte einsetzt, wehte der Wind der Vernichtung durch die Anstalt Eglfing-Haar und Kontinuitäten liegen nahe. Die Frau spürt die Verwaltung, die Verwahrung und den Hunger. Fixierungen mit den Facetten des Schutzes und der Gewaltausübung werden sensibel und realistisch dargestellt, ebenso die Einführung und Wirkung von Medikamenten und der in Deutschland stark diskutierten EKT.

Das Nachwort von Scharbert hilft, die fragmentierte Geschichte einzuordnen. Es macht ihre Dringlichkeit deutlich und zeigt was für eine akribische Sprach- und Recherchearbeit in diesem Roman steckt. Scharbert hat das Talent, unseren Blick für Sprache und entrückte Erlebenswelten zu schulen und gerade in den Auslassungen viel zu erzählen.

Bewertung vom 07.11.2022
Anderes kenne ich nicht
Levi, Elisa

Anderes kenne ich nicht


sehr gut

»Ich weiß ja nicht, wo sie herkommen, aber von hier läuft man weg und kommt nicht wieder. Wir sind verflucht. Unser Fluch ist ein Wald, aus dem es keinen Ausweg gibt.«

Der Wald ist die Grenze von Leas Welt, denn wer durch den Wald geht, kann nicht zurück. Seitdem Lea denken kann, hat sie ein Brennen im Bauch, sie kennt nur ihr Dorf und es zieht sie etwas heraus, der Untergang, die Freiheit, die Schuld. Text und die Erzählerin erscheinen uns suchend, halbwissend, strömend, sie Streifen das magisch-realistische.

Lea betritt den Wald, trifft auf einen Señor, der schweigt und zuhört. Sie wird ihm alles beichten, ihre Welt, ihr Universum, ihr Brennen und ihre Taten. Sie erzählt mit Hast ohne Auslassungen, unter dem fließenden Tempo ihres Erzählstroms liegt eine Langsamkeit, Ruhe und Melancholie.

19 Jahre alt ist Lea und sie hat eine ganze Welt erlebt. Ihr Dorf, das sind vier Straßen, ein Lebensmittelladen, eine Kirche, ein voller Kopf und eine Schwester mit leerem Kopf. Die Mama, okupiert von Melancholie, Scham und Erschöpfung, pflegt Nora, Lea hilft mit. Leas Welt, das sind drei Gleichaltrige, ihr Brennen im Bauch, anderes kennt sie nicht.

Lea spürt, ihre Mama sehnt sich leise, Nora möge diese Welt verlassen. Ihre Oma wird sterben und Fremde in das Haus ziehen. Die Fremden sollen weg, doch sieht sie die fremde Frau, brennt der Bauch lichterloh und Tiere rennen durch ihren Kopf. Lea dachte, sie mag Javier, schon immer, und wäre da nicht dieses Brennen, wäre er aktiver, er würde wohl ihr Mann. Marco ist impulsiv, wirbt um Lea. Catalina, die würde Marco nehmen, die würde jeden nehmen, der sie zurück liebt. Der Bürgermeister und die anderen sprechen vom Weltuntergang, immerzu und sie werden Recht behalten, denn eine Welt, die wird untergehen.

Bewertung vom 07.11.2022
Strega
Holm, Johanne Lykke

Strega


ausgezeichnet

»Ich betrachtete mich selbst im Spiegel. Ich erkannte das Bild einer jungen, aber gefallenen Frau. Ich beugte mich vor und drückte den Mund gegen den Spiegel. Der Wasserdampf beschlug das Glas wie Kondensat in einem Zimmer, in dem jemand tief geschlafen hat, wie ein Toter. Hinter mir sah ich das Zimmer widergespiegelt. Im Bett lagen Haarnadeln, Schlaftabletten und ein Baumwollschlüpfer. Auf dem Laken waren Flecken von Milch und Blut.«

Der »Strega«-Sound ist zart, harmonisch, surreal und hintergründig vergiftet. Meditativ zieht es uns in die mystische Erzählung einer Initiation. Aus der Ferne erzählt Rafaela von einer beschlagen Vergangenheit. Sie ist neunzehn, als ihre Kindlichkeit endet. Ihre Mutter schickt sie nach Strega, in jene wage abgeschiedene Zwischenwelt, die sie zeitlos, zwischen Wachen und Träumen auf das Leben als Frau vorbereiten soll.

Im verblichenen Hotel Olympic gibt es keine Gäste, nur sie und acht weitere Mädchen. Sie sind Saisonarbeiterinnen in strenger Uniform, die in Hingabe dienen, Regeln befolgen und Strafen empfangen. Sie sind lieb, sie sind naiv, sie Begehren auf. Die Mädchen entdecken in ihrer eifrigen Devotion das Böse in Gestalt eines Mädchenmörders, in der übernahme des gewaltvoll-männlichen Blicks und sie finden zu ihrer eigenen Macht.

