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cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 20.02.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


ausgezeichnet

Wenn eine Entscheidung zugleich richtig und falsch ist
Miranda Cowley Hellers Roman „Der Papierpalast“ ist nach dem Sommerquartier einer Familie in Back Woods am Cape Cod benannt, die sich dort jahrzehntelang jeden Sommer mit Freunden trifft. Das Ferienhaus und die Schlafhütten sind aus gepresster Pappe gebaut und von Jahr zu Jahr in schlechteren Zustand. Im Mittelpunkt steht Eleanor genannt Elle Bishop, die mit diesem Ort Geheimnisse und schmerzliche Erfahrungen, aber auch den Beginn einer lebenslangen Liebe verbindet. Hier haben sich Elle und Jonas schon als Kinder kennengelernt. Der Roman erzählt 24 Stunden aus dem Leben der nunmehr etwa 50jährigen Elle mit Zeitangaben bis zum Augenblick der Entscheidung am Schluss. In den Teilen dazwischen wird ihr Leben und das ihrer Familie und der jeweiligen Partner von Großeltern beiderseits und Eltern erzählt. Daraus ergibt sich eine ungeheure Personenvielfalt, bei der man leicht den Überblick verliert. Bei dem Treffen in der Erzählgegenwart sehen sich auch nach langer Zeit Elle und Jonas wieder und haben zum ersten Mal Sex, obwohl ihre Ehepartner und andere Gäste ganz in der Nähe sind. Dieses Ereignis macht eine Entscheidung unumgänglich. Elle und Jonas haben nie aufgehört einander zu lieben, aber zumindest Elle ist mit ihrem Partner Peter und den Kindern glücklich. Sie liebt beide Männer. Menschen können nicht rückwärts fliegen wie Kolibris. Die Vergangenheit ist vorbei und lässt sich nicht mehr ändern. Nur für die Zukunft können wir mit vollem Risiko eine Entscheidung treffen. In der Nacht hat sie noch ihrem geliebten Mann Peter versichert, dass sie ihm gehört. Ist das so?
Miranda Cowley Hellers Roman wird zu Recht hoch gelobt. Es ist eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, wo dunkle Geheimnisse lange verschwiegen und dann enthüllt werden. Die Autorin punktet mit sorgfältiger Charakterisierung vor allem der weiblichen Figuren, aber auch mit eindrucksvollen Naturbeschreibungen, die den Leser verstehen lassen, warum Cape Cod so berühmt ist. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 20.02.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


ausgezeichnet

Fabuliert Maria Fabiola?
Eulabee und Maria Fabiola leben in den 80er Jahren in Sea Cliff in der Nähe von San Francisco und sind enge Freundinnen. Sie sind 13 Jahre alt und besuchen die 8. Klasse einer teuren Privatschule. Maria Fabiola zieht mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit alle Blicke auf sich und steht überall im Mittelpunkt. Zwei weitere Mädchen, Julia und Faith, gehören zu ihrem Freundeskreis. Eines Tages passiert ein Zwischenfall, der vor allem Eulabees Leben für immer verändern wird. Ein Autofahrer hält neben ihnen und fragt nach der Uhrzeit. Im Anschluss behauptet Maria Fabiola, eine unzüchtige Handlung gesehen zu haben. Nur Eulabee wagt es, ihr zu widersprechen, Julia und Faith stützen ihre Behauptung auch in der Schule und gegenüber der Polizei. Von da an gilt Eulabee als Verräterin, wird ausgegrenzt und gemobbt. Wenig später verschwindet Maria Fabiola spurlos. Später wird sie eine abenteuerliche Geschichte einer Entführung erzählen, an der nur Eulabee Zweifel hat, weil sie auffällige Parallelen zu einem Roman von Stevenson aufweist. Dann passieren noch weitere Dinge, die Eulabees Ruf vollends ruinieren. Sie fliegt von der Schule, was ihr in ihrer unerträglichen Isolation ganz gelegen kommt. 34 Jahre später wird Eulabee Maria Fabiola zufällig auf Capri wieder treffen. Sie will die Freundin von einst zwingen, zu den damaligen Ereignissen Stellung zu nehmen.