Bei »Strega« ist nicht zu merken, dass es sich um eine Übersetzung handelt, denn egal welche Seite ich aufschlage, die Sprache ist betörend sinnlich. Bei »Strega« sitzt jeder Satz. Ich spüre den Impuls, Passagen herausschreiben, weil ich sie halten möchte. Zur gleichen Zeit folge ich der rhythmischen mystischen Stimme, treibe im Text, der gehalten wird durch den Einband, den Vorsatz und den Nachsatz, die die Künstlerin Ida Sønder Thorhauge gestaltete.

Bewertung vom 07.11.2022
Die Kuratorin
Kröll, Norbert Maria

Die Kuratorin


ausgezeichnet

Wir können die Kuratorin auf den ersten Seiten nur abstoßend finden. Sie ist kalt, kalkulierend, hart, ehrgeizig und sie möchte immer höher hinaus. Sie verachtet fast alles. Die Kuratorin hat nur eine Freundin und sie ist überzeugt, wenn jemand Sex mit ihr will, dann nur, weil er sich einen Vorteil erhofft. Doch dann passiert ein Unfall mit einem jungen Künstler. Ein Kondom platzt, die Pille danach versagt und etwas in ihr entscheidet sich gegen eine Abtreibung. Ihre einzige Freundin wünscht sich schon lange ein Kind, so scheint sich eine perfekte Lösung aufzutun.

Ja, der Plot erinnert auf den ersten Blick an einen schlechten Fernsehfilm, auch noch aus der Feder eines Mannes, auf den ersten Blick, denn erst vor Kurzem hat Norbert Maria Kröll sich als nonbinär geoutet. Ich lauerte darauf, mich fürchtend, dass die Kuratorin sich in den Vater des Kindes verliebt, ihre Karriere aufgibt und wenn sie nicht gestorben ist... Zum Glück haben wir es aber mit einer komplexen Figur und mit einer guten Geschichte zu tun.

Der Text ist rhythmisch, schnell, kühl und laut am Anfang im Kunstbetrieb, wechselhaft leise, fein und dann wieder trotzig in ihrer Familie. Die Kuratorin wird weicher, nachdenklicher im Verlauf und beginnt ihre Strategien in Frage zu stellen. Sie akzeptiert die Rolle der einsamen harten Kuratorin nicht mehr und sucht nach neuen Regeln.

Kunstbetrieb und Care-Arbeit, Kröll zeigt eine ganz eigene Mischung zwischen Subversion und Konservativismus auf. Wie treffend doch Abramović dazu zitiert wird, Nachkommen wären ein Desaster für ihre Arbeit gewesen und Frauen seien in der Kunstwelt nicht so erfolgreich, weil sie Kinder bekämen. Spannen wir den Bogen noch weiter, steckt in diesem Roman die Kontrastierung eine alten mit einem neuen Feminismus. Der Kuratorin die Zuwendung zu einer radical softness anzudichten, das wäre zu viel, aber sie bewegt sich darauf zu.

Der Kuratorin die Zuwendung zu einer radical softness anzudichten, das wäre zu viel, aber sie bewegt sich darauf zu.
Sehr gern gelesen, auch wegen des Humors, wegen der eingearbeiteten Kunstdiskurse, dem Bansky-Bashing, der 𝑚𝑜𝑛𝑒𝑦 𝑠𝑒𝑙𝑙𝑠-Idee und wegen der Einblicke in den Kunstbetrieb.

Bewertung vom 07.11.2022
MTTR
Friese, Julia

MTTR


ausgezeichnet

Theresa lebt ein ganz normales deutsches Großstadtleben. Ihre neue Beziehung mit Erk fühlt sich gut an, die Bürogemeinschaft auch okay und Kinder sind nichts, was sie im Jetzt in Erwägung zieht. Oder doch? Sie nimmt Folsäure ein, geht zur Frauenärztin und in einer Mittagspause der Schock, die Verwirrung, zwei Striche, schwanger. Wenn ich Mutter bin, denkt Theresa, stillen, nein, Erk und ich werden die Care-Arbeit teilen. Ich werde nicht abtauchen, wie Isabell mir schon jetzt vorwirft. Ich werde mich im Beruf nicht zerreißen. Ich werde kein großes Ding um Schwangerschaft und Geburt machen, ins Krankenhaus gehen, wird schon klappen. Ich werde zurecht kommen mit der Mutter von Erk, die Mikroaggressionen verteilt. Wie meine Mutter, nein, nein, nein. Theresa ahnt, dass ein Zuviel auf sie einströmen wird.