Der gut lesbare Roman ist eine Coming-of-Age- Geschichte. Da sind junge Mädchen, die mit ihren körperlichen Veränderungen zurechtkommen müssen, während sie die Aufmerksamkeit der Jungen erregen und erwachsen werden. Sie erlauben sich allerlei Streiche und tragen Konflikte mit Eltern und Lehrern aus. Ihr Leben verändert sich genauso wie ihr geliebter Heimatort Sea Cliff, wo die besten Wohnlagen Blick auf die Golden Gate Bridge und das Meer haben. Auf diesen Ort spielt auch indirekt der Titel an, denn die Mädchen kennen sich mit den Gezeiten so gut aus, dass sie die Felsen überqueren und von einer Bucht zur anderen klettern können, ohne von den Wellen ins Meer gerissen zu werden.
Mir hat der Roman gut gefallen, obwohl er auf mich wie ein Beispiel von Young Adult Fiction wirkt. Insgesamt durchaus empfehlenswert.

Bewertung vom 19.02.2022
Boom Town Blues
Dunne, Ellen

Boom Town Blues


sehr gut

Im Haifischbecken
In Ellen Dunnes neuem Roman “Boom Town Blues“ zieht die Münchner Kriminalhauptkommissarin Patsy Logan vorübergehend nach Irland zur ihrer Kusine Sinéad, um sich eine Auszeit zu gönnen. Sie hat Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, und ihre Ehe mit Psychotherapeut Stefan Fuchs steht kurz vor dem Aus. Patsy hat irische Wurzeln durch ihren Vater Arthur Logan, der 23 Jahre zuvor Selbstmord begangen hatte, dessen Leiche aber nie gefunden worden war. Die Arbeitspause dauert jedoch nicht lang. Eine deutsche Praktikantin wird in der österreichischen Botschaft bei einem Empfang vergiftet. Patsy soll die irische Polizei zusammen mit dem Österreicher Sam Feurstein unterstützen. Dort sind beide zunächst nicht willkommen. Man lässt sie nicht selbständig ermitteln, gibt ihnen nur untergeordnete Routineaufgaben. Patsy mischt sich jedoch immer wieder ein und sieht Zusammenhänge, die außer ihr niemand erkennt. Es wurde nämlich auch noch der Rechtsanwalt Aidan Kelleher erschossen, der für eine dubiose Firma arbeitete. Die Verbrechen müssen etwas mit dem irischen Boom und dem Crash von 2008 zu tun haben. Ausländische Firmen wurden zuhauf in das Steuerparadies Irland gelockt. Der Immobilienmarkt boomte, als Tausende von Kunden gedrängt wurden, überteuerte Immobilien zu kaufen und dafür unverantwortlich hohe Kredite aufzunehmen. In der Krise verloren viele ihren Job und konnte Hypotheken und Zinsen erst recht nicht zurückzahlen. Die Banken verkauften die Schulden an eigens gegründete neue Firmen, die Häuser wurden gepfändet, und die Käufer verloren alles, ihre Häuser und das investierte Kapital. Auch als die Wirtschaft sich erholte, ging es vielen Menschen nicht gut, während Banken, gewisse Firmen und Anwaltskanzleien immer reicher wurden.
Ellen Dunne zeichnet ein kenntnisreiches Porträt der skrupellosen Gier und entwirft vor diesem Hintergrund eine spannende Krimihandlung. Mir gefällt auch die gelungene Charakterisierung ihrer sympathischen Protagonistin Patsy Logan, die bei ihrer Rückkehr in das Land ihrer Kindheit mit vielen Erinnerungen konfrontiert wird und Stärke zeigen muss. Ein sehr empfehlenswerter Roman.