MTTR, gegenwärtig in Konsonantenschrift, wir verstehen es sofort. Nein, es ist die Abkürzung für Mean Time to Recover | Repair aus der Systemsprache, so leitet die Autorin den Roman ein. Sie stößt uns gleich darauf, dass es ihr nicht nur darum geht, die Geschichte einer Mutterwerdung zu erzählen, sondern auch um das Erbe einer nationalsozialistisch geprägten Erziehung. Theresa kommt aus einer normalen nicht-normalen westdeutschen Familie. Ihre Mutter, Königin der kleinbürgerlichen Abschottung, zeigt sich im Außen akkurat, kontrolliert, sich abhebend von vermeintlich "Assozialen" und "Ausländerkindern". Im Innen erlebt Theresa sie kalt, distanziert, kritisierend und gemeinsam mit dem Vater Gewalt ausübend. Friese streut immer wieder Gedanken ein zum nationalsozialistischen Erbe, zu einer wenig belichteten Fortführung autoritärer, zur Anpassung und Entsolidarisierung führender Erziehung. Es mag daran liegen, dass ich mich nicht als Teil dieses implizierten "Wirs mit unseren Eltern" empfinden kann, dass mich diese Ebene nicht am meisten überzeugte. Viel überzeugender war MTTR in der direkten, detailreichen und schonungslosen Transformation zum Muttersein, in der alles zuviel ist, in der alle reinreden und reinhandeln. Friese kann nicht nur Journalismus, ein beeindruckendes Debüt.

Bewertung vom 07.11.2022
Noon
Kränzler, Lisa

Noon


sehr gut

»Pumpend entlade ich mich ganz gut. Zum Bersten geladen bin ich, wenn gesund und genährt. Auch malend kann man sich entladen. Was ich lernen will: meine Kraft in den Text pumpen; mit Druck an die Maschine gehen und dabei nicht wahnsinnig werden, mich schreibend verausgaben; das Kribbeln in den Schenkeln in Konzentration verwandeln, allen Strom ins Hirn (ab)leiten, den allzu lebendigen Leib vor den Karren der Sprache spannen. Druck zeugt Sprachgewalt pro Papierfläche: Diese Utopie wahr zu machen wohl meine Lebensaufgabe.«

Mit energiegeladen Textfetzen steigt »Noon« ein. Aus Erzählanläufen, Aufzählungen und Notizen geht hervor, sie ist pleite, zieht von Karlsruhe nach Hamburg, sie malt und möchte alles in dieses Buch pumpen, an ihren zentralen Roman »Coming of Karlo« anschließen.

»Noon« ist anstrengend, bereitet Freude, lädt ein zum halbbewussten Eintauchen in azzozoatitive, melodiöse, provokativ-intensive Sprachgefilde. Der Text ist fragmentiert, hat eine inspirierende Energie und Harmonie. Wo die Energie implodiert, ins Depressive und Essgestörte fließt, nervt Noon und ich bin mehrmals kurz davor, es in die Ausgelesen-Abgebrochen-Ecke zu pfeffern. Doch dann kommen Sätze wie »Im Idealfall ist Kunst so stillos wie die Wirklichkeit«, der Text fängt mich wieder ein und ich genieße die Parolen, das Ringen um Sprache, die präzisen Formulierungen, die Provokation und den Rhythmus. Kränzler kombiniert erzählskizzierte Gedanken, Dialogerinnerungen, Reflexionen, sie arrangiert sie, rearrangiert, ringt um Genauigkeit.

Wer Spaß an experimenteller Literatur hat, an »Tagebuch-Prosa«, an Ästhetik und an Sprache selbst, es provokant, klug, melodiös mag, lasse sich ein auf »Noon«. Wahrscheinlich steigt der Genuss für all jene, die die Bezüge zu »Coming of Karlo« einzuordnen wissen. Es ist aber auch so eine wohltuende Abwechslung zu all der Plotgetriebenen, um Realitäten ringenden Gegenwartsliteraturen.

Bewertung vom 07.11.2022
Die postkoloniale Stadt lesen

Die postkoloniale Stadt lesen


ausgezeichnet

Ausgehend von Straßen, Bauten, Plätzen und historischen Personen werden die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart Friedrichshain-Kreuzbergs in unser Bewusstsein gerückt.
Die meisten Beiträge beziehen sich auf Übersee und Rassismus, andere spannen den Bogen des deutschen Kolonialismusbegriffs weiter und beziehen die imperiale Vereinnahmung des Nahen Ostens und des östlichen Europas mit ein. Schade ist die chronologische Sortierung, denn gerade die ersten Beiträge lesen sich mitunter wie eine Seminararbeit, was mit der fragmentarischen Quellenlage zusammenhängt. Wir erfahren von Macellino, der 1854 vor Gericht seine Freiheit forderte, von W. E. B. Du Bois, Mtoro Bakari, Quane a Dibobe, die im 19. Jahrhundert in Berlin lebten, von Menschenschauen und Kolonialfilmen. von Kolonialwaren und - Handel, wie Sarotti, Muratti, die Oranienapotheke werden thematisiert, ebenso wie der koloniale Kontext von Chamiso, Pückler, Rathenau, Stresemann. Und die wundervollen May Ayim löst 2010 als Namensgeberin für einen Uferabschnitt den Kolonialisten Groeben ab.

Ich empfehle die Lektüre von »Die Postkoloniale Stadt lesen« sehr, denn er sollte uns viel präsenter sein, der deutsche Postkolonialismus. Bitte mehr davon.