Bewertung vom 08.02.2022
So reich wie der König
Assor, Abigail

So reich wie der König


ausgezeichnet

Geld regiert die Welt
Abigail Assors Debütroman “So reich wie der König“ zeichnet ein Porträt der marokkanischen Gesellschaft in den 90er Jahren. Im Mittelpunkt steht die 16jährige Sarah, „die Französin“, die mit ihrer Mutter Monique in einem heruntergekommenen Haus lebt. Nur ein Zaun trennt sie von einem Elendsviertel, indem es den Menschen noch schlechter geht. Monique hatte Jahre zuvor mit ihrem damaligen Partner Didier Frankreich verlassen, um in Marokko eine Firma aufzubauen. Didier verließ sie jedoch mit all ihren Ersparnissen. Seitdem prostituiert sich Monique, um zu überleben. Sarah besucht ein französisches Gymnasium, wo keiner wissen darf, wie arm sie ist. Sarah trifft sich täglich mit einer Gruppe besser situierter Jugendlicher, bei denen sie ihre außergewöhnliche Schönheit einsetzt, um an Lebensmittel, Getränke, Taxifahrten und Geschenke zu kommen. Eines Tages trifft sie den jungen Driss, dessen Vater reicher als der König sein soll. Driss ist klein und hässlich, watschelt wie eine Ente und ist sehr schüchtern und schweigsam. Sarah beschließt, dass sie ihn heiraten will, um ihrem Elend zu entkommen und um nicht so zu enden wie ihre Mutter. Driss und Sarah verlieben sich in einander.
Der Roman beschreibt eine hierarchisch gegliederte, völlig undurchlässige Gesellschaft, in der nur das Geld zählt und zu Macht verhilft. Reiche verachten alle, die weniger haben, alle Armen sowieso. Ihr Personal wird ausgenutzt und schlecht bezahlt. Am schlechtesten geht es den Frauen. Sie werden als Schlampen beschimpft und auf offener Straße betatscht. Verprügelt werden bei unbotmäßigem Verhalten sogar die Ehefrauen der Reichen, die die unzähligen Seitensprünge ihrer Ehemänner dulden müssen. Gewalt gibt es überall, von Polizisten und religiösen Führern ausgeübt, und in den Foltergefängnissen möchte niemand landen.
Assors Roman ist harte Kost, aber sprachlich-stilistisch beeindruckend. Es spricht für die Autorin, dass sie nicht das übliche Klischee vom reichen Erben und vom armen Mädchen bedient, die sich verlieben und glücklich leben bis ans Ende ihrer Tage. Ich hätte dennoch gut auf den Hinweis im Klappentext verzichten können, dass es im Roman um den Aufstieg und Fall einer jungen Frau geht. Ein beachtliches Debüt.

Bewertung vom 02.02.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


sehr gut

Machtspiele
Im Mittelpunkt von Imogen Crimps Roman “Unser wirkliches Leben“ steht die 24jährige Anna. Sie lässt sich an einem renommierten Konservatorium in London zur Opernsängerin ausbilden. Anna stammt aus einfachen Verhältnissen, und ihre Eltern können sie nicht unterstützen. Trotz des Stipendiums reicht das Geld nicht, denn für jedes Vorsingen, sogar für Auftritte muss bezahlt werden. Sie tritt abends als Jazz-Sängerin in einer Hotelbar auf, in der ihre beste Freundin Laurie kellnert, mit der sie sich ein schäbiges Zimmer teilt. In der Bar lernt sie eines Abends den 14 Jahre älteren Max kennen, einen reichen Banker, der ein teures Loft bewohnt und ein Haus in Oxford besitzt. Sie lässt sich mit ihm ein, verliebt sich, aber es ist ein großes Ungleichgewicht in dieser Beziehung, nicht nur was Alter, Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse und Reichtum betrifft. Max gibt nichts von sich preis, scheint aber ihre Gedanken und Gefühle sehr genau zu kennen. Anna traut ihm immer weniger, auch in Bezug auf den Status seiner Ehe, die angeblich kurz vor der Scheidung steht. Anna lässt alles mit sich machen, fordert Max sogar dazu auf, ihr wehzutun. Diese masochistischen Szenen sind eher unerfreulich. Anna entwickelt Angstattacken und verliert ihre Stimme. Sie erkennt, dass sie Max liebt, er sie aber lediglich mag, sie hübsch und amüsant findet. Sie droht alles zu verlieren, was sie sich in dem harten Konkurrenzkampf mit den anderen Zöglingen des Konservatoriums aufgebaut hat.
In Crimps Roman passiert nicht viel. Annas schwerer Weg zusammen mit den von der Autorin kenntnisreich dargestellten Besonderheiten einer Ausbildung zur Opernsängerin nimmt breiten Raum ein. Weitere Themen sind die Macht des Patriarchats und emanzipatorische Bestrebungen einer Gruppe junger Frauen. Das ist nicht uninteressant, aber auch nicht sonderlich spannend. Wenn man sich für Musik interessiert, insbesondere für die großen Rollen in den Opern, ist der Roman dennoch zu empfehlen.

Bewertung vom 29.01.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


sehr gut

Wenn die Ordnung der alten Welt verschwindet
In Julia Schochs neuem Roman “Das Vorkommnis“ stellt eine Autorin in einer norddeutschen Stadt ihren neuen Roman vor. Im Anschluss an die Lesung teilt ihr eine Unbekannte beiläufig mit: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ (S. 7). Diese Information verändert das Leben der namenlosen Ich-Erzählerin für immer. Jahre später wird sie den Vorfall zwar für ein alltägliches Phänomen halten, aber dennoch feststellen: „Gleichzeitig spürte ich, dass das Ereignis durch mein Leben gefahren war wie eine Axt.“ (S. 167). Die Erzählerin beschäftigt sich von da an intensiv mit der Geschichte ihrer Familie, ihrer Kindheit, dem Verhältnis zur 6 Jahre älteren Schwester, zu den Eltern und mit dem Thema Erinnern und Vergessen, aber auch mit dem Leben in der DDR vor und nach der „Revolution“, dem Zusammenbruch 1989. Sie stellt alles in Frage, auch Ehe und Mutterschaft, vor allem immer wieder ihre spontane Reaktion auf die Unbekannte, der sie sofort um den Hals gefallen ist. Später fragt sie sich, ob sie Kontakt zu ihr hätte halten sollen, ob sie sie nach ihrem Leben hätte fragen müssen. Erst Jahre später trifft sie sie noch einmal. Die Halbschwester wird jedoch nie Teil ihrer Familie. Die Erzählerin zieht für eine Weile mit ihrer Mutter und den zwei kleinen Kindern in den Ort Bowling Green in Ohio. In dieser Zeit verändert sich auch ihre Beziehung zu ihrem Mann sehr stark. Sie misstraut ihm, rechnet in jedem Augenblick mit schmerzlichen Enthüllungen. Mit dem Credo „Alles ist möglich“ oder auch „Alles ist normal“ (S. 179-180) versucht sie, sich zu schützen.
„Das Vorkommnis“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie. Auf die Fortsetzung bin ich gespannt. Mir hat das Buch auch sprachlich-stilistisch sehr gut gefallen. Ich empfehle es allen, die nicht nur handlungsbetonte Romane lesen.

Bewertung vom 29.01.2022
Perfect Day
Hausmann, Romy

Perfect Day


gut

Auf der Suche nach der Wahrheit
Die 24jährige Ann Lesniak besucht im Jahr 2017 eines Abends ihren Vater, einen angesehenen Philosophen und Anthropologen, als er verhaftet und beschuldigt wird, der berüchtigte Schleifenmörder zu sein. Dieser hat in den letzten 14 Jahren in Berlin mindestens 10 Mädchen zwischen 6 und 10 Jahren entführt und ihnen die Pulsadern aufgeschnitten. Den Weg zu ihren Leichen markierte er stets mit roten Schleifen. Ann kann nicht glauben, dass ihr über alles geliebter Vater diese furchtbaren Verbrechen begangen hat. Schließlich hat er sie nach dem frühen Krebstod der Mutter liebevoll aufgezogen. Er war alles für sie und umgekehrt. Sie beginnt sofort auf eigene Faust zu ermitteln, um seine Unschuld zu beweisen, unterstützt von ihrer Freundin Eva und einem jungen Mann namens Jakob, der ihr Vertrauen gewinnt. Dann verschwindet in Süddeutschland ein weiteres Kind, und für Ann werden die Ermittlungen dort immer gefährlicher.
Ich fand den Roman sofort interessant und sehr spannend, weil es mehrere Erzählperspektiven und Zeitebenen gibt. Da lesen wir Gedanken von Ann als Kind, die sie tagebuchartig notiert hat, außerdem Abschnitte von einem unbekannten „Wir“, anscheinend mit Täterwissen, und dann Interviews eines Unbekannten mit dem Täter aus dem Jahr 2021. Viele falsche Fährten machen es nahezu unmöglich, die Lösung zu erraten. Dennoch fand ich den Thriller in der zweiten Hälfte weniger spannend, vor allem weniger glaubwürdig. Manches wirkt zum Ende hin zu konstruiert. Romy Hausmann ist dennoch eine Autorin, die ich im Auge behalten werde. Vor allem werde ich sicherlich noch ihren Debütroman “Liebes Kind“ lesen.

Bewertung vom 29.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


sehr gut

Das war´s
Leo Gazzarra zieht als junger Mann von Mailand nach Rom. An Rom reizt ihn vor allem die Nähe zum Meer, das er über alles liebt. Freunde leihen ihm ihre Wohnung und verkaufen ihm für wenig Geld ihren alten Alfa Romeo. Er nimmt einen anspruchslosen Job beim Corriere dello Sport an, wo er lediglich die Texte anderer transkribiert. Er könnte sich vorstellen, Bücher zu schreiben oder Filme zu drehen, was aber nicht bedeutet, dass er irgendwelche Pläne macht, die er auch umsetzt. Er taucht schnell in das Nachtleben der Stadt ein, findet Freunde, lernt Frauen kennen und wird innerhalb kurzer Zeit zum Alkoholiker. Bei einer privaten Party lernt er die wunderschöne Arianna kennen und verliebt sich in sie. Es entwickelt sich ein merkwürdiges Spiel im Wechsel von Anziehung und Abstoßung. Wenn er ihr sagt, dass er sie liebt, beteuert sie, ihn nicht zu lieben. Geht sie einen Schritt auf ihn zu, weist er sie ab. Dennoch ist er sicher, dass sie die Frau seines Lebens ist. Am Ende steht die seltsame Erkenntnis: “Ich wusste, (…) dass sie nur zu mir gehören konnte, wenn sie einem anderen gehörte.“ (S. 199).
Calligarichs als Kultroman bezeichnetes Buch aus dem Jahr 1973 erzählt die traurige Geschichte eines Scheiterns. Nach zwei Jahren in Rom bleibt nur die Resignation: " Das war´s." (S. 204). Positiv bleibt die Beschreibung von Rom mit all seiner Schönheit im Wechsel der Jahreszeiten, bei unterschiedlichem Licht und mit all seinen Farben im Gedächtnis. Der Roman ist handlungsarm, lebt von seinen Stimmungen, was mich nicht gestört hat. Störend fand ich eher die Qualität der deutschen Übersetzung mit ihren Kreationen wie „handabschneidender Wind“, „regenleichte Küsse“, „traumtriefend“, „erdbebend“ usw. sowie die gefühlt 50malige Wiederholung der Formulierung „die Segel setzen“, wenn jemand aufbricht.
Ich habe “Der letzte Sommer…“ gern gelesen, auch wenn es für mich nicht unbedingt ein Meisterwerk war.

Bewertung vom 21.01.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


sehr gut

Unzuverlässige Erinnerung
Der gebürtige Iraker Said Al-Wahid hat vor vielen Jahren den Irak verlassen und in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat mit ihr einen kleinen Sohn. Said will gerade von einer Podiumsdiskussion in Mainz nach Berlin zurückkehren, als er durch einen Anruf seines Bruders Hakim erfährt, dass seine Mutter im Sterben liegt. Sofort organisiert er seine Reise nach Bagdad, weil er sie noch einmal sehen will. Während er auf Zug- und Flugverbindungen wartet, erinnert er sich an die Etappen seiner Flucht aus dem Irak: nach Jordanien, durch Ägypten nach Libyen und schließlich München und Berlin. Er erinnert sich an die schier unüberwindlichen bürokratischen Hürden und die Götter in den deutschen Dienststellen, die über sein weiteres Schicksal entschieden. Über einen langen Zeitraum drohte ihm ein „grenzüberschreitender Fußtritt eines Polizisten“ (S. 9). Said erinnert sich auch an sein Leben im Irak, seine Kindheit und die Mitglieder seiner Familie, die ums Leben kamen. Er wollte seine Geschichte schon längst aufschreiben, hat aber inzwischen festgestellt, dass es große Erinnerungslücken gibt, die er mit erfundenen Geschichten füllen muss und er kann oft nicht sagen, welche Erinnerungen wahr sind und welche nicht. Immer wieder erlebt er peinliche Momente, wenn Freunde und Bekannte die Vergangenheit beschwören mit der Frage „Weißt du noch…?“ Er will nicht zugeben, dass er an einer schwerwiegenden Gedächtnisstörung leidet.
Khiders neuer Roman berührt ebenso wie die mir bekannten Vorgänger „Der falsche Inder“ und „Die Orangen des Präsidenten“. Im neuen Buch kann der Leser sich in die Situation von Flüchtlingen versetzen, die, kaum dass sie Folter und Tod entronnen sind, jahrelang deutscher Behördenwillkür ausgesetzt sind. Ein schmales, aber eindrucksvolles Bändchen.

Bewertung vom 20.01.2022
Was damals geschah
Jewell, Lisa

Was damals geschah


gut

Dysfunktionale Familien
Henry Lamb lebt mit seiner 12 Jahre jüngeren, sehr schönen Frau Martina in einem großen Haus in Chelsea. Sein Vater Henry hatte es gekauft, nachdem er seinen schwerreichen Vater Harry beerbt hatte. Die Lambs haben zwei Kinder, Henry und Lucy. Irgendwann wird das Geld jedoch so knapp, dass Henry nicht einmal mehr eine teure Privatschule besuchen kann. Eines Tages nehmen die Eltern die junge Birdy auf, später David Thomsen mit seiner Frau Stella und den Kindern Phin und Clemency. Es sollte zunächst vorübergehend sein, dann blieben sie auf Dauer, und das Leben aller Beteiligten veränderte sich grundlegend. Der dominante, charismatische David entwickelt sich zu einer Art Sektenführer. Er bringt alle Wertgegenstände an sich, um sie angeblich für wohltätige Zwecke zu spenden, sperrt die Kinder ein und zwingt alle, schwarze Kutten zu tragen und ihm ihre Schuhe auszuhändigen. Die Kinder erleben jahrelang Mangelernährung, Missbrauch und Misshandlungen. Alle haben Angst vor dem cholerischen, gewaltbereiten Mann und ordnen sich ihm unter. Martina Lamb verfällt ihm und denkt gar nicht daran, ihren kranken Mann und die Kinder zu schützen. Irgendwann kommt es zur Katastrophe. Die Polizei findet in der Küche die Leichen des Ehepaars Lamb und eines Unbekannten mit den Initialen D.T. sowie ein wenige Monate altes Baby, das zur Adoption freigegeben wird. Die vier Teenager sind spurlos verschwunden.
Erzählt wird die Geschichte aus drei unterschiedlichen Perspektiven: der des Sohnes Henry, der Tochter Lucy und von Libby Jones, dem adoptierten Baby, das in der Erzählgegenwart gerade 25 geworden ist. Libby erfährt durch einen Brief des Treuhänders, dass sie das Haus in Chelsea erbt, weil mögliche Berechtigte keinen Anspruch erhoben haben und hat damit erstmals die Chance zu erfahren, wer sie wirklich ist. Sie erforscht zusammen mit dem Journalisten Miller Roe, was damals geschehen ist.
Die ständig wechselnde Erzählperspektive macht es dem Leser schwer genauso wie die zwei Zeitebenen und die Personenvielfalt, wobei einige Personen auch noch mehrere Namen haben. Die Geschichte ist spannend mit zahlreichen unerwarteten Handlungsumschwüngen, aber leider etwas unübersichtlich. Auch die Charakterisierung der Figuren überzeugt mich nicht. Das Buch hat mich ein wenig enttäuscht.